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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Und wissen Sie Näheres über jene Verlobungsgeschichte?“

„Nein,“ sagte der Professor, indem er einen Blick auf seine Uhr warf und sich erhob. Während er sich von unserer Wirthin verabschiedete, prüfte ich verstohlen sein Gesicht. Es war nicht mehr so tief blaß, wie vor einem Augenblick, und das dunkelblaue Auge blickte mit der klaren Ruhe, die dem ganzen Antlitz solch edlen Ausdruck gab; die Lippen aber preßten sich leise zusammen, sobald sie schwiegen.

Und ich las von diesem stummen Munde die stumme Geschichte einer nicht überwundenen Vergangenheit. Doch hatte offenbar nur ich allein diesen Eindruck empfangen, denn als Wernick gegangen war, fuhr Holm fort, mich nach Allem auszufragen, was ich von Fräulein Rostau gesehen oder gehört, ohne nur mit dem leisesten Ton den Zusammenhang mit seinem Freunde zu berühren.



Acht Tage meines Badelebens waren bereits in heiterster Weise verstrichen. Sogar das winzige Stübchen, in welchem ich Abends mein Haupt zur Ruhe niederlegte, war mir lieb geworden, denn es mündete auf einen großen Balcon, von dem aus das Meer zu schauen war. Wie herzerfrischend war es, alltäglich durch den Sonnenstrahl geweckt zu werden, der sich zwischen den dunklen Gardinen hin auf das Kissen stahl, noch halb im Traum das leise Rauschen der See zu hören, und dann Herz und Auge in der glorreichen Schönheit des Morgens zu baden! Der tiefen Stille erster Frühe folgte bald reges Leben. Zuerst die noch halb verschlafenen Kellner, um diese Zeit weniger erhaben blickend als gewöhnlich, während sie Ordnung auf Tischen, Bänken und Wegen schafften. Dann tauchten zwischen den Bäumen einzelne Gäste des Curhauses aus, ihr Badebündel unter dem Arme der See zuwandernd oder sehnsuchtsvoll nach Kaffee rufend. Die Tische der Veranda füllten sich nach und nach. Oben auf luftigem Balcon tranken einsame Damen vor der Glasthür ihrer Kabine den von der flinken Bertha credenzten Mocca und stellten stillschweigende Beobachtungen an, die später gelegentlich laut wurden. Gegen neun Uhr erschienen die Externen. Vermummte Gestalten wanderten dem Hause für warme Bäder zu. Besuche aus der Nord-, Süd- und Seestraße fanden sich ein, um zu plaudern, den Musiksaal für ein paar Stunden zu benutzen oder gemeinsam eine Lectüre zu naschen. Wer klug war, wählte hierzu die frühen Stunden; sonst gesellte sich den Klängen Beethoven’scher Sonaten oder den idealen Gestalten des modernen Dichters eine allzu lebhafte Begleitung. Punkt elf Uhr fand sich unter den Fenstern des Musikzimmers ein Plauder-Collegium zusammen, unter dessen kräftigen Organen und homerischem Gelächter jeder fremde Ton begraben wurde, wie ein Veilchen, über das ein Katarakt stürzt.

Es fehlte nicht an belebenden Elementen aller Art; Städter und Gutsbesitzer, Officiere, Gelehrte und Rentner hatten sich in bunter Anzahl eingefunden. An jungen Mädchen war kein Mangel; einzelne schöne Frauen entzückten das Auge. Nur die jüngere Herrenwelt war spärlich vertreten, wenn nicht zuweilen Concert oder Ball die jeunesse dorée Danzigs hinüberlockte. Die Bewohner des Curhauses fanden sich an der Tafel zusammen; die der Privathäuser und Villas wählten gern den Curgarten zum Rendezvous. Dort wurde ich während der ersten Tage meiner Anwesenheit durch Holm, der wöchentlich ein paar Mal nach Zoppot kam, mit der Mattern’schen Familie bekannt gemacht. Obgleich der Graf ein interessanter Mann und seine weit jüngere Frau eine hübsche Erscheinung war, richtete sich, so oft wir zusammen waren, meine Aufmerksamkeit im Stillen einzig auf die Pflegetochter des Hauses. Thea’s Schönheit hatte, seit ich ihr zuerst begegnet, noch gewonnen. Nie wieder traf ich bei dunkelm Haar solche durchsichtige Frische und Zartheit des Teints.

So sehr mich das reizende Mädchen anzog, so wenig gelang es mir, ihr auch nur das leiseste Zeichen von persönlichem Antheil abzugewinnen, obgleich wir manche Stunde im anregendsten Gespräch zubrachten und ich Alles einsetzte, was mir je ein Menschenherz gewonnen. Thea war nicht lebhaft, aber sie konnte es werden, in hohem Grade sogar, sobald irgend ein geistiges oder künstlerisches Gebiet durchschweift wurde. Bei jedem Hinlenken auf Persönliches, bei jeder noch so leisen Berührung der Regionen, die unseren innersten Menschen ausmachen, fiel es über sie hin, wie ein kalter Schleier. Sie war dann ganz und gar das Bild ohne Gnade.

