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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Gottfried, kein Virgil, kein Dante hat je die Qualen genannt, die ich in diesem kurzen Zeitraume ausstand. Die Zeit hatte für mich aufgehört zu sein – jede Secunde ein Jahrhundert. Nein! lieber auf alle Wonne der Erde, des Lebens verzichten, als solche Schmach bestehen!

„Wissen Sie Näheres über den schändlichen Tausch dieser Bilder?“ frug Herzog Ernst mit kalter Stimme. Hedwig sah ich jetzt mit vorgebogenem Leibe, die Augen wild stierend, dastehen.

Mein Blick irrte im Kreise umher und traf auch Werdau’s Antlitz – die gesenkten Lider, der unbewegliche Gesichtsausdruck sprachen deutlicher als Menschensprache: Gedenke Deines Wortes! Ich, Gottfried, ein Ehrenmann und freier Künstler, mußte diese Schmach auf mich nehmen, mußte unbedingt mein Wort halten, um zu zeigen, daß ich diesem Schurken ebenbürtig war – des Edelmannes Ehrenwort – welche Ironie! Ich habe gekämpft in jenen Augenblicken, habe gelitten – ich finde keinen Ausdruck, Dir meine Qual zu schildern. Auf der einen Seite Hedwig und meine Ehre, mein guter Name, den ich vor ihr nicht in den Staub treten lassen durfte, der Verdacht von einem hochherzigen Menschen, wie Herzog Ernst, für den verächtlichsten aller Verräther gehalten zu werden, meine ganze Zukunft, all’ meine Hoffnung auf Glück – auf der anderen Seite nur das Kopfnicken, mit dem ich mein Wort gegeben! Alles ward winzig klein, verschwand vor diesem gegebenen Worte – wie eine donnernde Lawine tönte es mir zu: Auf dieser Seite steht Deine Pflicht! Sei getreu Deinem Worte! Es siegte. Dem Herzog fest in die Augen sehend – ich konnte das, wenn er es auch für ein Uebermaß von schamloser Schlechtigkeit halten mußte – mit kaum erzitternder Stimme, mit stolzer Handbewegung auf das verhängnißvolle Bild deutend, sprach ich:

„Die Copie ist von meiner Hand, Herzog; doch wie sie hierher kommt – weiß ich nicht.“

„Sie gestehen, diese Copie angefertigt zu haben,“ rief jetzt zornig der Herzog, „und wollen weiter nichts wissen? Wenn Sie nicht augenblicklich Alles offen erzählen, lasse ich Sie verhaften!“

„Ich stehe jeden Augenblick zur Verfügung!“

Jetzt wanke Hedwig herbei, ließ einen entsetzten Blick eine Secunde auf mir ruhen, und bat dann mit aufgehobenen Händen den Bruder um Beschließung der peinlichen Scene.

„Dir zu Liebe!“ rief er. Dann zu mir sich wendend, sprach er: „Sie verlassen augenblicklich dieses Haus! Weiteres werden Sie brieflich von mir hören.“

Als ich mich gewandt, hörte ich die leiser gesprochenen Worte: „Und da declamiren wir immer über Gleichberechtigung der Stände. Es liegt doch etwas im Blute, das von Generation zu Generation zum Edlen aufgezogen, dem Schlechten ferngehalten wurde. Kommen Sie, Werdau!“

Er nahm des Schurken Arm und hieß seiner Schwester den ihres Pathen ergreifen. Unter der Thüre konnte ich mich nicht enthalten, Hedwig einen langen, zärtlichen, meine Unschuld betheuernden Blick zuzuwerfen. Sie nahm ihn staunend auf, ward bleich, und wie vom tödtlichen Stahl getroffen, sank sie zu Boden. Mein Fuß hob sich – doch die Worte des Herzogs, der sich über Hedwig beugte: „Daran ist dieser Bube schuld!“ trieben mich von dannen. –

