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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


(Speicher) führt eine Treppe wie eine Hühnerleiter, und dort sind zu beiden Seiten eines sehr schmalen Gängchens enge Dachkämmerchen für die Hausbewohner; offen war nur eines mit den zwei Betten der Gärtnerburschen, gleich am Treppenaufgang. So ist das Zufluchtshaus, und vor dem Haus im Garten steht noch ein Pferd – und die umgerittene Gartenplanke ist ein Verräther mehr! Und da versteckt Lichnowsky sich in einen Obstverschlag dieses Kellers und der greise Auerswald klettert die Stiege zu der offenen Dachkammer hinauf – und beide glauben sich geborgen – wenn die Schlüssel dazu versteckt sind! –

An den Hausbewohnern lag es nicht, daß es so kam. Von dem Augenblick an, wo Auerswald Schmidt’s Stube betrat und Lichnowsky mit schwer vorwurfsvollem Tone fragte: „Na – was nun?“ – und dessen Antwort lautete: „Verkleiden! Verstecken!“ – von diesem Augenblick suchten alle Hausbewohner, Schmidt, seine Gattin, die ebensoviel Muth als Geistesgegenwart zeigte, der Lehrer Schnepf, ein bejahrtes Fräulein Pfalz und der eine der beiden Gärtnerburschen (der andere kam erst später hinzu), Beide vor Allem vom Verstecken abzumahnen und ihnen das ganz und gar Nutzlose desselben zu beweisen. Und abermals bot der Zufall fast wunderbar eine Rettungshand. Fast zugleich mit den Verfolgten hatte das Dienstmädchen Marie Adam aus dem ganz nahen Hause desselben Daniel, der kurz vorher Beiden seine Hülfe, aber ungehört, angeboten, den Garten betreten, um Milch zu holen. Frau Schmidt übersah rasch die Gefahr der Lage. Hatte auch auf Schmidt’s Geheiß der Gärtnerbursche Rettenbacher Auerswald’s Pferd im Kuhstall untergebracht, so stand doch das Lichnowsky’s noch bei der niedergetretenen Planke, und vergeblich drang sie darauf, es zu entfernen. Sie mußte, auch um der eigenen Sicherheit willen, an die Entfernung der Verfolgten selbst denken. Zuerst drang sie in den General deshalb. Denn nachdem Lichnowsky an der Schmidt’schen Stubenthür auf Auerswald’s „Na – was nun?“ die Antwort „Verkleiden! Verstecken!“ gegeben und sofort wieder verschwunden war, hatte dieser sich an Frau Schmidt mit der Bitte gewandt: „Was können Sie für mich thun? Ich will mich verkleiden.“ Diese rieth ihm, in den Schlafrock und eine Gartenmütze ihres Mannes gehüllt, wie ein Hausgenosse mit dem Dienstmädchen hinüber zu Herrn Daniel zu gehen. Nur seinen Schnurrbart solle er sich rasch abschneiden. Obgleich zögernd, nahm er doch die Scheere in die Hand; aber kaum hatte er vor dem Spiegel einen Blick durch’s Fenster daneben gethan, so legte er die Scheere auf den Tisch und sagte: „Es ist zu spät – verstecken Sie mich!“ Und wieder warnte die Frau ihn vor dem unnützen Verstecken. Da sein linker Arm von einem Steinwurf gelähmt war, so half Marie Adam ihm seines Rocks sich entledigen und einen solchen Schmidt’s anziehen. Weil aber auch jetzt Auerswald nicht mit ihr gehen wollte, so entfernte sie sich mit ihrem Milchtopf und kam, von Niemandem gesehen und gestört, in Daniel’s Haus an. Dem aus der Thür eilenden Mädchen nachblickend, mochte er durch die Vorplatzfenster wieder Volksgruppen gesehen haben, denn er sagte nun bittend zu Frau Schmidt: „Ach, da sind jetzt meine Kleider hier! Wenn sie meine Kleider finden, dann wissen sie ja, daß ich hier bin. Verstecken Sie sie doch und lassen Sie mich auf den Speicher!“ Und abermals warnte sie vor dem Verstecken und bat ihn, sich auf das Canapee zu setzen und eines ihrer Kinder auf den Schooß zu nehmen, wie als der Großvater desselben. Aber während sie des Generals Rock die Treppe hinab zum Kleiderschrank trug, mußte Fräulein Pfalz, die mit in der Stube war, ihm die Stiege zum Speicher zeigen. Er klomm hinauf und rief von droben dem Fräulein zu: „Schließen Sie zu und werfen Sie den Schlüssel weg!“ – Droben in der Dachkammer verkroch er sich in eines der beiden Betten. Da er aber die Sporenstiefeln anbehielt, so konnte er nicht fühlen, daß ein solcher unter der Decke hervorragte, – und der ward sein Verräther.

