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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Muldenthales, Alles wirkte wohlthätig auf Stolle’s Geist, Herz und Gemüth ein. Anderthalb Jahre lang schrieb er hier den „Literarischen Hochwächter“ und unterstützte den Herausgeber verschiedener Journale durch mancherlei publicistische Arbeiten.

Nebenbei erschienen aus seiner Feder eine Sammlung von Novellen und Erzählungen, ein Bändchen „Poesie und Humor“, sowie eine lyrische Anthologie, die sich Leipziger Verlagshandlungen aneigneten und gut honorirten. Großen Beifall errang sich der dreibändige Roman „1813“, sowie später „Elba und Waterloo“, nicht minder der Roman „Der Weltbürger“. An denselben reihte sich „Der neue Cäsar“, ein Gegenstück zu „1813“, welcher die Jahre 1804 und 1805 behandelt. Von sämmtlichen vier geschichtlichen Tableaux sind holländische Uebersetzungen erschienen; ein Theil derselben wurde in’s Französische und „1813“ in’s Englische übertragen. Ein Nachdruck der „Ausgewählten Novellen und Erzählungen“ entstand zu Philadelphia in Nordamerika. Von 1838 an führte Stolle die Redaction des Leipziger Modeblattes „Eilpost für alle Moden“, und der Humor, welcher sich bereits in vielfachen Erzählungen, Novellen und Phantasiestücken kundgegeben, brach in vollem Glanze hervor, als 1841 seine „Deutschen Pickwickier“ erschienen. Es war dieses dreibändige Werk nach Analogie des englischen Werkes von Boz abgefaßt, und der allgemeine Beifall, den sich der Verfasser mit demselben errang, war wohl Ursache, daß das Publicum seine im Jahre 1844 gegründete Zeitschrift „Der Dorfbarbier“ mit einem wahren Jubel aufnahm. Das Blatt erschien anfänglich in Grimma, „grau wie alle Theorie“, auf Löschpapier gedruckt. Dies hemmte aber nicht seine Beliebtheit, und in Sachsen, wie namentlich auch in Schlesien, gab es keine Dorfschenke, wo nicht der „Dorfbarbier“ zu finden war. Er wanderte ebenso gut auf das Rittergut und in die Pfarre, wie in das Forsthaus und in die Hütte des Landmannes.

Mit Freuden erinnere ich mich noch einer auf den Dorfbarbier bezüglichen kleinen Scene. Ich verweilte zu jener Zeit einen Tag lang zum Besuche in Oberspaar bei Meißen, wo ich mit einem Winzer ein Gespräch anknüpfte. Dieser äußerte den Wunsch, daß er sich glücklich schätzen würde, einmal den Schreiber des „Dorfbarbier“ zu sehen. „So spaßig, so gemüthlich und politisch, wie man’s gern hat; – ’s is in der Schenke zu Zaschendorf für uns allemal ein Festtag, wenn’s Blättel ankommt.“

Ich mußte ihm das Aeußere und Wesen des so Verehrten beschreiben, und als ich geendet, brach er in die Worte aus:

„Ach, ich möchte ihm gern eine Freude machen, so ein Plaisir! Sie haben heute Mittag die große schöne Weintraube an meinem Geländer gesehen, ein wahres Wunder, seit Jahren nicht dagewesen. Ich wollte sie dem Herrn Amtmann in Meißen zum Präsent machen; wenn ich aber wüßte, daß der Herr Dorfbarbier sie von mir als ein kleines Geschenk annehmen würde, ach, dies … würde mich unendlich freuen!“

Ich drückte dem einfach schlichten Manne die Hand und versprach ihm, die Absendung zu übernehmen. Kaum war das letzte Wort über meine Lippe, als er seine Holzpantoffeln abstreifte und sich seiner baumwollenen Aermeljacke entledigte. Eilenden Fußes entfernte er sich stillschweigend und kehrte erst nach Verlauf von zwei Stunden zurück. Er hatte zum Transport in Meißen eine große, weiße Holzschachtel gekauft. Die Weintraube von seltener Größe wurde abgeschnitten, sauber in Blätter gehüllt und – schon am andern Tage traf das Geschenk in Grimma ein. Ein mitfolgender Brief von meiner Hand gab vollständigen Aufschluß. Der Empfang bereitete dem „Dorfbarbier“ wahrhaft glückliche Momente.