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Karl Wilhelm. Nach dem Hinscheiden des im deutsch-französischen Kriege so blitzschnell populär und berühmt gewordenen Componisten der „Wacht am Rhein“, Karl Wilhelm, werden vielleicht einige persönliche Erinnerungen an diesen in mancher Beziehung seltenen Mann den Lesern dieses Blattes willkommen sein. Als junger Mann von zwanzig Jahren trat ich 1862 als Commis in ein Handlungshaus Crefelds, und nachdem das Geschick und jugendliche Wanderlust mich während mehrerer Jahre mannigfach auf dieser trotz „Jammerthal“ doch schönen Erde umher gewirbelt hatte, kam mir um 1868 der Gedanke, einige meiner wichtigsten Erlebnisse aufzuzeichnen. Als ich nun vor einigen Tagen, wie das wohl dann und wann meine Gewohnheit ist, in diesen Heftchen blätterte, stieß ich auf folgende Zeilen, die ich gerade so wiedergebe, wie ich sie vor fünf Jahren niederschrieb:

„Obschon ich in der Familie meines Prinzipals manche angenehme Unterhaltung hatte, wozu ich in erster Linie das Musiciren zähle, that ich doch bald auch Schritte, mich anderen gesellschaftlichen Kreisen zu nähern; um den doppelten Zweck, den des Bekanntwerdens mit anderen gebildeten Leuten und den der Pflege der Musik, speciell des Gesanges, zu erreichen, ließ ich mich durch den Bruder meines Prinzipals in die „Liedertafel“ vorschlagen, einen Männer-Gesangverein, der damals unter der trefflichen Leitung von Karl Wilhelm, dem Componisten der „Wacht am Rhein“ – ein herrliches Lied, welches jeder Deutsche kennt – in höchster Blüthe stand. Den Satzungen des Vereins gemäß, hatte ich mich nicht nur einer Prüfung meiner Stimme in der Privatwohnung von Karl Wilhelm zu unterziehen, sondern mußte dann auch an einem der nächsten Gesangsabende vor dem gesammten Verein ein Lied vom Blatt singen. Ich wanderte also zunächst zu Wilhelm, der mich gleich frug, ob ich nicht ein Lied zu Hause habe, das ich singen könne; hierdurch schon wesentlich erleichtert, bezeichnete ich als ein solches „Die Thräne“ von Gumbert, die ich holte und anscheinend zu seiner Zufriedenheit sang. Er entließ mich mit den freundlichen Worten: „Seien Sie nur bei der Probe vor dem Vereine nicht bange und singen Sie brav darauf los!“

– Es war mir aber doch nicht ganz wohl zu Muthe, als ich am nächsten Abende in den schön erleuchteten Gesangssaal trat, der von fremden Gesichtern erfüllt war, denn ich befürchtete, man werde mir ein Lied vorlegen, welches mir ganz und gar unbekannt wäre. Wilhelm hatte mein Eintreten bald bemerkt und während einige Vereinsangelegenheiten verhandelt wurden, kam er zu mir heran und fragte mich leise, ob ich „Die Thräne“ mitgebracht hätte. Ich antwortete natürlich mit einigem Erstaunen, daß ich jenes Lied aus dem Grunde nicht zu mir gesteckt habe, da ich ja etwas vom Blatte singen solle.

„Das macht nichts,“ sagte er mit einem gutmüthigen Lächeln, „holen Sie nur ruhig Ihre ‚Thräne‘! Das Uebrige werden wir schon machen.“

Ich glitt rasch aus dem Saale hinaus und war auch bald mit meinem Hefte wieder zurück, welches Wilhelm unvermerkt auf das Clavierpult prakticirte.

„Nun,“ flüsterte er mir ermuthigend während einiger Präludien zu, „nun legen Sie ’mal Alles, was Sie an Kraft und Energie in sich haben, in den Gesang und denken Sie, Sie müßten Alles in das Lied hineinbringen, was Sie in sich haben, und nun nur tapfer darauf los und aus voller Brust!“

Seine kräftige Zusprache hob meine Befangenheit in hohem Grade, und mein Vortrag wurde unverdient mit Klatschen seitens der Anwesenden belohnt. Ich war nun also Mitglied und hatte von jenem Tage an in diesem Mustergesangvereine nicht nur hohe musikalische Genüsse, sondern auch manche gesellschaftliche Freuden; in regelmäßigen Zwischenräumen hatten wir sogenannte „musikalische Abende“ in einem großen Saale, zu denen auch anderes Publicum Zutritt hatte, und die Vocal- und Instrumentalconcerte waren derart, daß diese „Abende“ den Namen wirklicher Concerte in der That verdienten.

