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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

„Wir trafen uns wiederholt. Am Rhein, in Paris und Italien. Jetzt hat er seit einem Jahre etwa sein Zelt in Danzig aufgeschlagen, und ich freue mich darauf, ihn und seine liebenswürdige Frau wiederzusehen.“ –

Ich lächelte still vor mich hin. Ja, diese Begegnung war mir vom Geschick ganz entschieden zugedacht. Der Fäden, welche an die bis jetzt noch stumme Bekanntschaft knüpften, wurden immer mehr. Nun liefen sie schon am gleichen Ziele zusammen und verhießen, bald einen leichten Knoten zu schürzen. Um Holms zu sehen, war auch ich an Zoppot vorübergefahren; diese liebenswürdigen Menschen lockten mich vornehmlich nach Ostpreußen. Wir hatten uns ein paar Jahre vorher am Bodensee kennen gelernt, wochenlang die gleiche Pension bewohnt und seitdem eine rege Correspondenz unterhalten. Jene stille Heiterkeit ergriff mich, welche ein freundlicher Zufall immer, besonders aber auf der Reise, weckt, wo der Sinn für jede Gabe erschlossen ist. Als der Kreisrichter ausstieg, nickte ich ihm schon im Geiste zu, als gehörte er zu mir, gab der leisen Versuchung, mit meinem interessanten Studienkopfe ein Gespräch anzuknüpfen, nicht einmal nach, als er selbst dazu Gelegenheit bot, und harrte still vergnügt den kommenden Dingen entgegen.

Holms warteten am Bahnhofe und nahmen mich in Empfang, als käme ihnen das große Loos in’s Haus. Das liebe Gesicht der jungen Frau leuchtete von Innigkeit; des Freundes warmer Händedruck sprach Willkommen. Willkommen sein: welche Erquickung gießt das aus, wenn es wie ein Strom aus lieben Augen bricht! Ich vergaß in diesem Momente ganz und gar, daß außer meinen Freunden noch Andere auf der Welt waren, und erst ein überraschter Ausruf Holm’s erinnerte mich wieder an meinen Reisegefährten, der ein paar Schritte zurückstand, uns beobachtete und, nun er seinen Namen rufen hörte, näher trat, um seinerseits freudigste Begrüßung in Empfang zu nehmen. Rasche Worte wurden getauscht, Abrede auf den nächsten Abend getroffen; dann galt es, für das Gepäck zu sorgen. Nach wenigen Minuten fand ich mich in eine Droschke gepackt und fuhr mit Holms ihrem gastlichen Hause entgegen.

Es lebte sich gut im Künstlerdaheim. Wie der Flaum auf einer Frucht lag ein leiser Hauch von Schönheit über Allem, was uns umgab. War es nun eigener Kunstsinn, oder hatte Liebe sie belehrt – Frida Holm verstand sich darauf, dem feinen Auge ihres Gatten nur Anmuthiges zu bieten, wohin er es auch in seiner Häuslichkeit richten mochte. Sie selbst eine jener Erscheinungen, die durch siegende Anmuth jede Stelle, die sie einnehmen, gleichsam erhellen, und durch den heimlichen Cultus, welchen sie unablässig dem Manne ihrer Liebe widmete, über allem Irdischen schwebend, während doch die leichte Hand recht wohl verstand, ihren weiblich schaffenden Aufgaben gerecht zu werden. Freilich konnte es nicht schwer fallen, diesen Mann als Idol zu hegen. Hier war nichts von jenen Grillen und Launen, die so oft die Kehrseite bedeutender Gaben bilden; eine reiche, schöpferische Heiterkeit belebte den Künstler wie den Menschen, und derselbe Sonnenstrahl, der jedes seiner Werke zu einer Wonne für das Auge machte, verklärte auch das Zusammenleben mit ihm selbst.

Schon begannen die Abende sich zu kürzen. Auf die heiße Sonnengluth, die mich hierher geleitet, folgte eine Gewitternacht und ein rauher, stürmischer Tag. Der Regen schlug gegen die Scheiben. Die Lampe war früh entzündet worden, und wir Viere saßen in lebhaftem Gespräch um den kleinen runden Tisch, der zwischen einem epheubezogenen Fenster und der tiefen Zimmerecke den behaglichsten Platz füllte. Professor Wernick hatte sich zeitig eingefunden, und die Stunden flogen im Austausch vielfältiger Erlebnisse dahin. Es war schon spät, als ein Rückblick auf gemeinschaftliche Reisezeit Holm veranlaßte, ein paar Skizzenbücher herbeizuholen und zwischen den Blättern eines hervorzusuchen, worüber er eben mit dem Professor gesprochen. Ich durchblätterte inzwischen die Hefte, als ein flüchtig skizzirter Kopf mich plötzlich durch seine frappante Aehnlichkeit zu dem Ausrufe hinriß: „Das Bild ohne Gnaden!“

Beide Männer blickten mir gleichzeitig über die Schultern. Holm legte seine Hand auf das Blatt und sagte lebhaft: „Sie kennen das Original?“

„Ja. Das heißt, eigentlich nur durch Ruf und von Ansehen,“ erwiderte ich, etwas erstaunt über den dringenden Ton der Frage.