Ein großes Zauberfest sollte im Curhause stattfinden, Doppelconcert, bengalische Beleuchtung und Tanz im großen Saale. Ich hatte beschlossen, mir all die Herrlichkeit aus der Vogelperspective meines Balcons anzuschauen; das unverhoffte Eintreffen des Holm’schen Ehepaares lockte mich aber doch in den fahnengeschmückten Garten hinunter. Ich lebte das ganze Programm mit durch. Ich frug nach Wernick, der mir in Zoppot noch nicht zu Gesicht gekommen war, und erfuhr, daß er des verzögerten Eintreffens seines Kollegen halber noch in Danzig verweilte. Er war im Holm’schen Hause ein täglicher und gern gesehener Gast; der Künstler rühmte mit Enthusiasmus sein harmonisches Wesen, die bedeutende geistige Reife, welche er erreicht, und weckte in mir den Wunsch von Neuem, diesen hochstehenden Charakter selbst näher prüfen zu dürfen.

Concert und Raketen hatten sich ausgetönt; schon klangen aus dem Tanzsaale die Weisen moderner Walzer herüber. Die Nacht war köstlich warm, und ich hatte wenig Lust, Holm in den Saal zu folgen, wozu er seine Frau und mich lebhaft beredete. Daß ihn selbst nichts dahin zog als das Verlangen, Thea zu beobachten, die er den ganzen Nachmittag nicht aus den Augen gelassen, räumte er gern ein. Trotz seiner Offenheit schien es mir fast, als unterläge seine Frau einem momentanen Gefühle leiser Eifersucht, denn ich sah über das liebe Gesicht etwas wie einen Schatten gehen, als ich den Freund drängte, doch nur seinem Modelle zu folgen und uns die weiche Sommernacht zu gönnen. Dies bestimmte mich zur Aenderung der eben geäußerten Ansicht; ich erklärte mich scherzend bereit, mit unserm Künstler nach einem Gnadenschimmer zu spähen, und so schoben wir uns denn alle Drei in den menschengefüllten, trotz der geöffneten Fenster dumpfen Saal. Von einem Sitzplätzchen keine Rede; wir drückten uns in einen Winkel, dem Eingange gegenüber, und schauten dem Wirbel zu.

Thea war wunderschön; sie trug Weiß wie gewöhnlich, nichts im Haare, nur eine dunkelrothe Rose mit einigen Knospen an der Brust. Dieser eine feurig glühende Punkt an der ganzen wie in eine Duftwolle gehüllten schneeweißen, schneekühlen Gestalt erschien mir, während sie so dahintanzte, wie jener magische Karfunkel, von dem ein altes Märchen erzählt, daß er dem Besitzer Macht über alle Geister verleiht.

Eben war eine Pause. Ich blickte gleichgültig in das Gewühl, als ich zu meiner Ueberraschung Wernick eintreten und neben der Thür stehen bleiben sah. In demselben Moment preßte sich Holm’s Hand auf meinen Arm; mit leisem Tone rief er frohlockend: „Gefunden!“

Ich folgte der Richtung seines Blicks, der fest auf Thea geheftet war. Sie stand etwas isolirt; ihre herrliche Gestalt war von unserm Standpunkte aus voll zu überschauen. Etwas vorwärts geneigt, in der Haltung einer schreitenden Statue, war sie auch statuengleich unbeweglich. Zu ihrem der Thür zugewendeten Auge leuchtete eine Flamme, die unwiderstehlich siegend hervorbrach; über dem ganzen Antlitze lag Rosenschimmer, der es verklärte, wie der Abendschein den Schneegipfel der Alpen verklärt. Aber auch wie der rosige Hauch von der Alpe plötzlich entweicht, so wich in Thea’s Gesicht im nächsten Moment die verklärende Gluth tiefster Blässe.

Unwillkürlich flog mein Auge auf Wernick zurück. Er stand noch an der vorigen Stelle, den Blick fest auf das schöne Gesicht gerichtet, das sich unter diesem Blicke wie in Stein verwandelte. Holm’s Wort fiel mir auf's Herz: „Ich will keine Medusa malen –“, doch blieb mir keine Zeit, Betrachtungen nachzuhängen. Wernick wandte sich in der nächsten Secunde ab, ließ sein Auge durch den Saal schweifen und war bald an unserer Seite, um sich mir als Haus- und Tischgenosse für die nächsten Wochen vorzustellen. Er erwartete seinen Kollegen am folgenden Tage, war seines Quartieres wegen vorausgegangen und gab sich während der nächsten Stunden so unbefangen, daß ich beinahe irre an meinen Voraussetzungen geworden wäre. Denn selbst die Probe einer Begegnung der beiden Menschen, die mich mit einem fast leidenschaftlichen Interesse erfüllten, trat noch heute als Zeuge gegen die ergriffene Auffassung heran. Graf Mattern begrüßte uns, Thea am Arme, als Holms eben im Begriffe waren, sich für den letzten Zug nach dem Bahnhofe zu begeben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 741. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_741.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)