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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


umwandelte; der Regen fiel jetzt in Strömen; die Wellen gingen hoch auf der Müggel und trieben sich gegenseitig in toller Jagd dem sandigen Ufer zu. Es war ein vollständiges Unwetter geworden, und wir waren Alle in das Haus des Fährmanns eingekehrt, wo Robert Fürst und ich ein Unterkommen für die Nacht suchten und fanden. –

Der andere Morgen sah uns nicht so früh auf den Beinen, als wir verabredet hatten. Der Schlaf mußte spät, aber um so fester zu uns gekommen sein, denn als ich beinahe zugleich mit Robert Fürst erwachte, schien die Morgensonne goldig in’s Zimmer und hatte schon Zeit gehabt, die kleinen trüben Fensterscheiben zu trocknen, an die ich im Halbschlafe den Regen unaufhörlich hatte schlagen hören. Wie Alles glänzte und leuchtete, als wir bald darauf hinaustraten in’s Freie. Wie jedes Grashälmchen mit Silber eingefaßt zu sein schien und in seiner schmalen Höhlung einen funkelnden Diamanten barg und ihn hin- und herwiegte, bis er bei dem fröhlichen Spiel noch einmal aufleuchtend hinunterglitt und erlosch! Welche Ruhe, welcher Frieden nun in der ganzen Natur! Die große unendliche Wasserfläche nicht spiegelglatt zwar, aber sich leise melodisch wiegend und zauberhaft erglänzend in Millionen hüpfender und glitzernder Spitzchen. Die Wellen langsam und etwas träge hinaufgleitend auf den Sand, ihn dunkler färbend und mit einem gelblich weißen Saume einfassend, aus welchem breitschaftiges Schilf und die großen runden Blätter der Mummeln smaragdgrün hervorleuchten. Die alten Kiefern, die den sandigen Abhang rechts krönen, in süßer Ruhe nach so vieler Mühe; kein Laut, kein Mißklang in dem harmonischen Bilde; Ruhe überall, Ruhe – nach dem Sturme.

Schweigend und in tiefes Sinnen versunken folgten wir dem schmalen Uferpfade. Da, plötzlich, bei einer Wendung, die er machte, erhob sich von einem alten morschen Weidenstamme die wartende unheimliche Schaar und rauschte schwarz empor in die noch leuchtender erscheinende Luft. Schreiend und durcheinanderschießend schwebten sie einen Augenblick über dem Ufer, als wollten sie sich niederlassen; dann stiegen sie mißtrauisch und sich dichter sammelnd wieder empor und zogen, fliehend vor unserem Schritte, dem Saume des Waldes zu. Unwillkürlich waren wir näher aneinander getreten und hatten gegenseitig des Anderen Hand erfaßt. Einen Augenblick noch folgten wir dem schmalen Pfade; dann waren wir da, und auch da – auch da war Ruhe nach dem Sturme.


Als die Trauerbotschaft zu der jungen Wittwe Eduard’s kam, soll sie aus einer Ohnmacht in die andere gefallen sein und bei ihrem jedesmaligen Erwachen irre Worte gestammelt haben, von ihren Trauerkleidern, wie sie wohl getragen würden jetzt, und ob die Schneiderin auch noch damit fertig werden würde. Sie soll sogar in einem heftigen Anfalle von Verzweiflung etwas von ihrem schönen aschblonden Haar geopfert haben und zwar in dem Augenblicke, als sie erfuhr, daß die tiefgebeugte Mutter sich plötzlich emporgerafft hatte aus ihrem schmerzlich dumpfen Sinnen, um zu verhindern, daß die leblose Hülle ihres todten Lieblings die Schwelle des Hauses überschritte, das er mit dem unabweisbaren Gedanken verlassen hatte, es nicht wieder zu betreten. Sie hatten ihn in das Vaterhaus getragen, und dieser Umstand, verbunden mit dem gar nicht zweideutigen Betragen der Verwandten ihres Mannes, mag Marie Sandow den glücklichen Gedanken eingegeben haben, in irgend eine heftige Krankheit zu verfallen, deren Verlauf ihr das ärztliche Verbot jeder Aufregung als willkommenen Rettungsanker zuwarf. Sie löste dadurch einen bangen Zweifel, der uns Alle beherrscht hatte – wie sie sich wohl in der letzten Stunde benehmen würde und was möglicher Weise aus ihrer Anwesenheit entspringen könne.