Eine ganz eigenthümliche Gestalt nahm eben unser Dirigent, Karl Wilhelm, in unserer Gesellschaft ein; derselbe war ein kleiner, damals siebenundvierzig Jahre zählender Mann, mit rabenschwarzem Haupthaar und Bart, sehr braunem Teint und schwarzen, geheimnißvoll schönen, melancholischen Augen. Als Componist der „Wacht am Rhein“, des Cavaleriemarsches, des herrlichen Lieds „die Frühlingszeit“, des melancholischen „Mein Schatz hat mich verlassen“ und vieler anderer, meistens durch die Tiefe und die oft darin liegende Melancholie ergreifender Compositionen, sowie nicht weniger durch sein seelenvolles Clavierspiel hatte er sich schon damals einen allbekannten Namen gemacht, und es ist daher gar nicht überraschend, daß ich mit wahrer Pietät und Verehrung auf diesen Mann blickte. Um so trauriger ist es, daß seine Lebensverhältnisse diesen genialen Kopf, der für die Musik unter günstigen Umständen noch Erhabenes hätte schaffen können, schon in seiner Blüthezeit völlig lahm legten; im praktischen Leben verfiel er in gewisse Nachlässigkeiten. Trotzdem blieb die allseitige Sympathie, ja, ich möchte fast sagen Verehrung, für ihn stets ungeschmälert, was nicht nur in seinen anerkannt großen Verdiensten, sondern auch in seinem reinen Charakter und tiefen Gemüth seinen Grund hatte. Er hatte etwas Schwärmerisches an sich, das unwillkürlich ebenso für ihn einnahm, wie seine tiefen dunklen Augen, die einen so melancholischen Glanz hatten, wie ich es nie wieder bei einem Menschen sah; sein Gemüth entsprach aber auch diesem seinem äußeren Wesen vollkommen, und ich weiß mir noch gut zu vergegenwärtigen, daß ihm öfters bei Vortrag eines Liedes von Seiten des Vereins die hellen Thränen über die Wangen liefen und er nach Beendigung unseres Gesanges seine Anerkennung in den Worten: „Ich danke Ihnen von Herzen für Ihren herrlichen Gesang,“ kaum hervorstammeln konnte. Es war eben eine durchaus poetische, fast romantische Seele, die der Excentricitäten auch nicht wenig aufzuweisen hatte, und bei dieser Gemüthsanlage kam es zum Beispiel Niemand in den Sinn zu lächeln, als er uns einst, von einer Erholungsreise in seine Heimath bei Schmalkalden zurückgekehrt, mit schwermüthigem Lächeln einige Tannenzapfen zeigte, die er als Andenken an die Wälder seiner Jugend mitgebracht hatte.

Bald nach meinem Fortgange von Crefeld ist er ganz von der Bühne abgetreten, indem er etwa im Jahre 1864 den durch ihn zur Blüthe gebrachten Verein und damit Crefeld verlassen hat; wohin der düstere Wanderer seine Schritte gelenkt hat, ist mir nicht bekannt geworden. Er scheint ganz verschollen zu sein. Ich schließe meine Reminiscenzen mit dem Wunsche, das Geschick möge ihm für die zweite Lebenshälfte bessere Tage vergönnen, als er in seinen besten Jahren durchzumachen hatte!“

Soweit jene Aufzeichnungen vergangener Zeit. Wir Alle wissen, daß es Wilhelm in dem letzten großen Kriege noch vergönnt war, mit seinem Liede nicht Tausende, sondern Millionen Herzen zu entflammen; seine gebrochene Lebenskraft vermochte dieser Triumph aber nicht mehr nachhaltig aufzurichten. Nur noch drei Jahre weilte er, hoffentlich mit zufriedenem, glücklichem Gemüthe, unter den Lebenden und kehrte dann zu jenen Regionen zurück, aus denen sein Genius stammte.

W. Dyckerhoff.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 657. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_657.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)