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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

No. 46.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Das Bild ohne Gnade.

Erzählung von A. Godin.


1. In Zoppot.

Mein Arzt hatte gesprochen: „Müßiggang und ein mildes Ostseebad!“ Der Rath klang nicht unwillkommen, denn er kam, abgesehen vom Revolutionszustand der Nerven, um jene Zeit der Sommerhöhe, wo ungestillte Reiselust in allen Adern prickelt, und Staub und Schornsteinrauch der Städte den Drang, frischeren Athem zu schöpfen, bis zur fixen Idee steigern. Mancher durch früheren Besuch liebvertraute Badeort der pommerschen Küste winkte und grüßte, aber der Tropfen Zigeunerblut, der unserer ganzen Sippe eigen, forderte Neues. In meinem Gedächtniß stieg ein Name auf, den mir ein Freund genannt: Zoppot! und ich schlug in meinem Bädeker nach. Der treue Reisemarschall, welcher auf jede Frage eine Antwort hat, gab ein verführerisches Programm: Curhaus dicht am Meeresstrande, Aussichtspunkte in der Nähe, die sich ähnlich weder an Nord- noch Ostsee wiederfinden, schließlich das interessante Danzig vor der Thür. Dies gab den Ausschlag; ich hatte nicht allein längst gewünscht, die malerische alte Hansestadt kennen zu lernen, mir lebten dort auch Freunde, deren Nähe dem zweifelhaften Badeleben Reiz zu geben versprach. So wurden denn die Koffer gepackt, Wohnung im Curhause bestellt und die Fahrt nach der Ostsee frischen Muthes unternommen.

Ein heißer Augusttag führte mich dem letzten Ziele entgegen. Schon seit einer Woche herrschte versengende Hitze und hatte sich in den Waggons gleichsam zu einer compacten Masse zusammengeballt. Hügelige Getreidefluren, einförmige Waldstrecken, welche der Zug durchschnitt, boten wenig landschaftlichen Reiz. Ich gab darum leisem Kopfschmerz nach, hielt die Augen geschlossen und warf nur zuweilen aus meiner Ecke einen flüchtigen Blick auf mein Gegenüber, dem, nach häufigem Personenwechsel, zuletzt übrig gebliebenen Reisegefährten. Ein interessanter Kopf. Feine, durchgeistigte Züge, von blauen Augen befeuchtet, deren Blick selbst in der gleichgültigen Ruhe, womit sie über die Landschaft schweiften, tiefgründig blieb. So oft diese Augen mich streiften, sah ich unwillkürlich auf, doch verharrten wir Beide in Schweigen.

Als der Zug in Neustadt anhielt, eilte ein stattlicher Mann, die Reisetasche in der Hand, auf den Perron, blickte nach einem Platze suchend in die meist stark gefüllten Waggons, und stieg, nachdem schon zum dritten Male geläutet worden, eiligst in den unsrigen, wo er sich kaum zurecht gesetzt, als er mein Gegenüber mit lebhafter Ueberraschung begrüßte. „Tausend noch einmal, Wernick! Brav, daß Sie sich wieder einmal im Lande blicken lassen! Wohl nach Danzig unterwegs, wie?“

Der Angeredete nickte, indem er die dargereichte Hand schüttelte. „Nach langen Jahren!“ sagte er heiter. „Moritz Berg hat mich beredet, die Ferien mit ihm am Ostseestrande zu verleben. Wir treffen uns in Zoppot, und wollen es einmal mit dem dolce far niente versuchen. Wie wär’s, wenn Sie sich entschlössen, im Bunde der Dritte zu sein?“

„Schweigen Sie, Versucher! Ja, athmete ich, wie ihr glücklichen Beiden, Jahr aus, Jahr ein die belebende Luft der alma mater und dürfte mich dann monatelang in goldener Freiheit sonnen! Aber einem Kreisrichter im Kassubenlande wird es nicht so gut, um so weniger, wenn er zugleich ehrbarer Familienvater ist. Meine Ferien sind bereits eingeheimst; Frau und Kind sitzen noch beim Onkel in Langsuhr, wo ich jetzt einsprechen will, um mit nächstem Morgengrauen nach Elbing weiter zu fahren, wohin Frau Justitia mich ruft.“

So wenig das meist Persönliches berührende Gespräch der Freunde mich an sich berühren konnte, folgte ich demselben doch mit stillem Antheil, während ich discret die Augen geschlossen hielt. Es machte mir Freude zu erfahren, daß die Erscheinung, welche mich vom ersten Moment an sympathisch berührt, mir öfter begegnen sollte. Kaum jemals hatte mich ein Unbekannter so sehr angezogen. Sein angenehmes Organ, die freie Haltung, eine Beherrschung der Ausdrucksweise, die selbst unbedeutenden Aeußerungen Reiz verlieh, vereinten sich dem harmonischen Eindruck, welchen Gestalt und Züge hervorgerufen.

„Thalatta – – das wogende Meer!“

Das Wort ließ mich plötzlich die Augen öffnen. Zur Linken schimmerte die Ostsee; ihr Blau ging in das des verdämmernden Himmels über. Mein Herz begann rascher zu schlagen. Erinnerungen stiegen auf.

Der Zug hielt an, und der Conducteur rief in die Waggons:

„Zoppot!“

„Auf Wiedersehen also! ich rechne auf Ihre Zusage für den Rückweg,“ sagte der Kreisrichter, indem er Wernick die Hand bot. Dieser schüttelte lächelnd den Kopf: „Wir bleiben noch beisammen. Ich fahre vorerst nach Danzig, meinen Bruder zu besuchen und Holm zu sehen.“

„Welchen Holm?“

„Und das fragen Sie? Wer von uns könnte der Berliner Zeiten denken und unseres Künstlers vergessen!“

„Oho! Richard Holm! natürlich. – Der also lebt jetzt in Danzig? Von ihm gehört habe ich öfters, wer kann aber wissen, wo solcher Zugvogel nistet! Seine Bilder sind mir begegnet, er selbst nicht mehr.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 739. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_739.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)