Aus dem Allen ersehen wir, daß bei dem alten, verwundeten Manne alle Ueberlegung und Beherrschung aufgehört hatte. Aber wir finden den jüngern, lebenskräftigen Fürsten in nicht besserem geistigem Zustande. Er war nach seinem Verschwinden vor Schmidt’s Stubenthür in das daneben liegende Zimmer des Fräulein Pfalz gekommen, die erstaunt sah, wie er, den weißen Hut auf dem Kopfe, mit der Lorgnette zum Fenster hinaus sah und sich umschaute. „Um Gotteswillen!“ – rief sie, „man sieht Sie ja von allen Seiten!“ Und rasch eilte er vom Fenster hinweg, zur Thür wieder hinaus. Der unheimliche Eindruck trieb nun Fräulein Pfalz in Schmidt’s Stube hinüber. Der Fürst war die Treppe hinab und im Garten zu dem Burschen gegangen, der noch sein Pferd hielt, und hatte ihm Geld in die Hand gedrückt, um das Pferd zu verbergen; dann hatte er jedenfalls nach dem Keller gesucht; er ist, da die Keller- und Treibhausthüren meist offen standen, vielleicht sogar darin gewesen, ohne in dem nur etwa dritthalb Fuß tiefen Raume neben dem Hausflur einen Keller erkannt zu haben. Als jetzt Frau Schmidt mit dem Rock des Generals die Treppe herab kam, stand er am Fuße derselben und fragte sie sogleich – ohne sich nach Auerswald’s Verbleib, dessen Rock er doch vor sich sah, zu erkundigen – nach dem Keller. Die kluge Frau warnte auch ihn vor dem Verstecken hier und schlug ihm vor, einen vom Gärtnerburschen Rettenbacher dahängenden Rock anzuziehen und mit einer Gießkanne hinüber in das erste beste Nachbarhaus zu gehen. Wenn er sich noch dazu den Schnurr- und Knebelbart abschneide, sei kaum zu zweifeln, daß die Flucht gelinge. Aber Lichnowsky erwiderte hastig: „Lassen Sie das! Lassen Sie das – es ist zu spät – verstecken Sie mich im Keller!“ Dennoch führte sie ihn von der Hausflur in das südliche Treibhaus, und um ihm zu zeigen, wie leicht er nach dieser Richtung über die Planken kommen und in die Gärten verschwinden könne, ging sie einige Schritte vor. Als sie sich aber umsah, war der Fürst verschwunden; sie fand ihn im Vorplatz wieder, nach der Kellerthür suchend, und rief ihm, nunmehr nothgedrungen auf seinen Wunsch eingehend, zu: „Hierher, hierher – der Keller ist hier!“ – Sie führte ihn in den Kellergang. Nur ein einziger der fünf Verschläge desselben, und zwar der engste, war unverschlossen. Da hinein schob sie ihn und rieth ihm, als er klagte: „Ach, ich kann nicht weiter!“ sich zu bücken, so werde er ein Versteck zur Noth finden. Er kam auf ein sogenanntes Apfelbett, das mit ihm durchbrach, und so sank er auf einen zweiten Boden desselben hinab, wo er flüchtigen Blicken wohl verborgen war. Auch er bat die Frau, den Schlüssel mitzunehmen und sich zu verstecken. Wie aber beim General der Sporenstiefel, so war beim Fürsten ein über das sonst gute Versteck heraushängender Rockzipfel schließlich der Verräther für die Verfolger, die nun nicht mehr auf sich warten ließen, denn als Frau Schmidt aus der Kellerthür heraustrat, standen bereits die ersten vor ihr.

„Wir suchen den Hund, den Volksverräther, den Spitzbub – den Lichnowsky!“ – „Wie wäre es, Madamchen, wenn ich Ihnen hernach an einem Spieß eine Cotelette von dem Fleisch des Hundes Lichnowsky überreichte? Das lassen Sie sich wohl köstlich schmecken!“ – „Ja, Madamchen, wir sind gediente Leute, wir werden sie schon finden.“ – Das sind die ersten Anreden der Verfolger an die Frau; sie kennzeichnen die Art derselben, die unmenschliche Wuth, in welche diese zum Theil angetrunkenen Rotten durch das fortwährende Schießen in der Stadt versetzt waren, und den nicht mehr zu bezähmenden Ingrimm über den Einen, von dem sie überzeugt waren, daß er allein die Schuld trage an dem Kampfe und Blutvergießen in Frankfurt. Die Hausbewohner, so klar sie auch die Nutzlosigkeit des Versteckens vorher erkannt, waren doch jetzt schreckensstarr – sie mußten geschehen lassen, was geschah, – und die Verfolgten? Jedes Wort hörten sie auf ihren gräßlichen Lagern, der im Keller, wie der auf dem Speicher, – und so furchtbar muß die Marter ihrer Todesangst gewesen sein, daß ihr Tod nur als eine Erlösung erscheint.

Auch darin war, wie der Schuldlosere, auch der Glücklichere der alte General. Ihn fanden sie zuerst, und er fand zuerst den Tod.

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 669. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_669.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)