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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Jean Lamarck, obschon im Jahre 1744 geboren, veröffentlichte doch erst im Jahre 1801 seine Theorie und gab ihr 1809 ihre jetzige Gestalt und Klarheit durch sein classisches Werk „Philosophie zoologique“ (neu aufgelegt von Charles Martins, Montpellier), welche dem Darwin’schen Werke an die Seite gesetzt werden kann. Seinen hohen Ruf als Naturforscher erwarb er sich durch zahlreiche specielle Arbeiten über die niederen Thierformen (Wirbellose); er ist es auch, der die Thiere zuerst als Wirbelthiere und Wirbellose unterschied und die Krusten- und Spinnenthiere von den Insecten trennte. Seine Zeitgenossen fanden Lamarck’s Forschungen in der Abstammungslehre geradezu lächerlich und schwiegen dieselbe todt. Ja Cuvier wurde sogar der ärgste Feind der Lamarck’schen Theorie, und selbst Goethe, der sich doch so lebhaft für die Naturphilosophie und später für die Abstammungslehre interessirte, gedenkt Lamarck’s nirgends. Uebrigens hat Lamarck auch schon die Entwickelung des Menschen aus einem affenartigen Säugethiere darzuthun versucht, und nach ihm sind alle sogenannten geistigen Vorgänge physische Handlungen, welche aus den Beziehungen hervorgehen, die gewisse Arten von Materie (Hirn- und Nervenmasse) im Zustande der Thätigkeit untereinander haben, und sich in einem besondern Organe (Gehirn) vollziehen, das stufenweise die Fähigkeit erlangt, sie hervorzubringen. Auch bei den höheren Thieren ist nach ihm die geistige Begabung an jenes besondere System von Organen gebunden, dessen besondere Entwickelungsstufe und dessen Unversehrtheit den Grad der geistigen Fähigkeit bedingen und regeln.

Lamarck war von Geburt ein Junker aus der Picardie, das elfte Kind eines armen Edelmannes (Pierre de Monet-Lamarck). Er trat in seinem sechszehnten Jahre (1760) in die französische Armee in Westfalen, schlug sich gut, wurde krank, zum Soldaten untauglich und pensionirt (mit vierhundert Franken). Nachdem er kurze Zeit Commis bei einem Banquier in Paris gewesen, widmete er sich vorzugsweise der Botanik (veranlaßt durch die Pflanzen, welche ihn in seiner Krankheit umgeben hatten). Als er durch die Revolution seine Pension verlor, machte ihn Lakanal, Organisator am Pflanzengarten, zum Professor der Naturgeschichte für wirbellose Thiere. Unter unsäglicher Arbeitslast für sieben Kinder wurde er alt und arm, und durch das unablässige Arbeiten mit der Loupe blind, so daß er die letzten zehn Jahre seines Lebens, von zwei Töchtern gepflegt, in Armuth und Entbehrung im Zimmer zubringen mußte und im fünfundachtzigsten Lebensjahre (1829) starb.

Etienne Geoffroy St. Hillaire, der Aeltere, das Haupt der französischen Naturphilosophen, hegte schon gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts (1795) ähnliche Vermuthungen über die Umbildung der Organismen wie Lamarck, wagte sich aber erst im Jahre 1828 (in seinem Werke „Sur les principes de l’unité de la composition organique“) auf Lamarck’s Seite zu stellen und zu dem Grundsatze der Einheit in der organischen Natur offen zu bekennen. Das Hauptverdienst von St. Hilaire ist, dem mächtigen Einflusse Cuvier’s entgegengetreten zu sein und zwar in der Pariser Akademie am 22. Februar und 19. Juli 1830. In diesem Streite blieb Cuvier leider Sieger und die Naturphilosophie wurde dreißig Jahre lang fast ganz unterdrückt, so daß bis heute der Darwinismus in Frankreich noch nicht ordentlich Eingang gefunden hat. Goethe, welcher Lamarck ganz mit Stillschweigen übergeht, nahm dagegen so großes Interesse an dem Hilaire-Cuvier’schen Streite, daß er noch wenige Tage vor seinem Tode (1832) eine besondere Abhandlung (in seinem dreiundachtzigsten Jahre) darüber schrieb. Es ist diese Abhandlung Goethe’s letztes Werk. Während Lamarck als Hauptursache der organischen Veränderung die Gewohnheit, das Bedürfniß, die Uebung, den Gebrauch und Nichtgebrauch, die Lebensweise etc. ansieht, legt St. Hilaire das Hauptgewicht auf die beständige Veränderung der Außenwelt, besonders der Atmosphäre in Bezug auf Wasser, Wärme, Kohlensäure etc.

