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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


kannte das Volk seinen alten Kaiser noch und der Born der Tradition sprudelte uns hier überreich entgegen.

„O, erzählt, erzählt uns Alles, was Ihr wißt, für uns ist Alles wichtig.“

„Wichtig?“ entgegnete er, indem er sich vor uns auf einem moosigen Felsen niederließ. „Nun, Wichtiges weiß ich freilich nicht viel von ihm zu erzählen, außer von der gewaltigen Stärke, die er schon in früher Jugend besaß. Man sagt, er habe an seinem vierzehnten Geburtstage einen starken Hirsch, einen Zwölfender, da unten im Hirschbornsgrunde an den Geweihen erfaßt und zur Erde gedrückt und ihm den Nickfang gegeben; und wie ihn einmal bei Quedlinburg, als er, Fische angelnd, an der Bode gesessen, drei heimliche Widersacher unversehens zu überfallen gedachten, hat er zwei derselben von sich ab in die Bode geschleudert und dem dritten den Arm zerbrochen, wie einen dürren Stecken.“

Das waren interessante Details; der Doctor war außer sich; er hatte längst Notizbuch und Stift zur Hand genommen und sich neben dieser lebendigen Chronik niedergelassen, um kein Wort zu verlieren.

Der Hirt erzählte weiter: „Er soll in seiner Jugend ein hübscher stattlicher Mensch gewesen sein; seine erste Liebe hatte er in Quedlinburg –“

„Ah, das ist interessant!“ rief der Doctor, hastig weiter notirend, „so berichtet auch Dittmar von Merseburg. Wißt Ihr auch ihren Namen? Hieß sie Hatheburgis?“

„Das weiß ich nicht,“ kopfschüttelte der Hirt; „aber er hat später eine andere genommen, eine prächtige, große, hübsche Frau, hoch und schlank, und so recht umsichtig und verständig. Sie hielt ihn oft zurück von unbedachtem Handeln, und wie wild er auch oft auffuhr, so ertrug sie es mit Geduld, und so ward er auch bald wieder ruhig und wußte ihr’s Dank, daß sie ihn so klüglich behandelt.“

Der Doctor gerieth in Ekstase: „Wie das Alles stimmt; die herrliche Mechtild: ‚Gratias habeas. Iratum saepe mitigasti. In omni re utile consilium mihi dedisti‘.“ (Habe Dank! Wie oft hast Du mich im Zorn besänftigt, und immer gabst Du mir den besten Rath.) Fast mit Rührung recitirte er diese Abschiedsworte des sterbenden Kaisers an seine Gattin.

„Am tüchtigsten aber war er im Vogelfang,“ berichtete der Alte, dem die lateinische Unterbrechung etwas ungelegen zu sein schien; „ja, am tüchtigsten im Vogelfang. Seinen Leim müßtet Ihr kennen, so einen Leim giebt’s nicht weiter; aber wir kennen die Art, wie er gekocht wird, ich und noch ein paar Andere, aber wir halten’s geheim. Das ist ein Leim, nicht gar zu dick und doch so zäh, daß er festhält wie Fußangeln, und hält lange und läßt sich leicht wieder von den Ruthen abstreifen, wenn der Fang vorüber ist. So ein Leim! Unsere jungen Burschen möchten’s gerne nachmachen und bringen uns das Leinöl zum Kochen und passen auf, wie’s gemacht wird, aber sie können lange aufpassen, wenn’s ihnen nicht anvertraut wird, lernen sie’s nimmer. Uebrigens hat er auch eine ganz neue Art des Vogelfanges eingeführt, die hier am Harz noch Keiner konnte, den Fang auf der Eulenbucht –“

O, wie leuchteten des Doctor’s Augen! Wie flog sein Stift über das Notizbuch! „Langsam, langsam!“ bat er, damit ihm kein Wort entgehe; „o, wie werden meine Freunde staunen. Hierher sollten sie gehen, statt in die staubigen Archive. Hierher Waitz, hierher Pertz, hier ist eine wundervolle Quelle.“

Der alte Herschelmann schüttelte den Kopf: „Nein, Herr, Ihr irret, hier ist keine Quelle; die nächste Quelle ist drüben der Treseborn mit seinem prachtvollen Wasser; leider ist nur zu wenig –“

„Schon gut,“ fiel ihm der Doctor in’s Wort, „laßt die Quelle und erzählt weiter; Ihr waret beim Vogelfang.“

„Ach ja, Vogelfang, richtig. Ja, der Vogelfang hat ihm viel Zeit gekostet, und dann besonders – die Jagd.“

„Aha, die Jagd,“ murmelte der Doctor dazwischen; „‚in venatione fuit acer‘ (die Jagd betrieb er mit großem Eifer), wie Pantaleon erzählt.“

„Ich glaube,“ fuhr der Hirt fort, „er hat mehr Wild erlegt, als irgend ein Jägersmann; er hat einmal an einem Tage, ich weiß nicht genau, wie viel Stück –“

„Vierzig Stück!“ fiel ihm der Doctor in‘s Wort: „vierzig Stück Wild: una vice quadraginta feras.