„Sie haben es eben seltsam bezeichnet,“ fuhr Holm mit demselben gespannten Blick fort, „ein Bild ohne Gnade? Was heißt das? Warum nennen Sie das schöne Mädchen so?“

„Nicht meine Erfindung! Es war der Name, der Fräulein Rostau von der jungen Herrenwelt in Wien gegeben wurde, wo ich sie im vorigen Winter öfters in Gesellschaft traf, und welcher, der Originalität wegen, zum geflügelten Worte ward, das schließlich Jeder adoptirte. Sie kennen wohl kaum den Ursprung dieser in Süddeutschland landläufigen Bezeichnung? Er führt auf die Marienbilder zurück, die an Wallfahrtsorten dem Betenden zulächeln, wenn ihnen Erhörung beschieden ist, im entgegengesetzten Falle aber ein stummes ‚Bild ohne Gnade‘ bleiben.“

„Und das war hier charakteristisch?“

„Fräulein Rostau galt als unnahbar. Zum Ersatz erzählte man sich von ihr allerlei Romantisches.“

„Nun?“

„Was ich berichten kann, ist nur wenig, und für dieses Wenige übernehme ich keine Verantwortung. Das junge Mädchen nahm eine eigenthümliche Stellung ein; dies ruft stets vage Gerüchte in’s Leben. Sie trat in Wien als vollberechtigtes Mitglied der Familie des Grafen Mattern auf, während man erfuhr, daß sie derselben keineswegs verwandt sei. Es hieß, sie sei ein Findelkind. Genaueres wußte Niemand. Vor einigen Jahren soll sie mit einem Verwandten des Hauses verlobt gewesen, das Bündnis aber durch den Tod des Bräutigams gelöst worden sein. Einzelne, die ihr früher begegnet, datiren die starre Kälte, welche sie zeigt, und die an einem so jungen, schönen Geschöpf geradezu unnatürlich erscheint, von diesem Verluste her.“

„Dies interessirt mich sehr,“ sagte Holm lebhaft. „Seit langer Zeit hat mir Nichts so viel zu schaffen gemacht, wie dieses Mädchen. Graf Mattern ist seit ein paar Monaten mit seiner Familie in Zoppot. Wir treffen uns öfters; er besucht mich zuweilen und wünschte seine Kinder und Thea Rostau von mir gemalt. Die beiden Kleinen gaben ein hübsches Bild; dem Mädchen aber gehe ich nun schon wochenlang nach, kann nicht anfangen sie zu malen, und kann auch nichts Anderes thun – so sehr verfolgt mich das Gesicht.“

„Und weshalb beginnen Sie nicht?“

„Weil ich sie erst gesehen haben muß. Weil mich erst einmal aus diesen Augen der Blitz anleuchten muß, der darin jetzt wie festgefroren ist. Diese Statue mag ich nicht malen, und beseelt sie sich nicht vor mir, sei es auch nur für einen Moment, dann rühre ich nicht daran. Eine Medusa geben, wo ich gewiß weiß, ein in aller Schönheit des Weibes glühendes Wesen vor mir zu haben – nein! Ich schleiche ihr nach, als hätte ich mein Herz an sie verloren, und warte. Was Sie mir eben erzählt, ist Etwas – solche Vergangenheit! Ein Findling aber ist sie nicht, sondern ein Danziger Kind aus gutem Hause, so viel ich gehört. Das müßten Sie ja wissen, Wernick. Sie sind ja auch hier daheim!“

Ich wandte den Kopf und sah mit Holm zugleich fragend nach dem Professor hin. Er schwieg einen Moment. Die tiefe Blässe, welche sein Gesicht bedeckte, fiel mir auf. Doch hob er sogleich das Auge von dem Bilde empor, auf dem es geruht, und sagte, indem er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, im gelassensten Ton:

„Allerdings kann ich Ihnen über Fräulein Rostan’s Familie Auskunft geben. Ihr Vater war Regierungsrath in Danzig, lebt aber nicht mehr. Eine kinderreiche Familie. Dora, für die Sie sich interessiren, das älteste Kind –“

„Das trifft nicht zu,“ warf Holm ein. Mein Original heißt Thea, und ich hatte von vornherein meine Freude an dem Namen, denn einer Theerose gleicht dieses Gesicht mit der durchsichtig klaren, kaum angehauchten Färbung, rein und kühl, vornehm vor Allem und von so leisem Duft, daß man jedenfalls sehr nahe stehen muß, um ihn zu gewinnen.“

„Ihr Name ist Theodora,“ sagte Wernick ruhig; „daraus ist wohl jetzt Thea geworden; als Kind wurde sie Dora gerufen. Eine Jugendfreundin ihrer Mutter faßte bei Anlaß ihrer Durchreise den Gedanken, das kleine Mädchen zu adoptiren, und die Eltern willigten ein. So kam sie in das gräfliche Haus, dem sie noch angehört.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 740. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_740.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)