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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


von Dauer nicht nur während der Schulzeit, sondern für’s Leben.

Sollte einer von Euch, die wir im Herbst 1853 dorthin kamen, diese Zeilen lesen, der wird meine Worte bestätigen. Wir sind zum größern Theile gleich fortschreitend resp. zurückbleibend bei einander geblieben bis zum Ende; und als wir von einander gingen zu Naumburg auf dem Bahnhofe, war es nicht nöthig, ewige Freundschaft zu schwören, sondern wir wußten, daß wir trotz mancherlei Trennendem im Leben uns gehören würden in der Erinnerung an gemeinsames Streben, Hoffen, Fühlen, Lieben, Leiden. Und das Leben hat es bewahrheitet.

Fast möchte ich glauben, daß keine Freundschaftsbündnisse idealeren Gehaltes sind als die auf der Schule geschlossenen. Das Herz hat noch keine tiefgreifenden Täuschungen erfahren, ist frei von Mißtrauen, giebt sich ganz hin ohne jegliche Berechnung. Vermögens- und gesellschaftliche Verhältnisse bleiben unberücksichtigt, politische oder religiöse Gegensätze sind noch nicht hervorgetreten; die später etwa sich entwickelnden werden von der älteren Freundschaft überbrückt. Einen Adel giebt es nur auf der Schule, aber einen vollwichtigen, eigenserworbenen, von Allen anerkannten: das Wissen und Können.

Die nicht durch eigentliche Freundschaft verbundenen Schüler einer Classe werden doch schon dadurch, daß sie fortwährend durch den gemeinsamen Unterricht auf gleiche Ziele hingewiesen, in Folge dessen in gleichem Interesse erhalten werden, durch eine solche Art von Gleichgestimmtheit der Seelen zusammengehalten, die am besten mit dem Namen Corpsgeist bezeichnet wird. Dieser Corpsgeist hat seine guten und bösen Seiten, aber er bewirkt doch eine gewisse Selbstlosigkeit und Hingabe des Einzelnen an das Ganze, das dadurch besonders den Lehrern gegenübern zu einer undurchdringlichen Phalanx wird.

„Einer für Alle, Alle für Einen“ war bei uns keine Phrase. Ich habe Studentenkrawalle miterlebt, bei deren „Abfassung“ jeder sich zu drücken und aus der Affaire zu ziehen suchte, die Anderen ihrem Schicksale überlassend. Wir Schüler offenbarten uns entweder gemeinsam, oder wir leugneten gemeinsam. Das Letztere zu vertheidigen fällt mir nicht ein, doch möchte ich sagen wie Ovid: – – facto pius et sceleratus eodem (durch dieselbe That ein Frommer und ein Verbrecher). Was war denn aber zu leugnen? Meistens dumme Streiche, Versäumnisse, Verstöße gegen die Hausordnung, die allerdings nichts weniger als mild war.

Wir sollten im Sommer Punkt fünf, im Winter Punkt sechs Uhr aufstehen; wir sollten den ganzen Tag über immer nach der Minute hier oder da sein; wir sollten nach Commando im Freien oder in der Stube sein, ohne Rücksicht auf Baro- und Thermometer; wir sollten auch in der Freizeit nicht außerhalb der Mauern spazieren gehen, nur Sonntags von Drei bis Fünf und die Primaner auch an diesem oder jenem Wochentage auf zwei knappe Stunden; wir sollten nicht rauchen und waren doch achtzehn-, neunzehn-, zwanzigjährige Burschen; wir sollten nicht Karten spielen; Gott weiß, was wir Alles sollten und nicht sollten. Diese strenge Ordnung hatte ja ihren Segen; aber es war doch für Viele nicht leicht sich in dieselbe hineinzufinden. Zumal das Spazierengehen und Rauchen wurde eine Klippe, an der so manches Schifflein sich ein Leck holte, etliche ganz scheiterten. Ein Primaner mit dem Spitznamen „Hatten“, eine Folge seiner etwas stotternden Zunge, hatte angegeben, von einem durchreisenden Onkel nach Naumburg eingeladen worden zu sein. Man geb ihm die Erlaubniß; die Schwindelei wurde entdeckt; er wurde „geschaßt“ (fortgeschickt). Ein Freund schrieb ihm, dem Scheidenden, in’s Stammbuch:

„Hättest Du, edeler Hatten, Dich nicht verheddert, so hätten
Nicht Dich die Kerls[1] gefaßt; und wir hätten dich noch.“

Mit unwiderstehlicher Anziehungskraft lockte der grüne dichte Buchenwald des Knabenberges; wie prächtig und ungestört ließ sich dort im schattigen Versteck eine Cigarre rauchen! Andere konnten nicht Herr werden ihrer Lust, in Almrich eine Partie Billard zu spielen. Almrich! Eisentraut! nimmer verklingende Namen seligen Angedenkens! Dort wurde der erste Pump angelegt, nicht der letzte, die anderen kamen auch wohl ohne unser Gebet.

(Für „Nicht-Pförtner“ sei bemerkt, daß Almrich, eigentlich Altenburg, ein zwischen Pforte und Naumburg liegendes Dorf ist, wo die Primaner ihre selbst von den gestrengen Herren so halb und halb gestattete Stammkneipe hatten und wohl noch haben. Der nun selige Wirth selbiger Kneipe hörte auf den Namen Eisentraut.)