„Nein, nein,“ schüttelte Herschelmann den Kopf, „so viel waren es lange nicht.“

„Doch, doch,“ eiferte der Doctor, „vierzig Stück, quadraginta feras, so steht’s geschrieben, schwarz auf weiß, und Pantaleon, der es erzählt, ist glaubhaft, seine Aussagen stimmen auch sonst mit den Eurigen. Nur weiter.“

Aber auf einmal erhob sich der alte Herschelmann und sah uns ernst und finster, fast drohend in die Augen: „So! Also schwarz auf weiß habt Ihr’s? Und Aussagen habt Ihr auch? Habt ihn also wohl schon in den Acten, und nun soll der alte Herschelmann auch heran und Verräther spielen? Pfui, vom Verräther frißt kein Rabe, und Ihr solltet Euch schämen, so Alles herauszulocken. Aber es hilft Euch nichts, ich widerrufe. Was ich auch gesagt haben mag, es ist Alles nicht wahr!“

Der Alte war in großer Aufregung und sichtlich bitterböse. Was konnte ihn denn nur so erregt haben? Der Doctor war bestürzt; er hatte augenscheinlich keine Berichte mehr zu erwarten.

„Aber, Herschelmann, so redet doch! Ihr ahnt ja selbst nicht, wie wichtig jedes Eurer Worte ist.“

„Wichtig?“ höhnte der Alte, „gar nichts Wichtiges! lauter thöricht Geschwätz von mir; es ist kein wahr Wort d’ran, weder an der Jagd, noch am Vogelfang. Ich glaube überhaupt nicht, daß er je einen Hirsch erlegt hat. Wollt Ihr’s wissen, so fragt ihn doch selber,“ fügte er spöttisch nach oben deutend hinzu.“

Der Doctor gerieth in gelinde Verzweiflung und fing fast an zu betteln:

„Aber Herschelmann! Alter Freund! Seid doch nicht so böse! Wir können ihn doch nicht selbst fragen.“

„Warum nicht?“ sagte der Alte etwas weniger barsch und deutete wieder nach oben. „Fragt ihn doch selbst; er kommt gerade zur rechten Zeit.“

„Wer kommt denn?“

„Nun, er selbst, Heinrich, der Vogelsteller!“

„Wer?“ Die Frage erstarb fast auf unseren Lippen, denn als wir dem abermals nach oben gerichteten Winke seiner Hand mit dem Blicke folgten, sahen wir über uns auf dem Bergkamm der Krügershöhe ein rothes lachendes Gesicht über das Gebüsch hinweg zu uns niederblicken, uns einen freundlichen guten Morgen zunickend.

„Wer ist denn das?“ fragten wir den Hirten, „der Mann scheint uns zu kennen?“

„Nun, das ist er ja eben,“ war die Antwort, „das ist ja der alte Heinrich, der Vogelsteller, über den Ihr mich so scharf in’s Verhör nahmt.“

Der Doctor erblaßte; Notizbuch und Stift entfielen seinen Händen; er schaute noch einmal in das lachende, seelenvergnügte Gesicht da droben, dann in das meinige. Also das war Heinrich der Vogelsteller! Einem Momente der Betroffenheit und der Enttäuschung folgte unsererseits ein herzliches und langes Gelächter, und damit war das eigenthümliche Mißverständniß beseitigt. Wir traten aus dem Reiche der Vergangenheit, in welches wir uns einen Augenblick hineinverzaubert fühlten, plötzlich wieder in die Gegenwart. Der neue Ankömmling von oben stimmte in unser Gelächter vergnügt mit ein; er schien darin einen Ausdruck der Freude über seine Ankunft zu sehen, kletterte zu uns herab und bot uns ein biederes Willkommen. Er war eben der Begleiter, den Freund Steinmeyer für uns bestimmt hatte und der uns bald, obwohl die Kaiserglorie ihn nicht mehr umgab, ein lebhaftes Interesse einflößte. Onkel Heinrich, so wurde er meist genannt, und so nannten auch wir ihn, verständigte sich bald mit uns, wie wir zur Erreichung unseres Zweckes die Zeit eintheilen wollten; er hatte uns deshalb gerade hierher beschieden, weil auf dem Wege von hier nach Treseburg sich bereits Gelegenheit bot, die eine Art des Vogelfanges kennen zu lernen; er hatte hier seinen Dohnenstieg.

Dohne nennt man bekanntlich das auch in der Gartenlaube schon früher einmal beschriebene sprenkelartige Geflecht zum Fange der Krammetsvögel, und Dohnenstiege sind die schmalen Waldpfade, an deren beiden Seiten der Vogelsteller seine Dohnen an den Bäumen und Büschen aufhängt. Es ist für Jeden, außer dem Vogelsteller, ein trauriger Anblick, die armen Thierchen schlaff mit zusammengeschnürtem Halse in der Dohne hängen zu sehen, um so trauriger, als man sich dabei erinnert, daß es gerade die beliebtesten der gefiederten Sänger

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