Stolle gedachte des kleinen Intermezzos noch, als von Leipzig aus ihm etliche seiner Freunde einmal einen Besuch abstatteten. Ein lustiger Kumpan und Freund der schönen Literatur hatte in der Lotterie fünfzig Thaler gewonnen. Diese bestimmte er zu einer Fahrt per Omnibus nach Grimma, um den „Dorfbarbier“ zu überraschen. Früh um sieben Uhr bestiegen in höchst gemüthlicher Laune der Dichter und Romanschreiber Karl Herloßsohn, Eduard Maria Oettinger, Redacteur des „Charivari“, Adolf Böttger, der bekannte Byron-Uebersetzer und lyrische Dichter, Nicolay, der Componist der „lustigen Weiber von Windsor“, welcher sich zufällig in Leipzig befand, sodann Ballmann, der Komiker des Leipziger Stadttheaters, ein Maler, ein Tonkünstler und meine Wenigkeit den Wagen. Es war eine heitere Fahrt. Jeder fechtende Handwerksbursch, welcher des Weges kam, empfing ein Viergroschenstück und eben so viel jede arme, alte Frau. Den besten, unerwarteten Fang machten in der Schenke zu Pomßen zwei reisende Harfenmädchen. Als sie die frohe Schaar einkehren sahen, lüfteten sie schnell die graue Leinwandhülle ihrer Instrumente und fingen an zu spielen. Bei den ersten Tönen begann unter uns eine allgemeine Heiterkeit; es erklang das Lied: „Wenn die Schwalben heimwärts zieh’n!“ Die Harfenistinnen ahnten nicht, daß sie den Dichter dieses Liedes, Karl Herloßsohn, vor sich hatten, der jetzt vorschlug, daß man einer Jeden für diese „wahrhaft künstlerische Leistung“ einen Gulden aus der bewußten Lotteriecasse verabreiche.

Zu Grimma angekommen, stiegen wir sämmtlich im Rathskeller ab; es wurde ein splendides Mittagsmahl bestellt und ein Bote an Stolle abgeschickt. Unterdessen – wir befanden uns Alle im obern Saal – verfiel Einer in toller Laune auf den Gedanken, die im Vorsaal stehende lange Bank hereinzuholen, und Mann an Mann mit Servietten um den Hals darauf zu setzen, wie Leute, die barbiert sein wollen. So sollte der „Dorfbarbier“ empfangen werden. Lustig ging es an die Ausführung. Anstatt einer Serviette hatte aber Ballmann ein weißes Betttuch übergehangen; noch Einige ahmten dies nach, was die Veranlassung zu einem ungeahnten Scherz gab. Ab- und zugehend waren die Verhüllten in dieser Costümirung an die Fenster getreten, was die Neugier Aller erweckte, die unten vorübergingen. Die Schaar wuchs von Minute zu Minute und – war es Combinationsgabe oder Laune eines Spaßvogels? – es ging die Kunde: „Die Beduinen, welche auf dem Leipziger Theater Vorstellungen gegeben, sind in Grimma angekommen; sie tanzen morgen auf dem Rathskeller. Seht nur, dort oben, da stehen so ein Paar Kerle mit schwarzen Bärten.“ Als sie nun den Dr. Stolle ankommen sahen, den Zeitungsschreiber, da war kein Zweifel mehr vorhanden. Bei Stolle’s Eintritt saßen wir sämmtlich auf der Barbierbank. Die freudige Ueberraschung läßt sich kaum mit Worten schildern; er erlebte einen seiner glücklichsten Tage und wir Alle mit ihm. Zur Tafel ließen wir den Stadtmusikus Hesse mit seinen Leuten kommen. Musik und ein wahrer Sprühregen von kleinen, witzerfüllten Toasten würzten das Mahl.

Allesammt spazierten wir später nach dem Hause des alten Freundes, das er sich als Eigenthum erworben. Wir sahen im Garten den Apfelbaum, dessen Blüthezeit sein Besitzer oftmals so dichterisch geschildert. Ruhig strömten die Wellen der Mulde an dem Gärtchen vorüber; ein wahrhaft seliger Friede beherrschte das kleine Tusculum. „Ja, hier ist Klima für das Herz!“ flüsterte Herloßsohn. Er dachte vielleicht an das Geräusch und den Trubel in der Hainstraße zu Leipzig, an die lästigen Besuche fremder Künstler, an die Heimsuchungen fahrender Literaten und was sonst noch Alles den Frieden des Hauses und der Seele behelligt. Wir genossen später auch die schöne Aussicht von der Gattersburg. Ein wahrhaftes Stück Idylle! Von Allen, die damals auf jener Höhe weilten, lebt außer dem Schreiber dieser Zeilen nur noch Einer.

Wenn der Wein reift und ich eine Frucht desselben in seltener Größe erblicke, gedenke ich jener freundlichen Gabe, die den wackern Stolle mehr erfreute, als wenn er eine goldene Tabaksdose empfangen hätte.

Stolle war Humorist in des Wortes schönster Bedeutung und mir ist es schon oftmals begegnet, daß irgend Einer die Frage aufwarf: „Wie kann Einer, der religiöse Lieder dichtet, auch anderwärts in seinen Schriften humoristisch sein? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht schwer. Nur der Religiöse kann, wenn ihn der Blitz des Muthwillens entzündet, wahrhaft witzig sein. Nur dem reinsten Ernste ist reiner Scherz möglich, weil sich im reinsten Menschen, das heißt im Dichter, die scheinbaren Gegensätze in uralter Liebe umfassen und Ernst und Scherz, Andacht und Muthwille nicht feindlich widerstrebende Stoffe sind.

Wer dies nicht beobachtet, der wird frivol, wie dies leider in unserer ätzenden und zersetzenden Zeit unter Schriftstellern vorkommt, von denen etliche nicht unterlassen, das Gefühl lächerlich zu machen. Hiervon blieb Stolle fern, und wenn sein Witz auch einmal auf Abwege gerathen sollte, bösartig war er nie. Wie vortrefflich war überhaupt sein Charakter! Seine Herzensgüte hatte stets eine Thräne für den Leidenden, einen Rath für

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 629. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_629.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)