Die Mauer war kein Hinderniß, in’s Freie zu gelangen; wozu hatten wir Turnen gelernt? Außerdem existirte zu unserer Zeit ein Erbschlüssel zu der kleinen Hinterpforte, die aus dem Schulgarten auf den Fußweg nach Almrich führte. Mit Hülfe dieses Schlüssels waren wir, eine ganze Rotte, eines schönen Tages ohne absonderliche Erlaubniß ausgeflogen. Wir nannten dieses unerlaubte Ausgehen „prellen“. Mit Hülfe dieses Schlüssels waren wir eben im Begriff, wieder einzufliegen, als wir dicht vor uns verdächtige Stimmen von Lehrern vernahmen; jedenfalls waren sie jenseit der Thür so nah daran, wie wir, und wollten heraus, wie wir herein. Was nun? Ausreißen war zu spät; sie brauchten nur von innen aufzuschließen und sahen uns laufen.

G., der den Schlüssel führte, steckte schnell wie der Blitz von außen den Schlüssel in’s Schloß und drehte ihn um eine halbe Wendung um, so daß er nicht von dem entgegenkommenden hinausgestoßen werden konnte. Und nun vorwärts, fort, wie flüchtiges Wild die Mauer entlang bis zu einem günstigen und verstecktliegenden Uebersteigungspunkt. Es ist höchste Zeit zur Visitation zurechtzukommen; doch wir kommen zurecht. Inzwischen arbeiten die lieben Herren im Schweiße ihres Angesichtes an dem Schlosse herum; Einer nach dem Anderen probirt, bis denn endlich der Bart los war. Da mußten sie sich bequemen, den weiten Umweg durchs Vorderthor zu machen. G. aber holte sich alsbald nach der Visitation seinen Schlüssel wieder.

Officielle Feste waren des Königs Geburtstag, der 15. October, die beiden sogenannten Bergtage, das Schulfest am 21. Mai. Am letztgenannten Tage fiel die sonst tägliche Morgenandacht aus und die Feier des Tages begann gleich mit dem um acht Uhr stattfindenden Gottesdienste. Es war im Jahre 1859, als am Vorabend des Schulfestes von einem Primaner die illuminirte Idee vorgetragen wurde, die schöne Zeit des kommenden Morgens bis acht Uhr zu einem Ausfluge zu benutzen. Nur wenige schlossen sich aus. Das Gros stand anderen Tages Punkt vier Uhr marschfertig vor dem großen Portal. Einer von uns, der Verführer selbst, ein passionirter Hornbläser, der außer in der Schule selten ohne sein Horn zu treffen war, hatte den Uebermuth, vor dem Portale das militärische Signal des Aufbruches zu blasen.

„Meine Herren,“ redete er uns dann mit komischem Pathos an, „wenn es Ihnen, wie vorauszusetzen, interessant sein sollte zu wissen, wohin im Rathe der Olympier diese Reise zu machen beschlossen ist, so habe ich die Ehre Ihnen zu eröffnen, daß die befragten Eingeweide des Opfertieres zweifellos auf einen Rudelsburger Frühschoppen deuten. Die Vorzeichen sind günstig. Quin, ascendamus equos!“ (Wohlan, besteigen wir die Pferde!)

Sprach’s und blies in das Horn zum andern Male, und „Hurrah“ scholl’s antwortend zurück. Fort ging’s in rüstigem Eilschritt. Es war ein wonniger Morgen, dichter Nebel im Saaltal. Während unseres Marsches wurde es Tag. Nach fünfviertelstündigem Marsche lag im rosigsten Glanze des Frührothscheines unser Ziel, die alte, liebe Rudelsburg, vor uns. Unser jovialer Mundschenk, der alte Samiel, eine vielgekannte Persönlichkeit, mußte geahnt haben, daß an solchem Morgen auf sehr frühe Gäste zu rechnen sei. Er kam uns grüßend entgegen.

„Guten Morgen, meine Herren!“

„Morgen, Samiel – vierzig Kannen Bock, desgleichen Butterbrod und Schinken!“

Schnell stand der Imbiß vor uns; noch schneller verschwand er durch die hungrigen und durstigen Kehlen.

„Samiel, das Fremdenbuch!“

Es wurde gebracht.

„Sechs Uhr Morgens, am einundzwanzigsten Mai, im Jahre des Heiles neunundfünfzig im neunzehnten Jahrhundert. Es grüßt vierzigstimmiger Gruß dich, Rudelsburg, altes Gemäuer. ‚Vierzig?‘ fragst du; ‚woher kommt ihr Gesellen so früh?‘ Höre, doch schweige! Wir sind – nun? – strebsame Kinder der Pforte. Mütterchen schläft noch; sie hat dessen begründetes Recht, denn sie ist nicht mehr jung; heute feiert sie ihren Geburtstag, den dreihundertsechszehnten; da schien’s heilige Pflicht uns zu sein, daß wir nicht stören den Schlaf der Mutter, unserm Drange, laut zu jubeln,

  1. Kerls war der respectwidrige Gemeintitel unserer Herren Lehrer.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_647.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)