Charles Darwin, welcher die Lamarck’sche Entwickelungslehre erst fest begründet, vollständig ausgebildet und ihr zur allgemeinen Anerkennung verholfen hat, fand als die wahren wirkenden Ursachen für die unendlich verwickelte Gestaltenwelt in der organischen Natur die natürliche Züchtung (Auswahl) oder die Erhaltung der begünstigten Racen im Kampfe um’s Dasein (bei der Mitbewerbung um die nothwendigsten Existenzmittel). Diese neue von Darwin aufgestellte Theorie, welche uns die natürlichen Ursachen der Veränderungen und Umformungen der Thier- und Pflanzenarten enthüllt, wird „Züchtungslehre oder Selectionstheorie“ genannt. Darwin’s Gedankengang war folgender: der Züchter erzielt eine neue Race, indem er während längerer Zeit die Thiere oder Pflanzen zur Zucht jedesmal sorgfältig auswählt, dadurch die Veränderungen in einer bestimmten Richtung festhält und durch eine Reihe von Generationen häuft. Auf ähnliche Weise verfährt die Natur; sie trifft eine Zuchtwahl, indem von allen individuellen Abänderungen nur diejenigen zur Fortpflanzung gelangen, welche im Kampfe um das Dasein (und die Ehe?) sich als die stärkeren erweisen, indem die anderen nothwendig zu Grunde gehen. So werden durch die natürliche Züchtung im Verlaufe von zahllosen Generationen die kleinen, unscheinbaren Abänderungen, welche die Kinder von den Eltern unterscheiden, summirt und daraus bei fortdauernder Abänderung nach und nach ganz neue, nur während einer sehr kurzen Zeit ihrer Entwickelung (im Embryonalzustande) ihren Vorfahren noch ähnliche Lebewesen gebildet. – Darwin’s Lehre ist durchaus keine Hypothese, denn sie gründet sich auf längst anerkannte allgemeine Eigenschaften der Organismen (Anpassung und Vererbung) und auf greif- und sichtbare Thatsachen. Man bedenke, daß die Natur mit verhältnißmäßig sehr geringen und unscheinbaren Mitteln Großes leisten kann, aber freilich durch eine langsame und allmähliche Aufeinanderhäufung ihrer Wirkungen innerhalb ungeheurer geologischer Zeiträume.

Darwin wurde den 12. Februar 1809 zu Shrewsbury geboren, bezog im siebenzehnten Lebensjahre (1825) die Universität Edinburgh und dann Christ’s College zu Cambridge, wo er, kaum zweiundzwanzig Jahre alt (1831), den Baccalaureus-Grad erwarb. Er schloß sich jetzt dem Capitain Fitzroy zu einer wissenschaftlichen Expedition an, welche fünf Jahre dauerte und zur Erforschung der Südspitze Süd-Amerikas unternommen wurde. Darwin beschrieb diese Reise, insbesondere in Bezug auf die Korallenriffe. Hier empfing er schon Eindrücke, welche ihn später zur Aufstellung der Selectionstheorie veranlaßten. Durch die Reise kränklich geworden, zog er sich auf sein Gut Down in Kent zurück und widmete sich hier seiner Selectionstheorie und dem Studium der Organismen (der Hausthiere und Gartenpflanzen, besonders der Taubenzüchtung) im Culturzustande (Domestication). Nachdem er einundzwanzig Jahre lang (von 1837–1858) mit bewunderungswürdiger Vorsicht und Selbstverleugnung seine Theorie verborgen hielt, um immer mehr Erfahrungen dafür zu sammeln, wurde er durch Lyell und Hooker, welche Beide Darwin’s Arbeit seit langer Zeit kannten, deshalb veranlaßt dieselbe zu veröffentlichen, weil Alfred Wallace genau zu denselben allgemeinen Anschauungen über die Entstehung der Arten wie Darwin gelangt war und seine Arbeit an Darwin eingesendet hatte. So wurde Darwin’s wie Wallace’s Arbeit im August 1858 in einem englischen Journale veröffentlicht und im November 1859 erschien dann das epochemachende Werk Darwin’s „Ueber die Entstehung der Arten“, in welchem die Selectionstheorie ausführlich begründet ist. Seine späteren Werke sind: „Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication“, „Die Abstammung des Menschen“, „Die geschlechtliche Zuchtwahl“ und „Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegung bei den Menschen und bei den Thieren“.

Ernst Heinrich Häckel, Professor in Jena und ohne Zweifel der genialste Fortbildner der großen Idee Darwin’s, ist der eifrigste Verfechter und Ausbauer des Darwinismus. Er hat dem durch Darwin fest begründeten Lamarckismus mit Hülfe specieller Anwendung auf die Formveränderungen organischer Wesen ein unerschütterliches Fundament gegeben und mit großem Freimuthe rücksichtslos die letzten Consequenzen derselben ausgesprochen, und zwar theilweise sogar noch vor Darwin. Er hat zuerst die Descendenztheorie auf einem Wege bewiesen (d. i. durch den analytischen Beweis), der bisher noch nicht betreten worden war, nämlich durch umfassende und möglichst vollständige monographische Bearbeitung einer kleineren Organismengruppe, verbunden mit dem speciellen Nachweis des genealogischen Zusammenhangs aller darin enthaltenen unterschiedenen Formen. Hierzu benutzte er die Kalkschwämme und zeigte an diesen durch Tausende und Abertausende von Untersuchungen, Schritt für Schritt, die allmählichen Uebergänge von der einfachsten Schwammform bis zu der

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