Der traurige Tag war gekommen und wir umstanden ihn, um Abschied von ihm zu nehmen. Es war das Zimmer, in welchem die lebensgroßen Bilder seiner Eltern hingen; da schlief er in seinem schwarzen Kleide, von dem man nichts gewahrte vor den unzähligen Kränzen, die es bedeckten. Der Schein der Lichter auf den dunkeln Candelabern kroch flackernd und schwankend an den hohen Palmen und Cypressen empor, die sich von jenseits des Katafalks nach dieser Seite hin die Hände reichten. Ernst und feierlich tönte die Stimme des Predigers, und er mußte ergreifende Worte sprechen, denn der weibliche Theil der Trauerversammlung schluchzte ohne Aufhören. Ergreifender jedoch als diese Worte, die nur undeutlich an mein Ohr schlugen, waren für mich die vier Augen, die stumm und still aus ihren Goldrahmen heraus auf das gebrochene Leben unter sich sahen, das in demselben Zimmer so frisch zu ihren Füßen erblüht war. Ergreifender als Alles aber schien mir die Frau mit den dicken schwarzen Locken, die wieder zweimal da war und deren lebende Ausgabe, gramgefurcht nun und gebeugt, mit thränenlosen und doch so schmerzerfüllten Blicken, einer Niobe gleich in das düstere Bild hineinstarrte.

Als wir eine halbe Stunde später den Kirchhof verließen, wo er nun warm gebettet aller Furcht entrückt war, schlugen wir schweigend den Weg nach der Stadt ein, wohin wir unsern Wagen vorausgeschickt hatten. Als wir durch das altersgraue Thor traten, warf uns gleich das erste Haus eine Schaar tobender Knaben in den Weg, die jauchzend der Nachmittagsschule den Rücken drehten. Melancholisch schob sich der Schöngeist durch den Schwarm hindurch, und melancholisch sagte er, als wir dem dichtesten Schwarm entronnen waren:

„Ist das Lied nun zu Ende, bitte, so sagen Sie es mir!“

Ich sah nicht ab, was noch etwa geschehen könne, und drückte diese Meinung aus.

„Es ist möglich, daß Sie Recht haben,“ antwortete er ernst, „aber es ist so unbefriedigend, so unbefriedigend, und deshalb,“ fügte er nach einem kurzen Nachdenken hinzu, „halte ich es für das Beste, wir nehmen noch einen Schlaftrunk, ehe wir nach Hause gehen.“ – – –

Drei Jahre später – ich hatte mich nach Beendigung einer längeren Studienreise auf eine Zeit in Paris niedergelassen – fand ich, spät in der Nacht nach Hause kommend, einen Brief mit dem Stempel meiner Vaterstadt vor. War es, daß er ungewöhnlich stark und die Handschrift mir unbekannt war, war es ein gewisser feuchter Duft, den er aushauchte (es hatte den Tag über geregnet und die nasse Luft mochte die Tasche des Briefträgers durchdrungen haben), genug, noch ehe ich ihn erbrach, stand jene Nacht und der darauffolgende Morgen in der Müggelbude vor meinen Augen. Ich hatte mich nicht getäuscht; der Brief war von Robert Fürst und lautete kurz:

„Es fehlte noch etwas am Ende vom Liede; ich fühlte es damals genau. Es ist jetzt eingetroffen, nach und nach, und ich habe es kurz und tagebuchartig für Sie aufgezeichnet. Ich glaube, es wird auch Sie befriedigen. Mir wenigstens zieht sich das Herz nicht mehr krampfhaft zusammen, wenn ich an die traurige Geschichte Eduard Sandow’s denke, mit ihrer unerbittlichen Logik, die ihn in den Tod trieb. Es scheint ganz genau gewußt zu haben, was es wollte, das arme, so oft verlästerte Schicksal. Es scheint es überhaupt immer zu wissen. Beste Grüße von Ihrem

Robert Fürst.“

(Schluß folgt.)




England in Norwegen.


Wer die Romantik der rauschenden Gewässer studieren will – des Meeres schiefergraue Fluthen, die lichtblauen, klaren Seen, heute mit ihrem klaren Spiegel lächelnd und morgen aufgeregt und ungestüm, die in gewaltigem Sturmschritte dem Meere zueilenden Flüsse, die majestätischen Wasserfälle, welche zu Hunderten von den Bergen fallen –, der muß Skandinavien von Süd nach Nord, von Ost nach West durchwandern, und wahrlich! er wird begreifen, warum die nordische Sage so reich ist an Gestalten, die im thaubesprengten Grase an der Quelle tanzen, die in den Flüssen sich baden, die bald freundlich, mild und verlockend, bald drohend, unhold und verderbenbringend aus den Tiefen der Seen emportauchen. Des Nordländers Poesie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_726.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)