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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


hatte er seinem Schüler nichts mehr mitzutheilen. Die Erziehung des Violinisten war nunmehr beendigt, die des Künstlers sollte jedoch erst beginnen.

In den dreißiger und vierziger Jahren war Leipzig der unbestrittene Vorort deutscher Musik, für alles frischere, kräftigere Leben, das sich in ihr regte, der Licht und Wärme spendende Mittelpunkt. Wien, ehedem die stolze Königin im Reich der Töne, fand allein noch Genuß und Befriedigung in den süßen Sirenengesängen üppigster Sinnlichkeit. Auf demselben Schauplatz, für welchen Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert so viele ihrer edelsten Werke geschaffen, tummelten sich die italienische Oper, das concertirende Virtuosenthum und der Strauß’sche Walzer, während die großen Todten vergessen in ihren Gräbern ruhten. Was die neue Zeit an musikalischem Productionsvermögen besaß, hatte sich in Mendelssohn und Schumann zu einer Fülle schöpferischer Thaten zusammengefaßt. Beiden war Leipzig die zweite Heimath geworden. Dort wirken sie durch Wort und Beispiel; dort strömten in dem neu errichteten Conservatorium der Musik wie in den altberühmten Gewandhausaufführungen, dem vornehmsten Hort und später vielfach nachgeahmten Muster alles gediegenen Concertwesens, die reinsten Quellen künstlerischer Belehrung und Anregung. Eine Cousine Joachim’s, mit der er früher die Beethoven’schen Sonaten fleißig geübt, hatte sich nach Leipzig verheirathet. Nicht genug wußte sie von den musikalischen Herrlichkeiten an den Ufern der Pleiße zu berichten, und jeder ihrer Briefe war ihm ein lockender Mahnruf in die Ferne, auf welchen seine innere Stimme immer lauter antwortete. Zuletzt konnte er nicht länger widerstehen; ungeachtet des Einspruchs seiner Oheime, griff er zum Wanderstab und zog frohen Muthes hinaus in’s Reich.

Aus den Briefen Mendelssohn’s weiß man, wie viel er seinen jüngeren Kunstgenossen gewesen, welchen treuen Freund und unermüdlichen Förderer jedes ernstere Streben in ihm gefunden. Auch den dreizehnjährigen ungarischen Geiger, dessen echt künstlerische Signatur sein scharfes, menschenkundiges Auge auf den ersten Blick erkannte, nahm er in der liebevollsten Weise bei sich auf. Unablässig stand er ihm mit Rath und That zur Seite. Auf Schritt und Tritt begleitete ihn seine väterliche Fürsorge. Fast täglich mußte sein kleiner Posaunenengel, wie er ihn scherzhaft nannte, mit ihm musiciren. Er eröffnete ihm das Verständniß der Meister, machte ihn zum Augenzeugen seines eigenem Schaffens, überwachte seine Uebungen in der Composition und ließ ihn unter David’s Leitung in den Stil der Spohr’schen Schule einführen. Und nicht allein die musikalische Entwickelung seines Schützlings lag ihm am Herzen, er trug auch Bedacht, daß es der jungen Seele an allgemein geistigem Bildungsstoff nicht fehlte.

Joachim hatte weder in Pest noch in Wien irgend eine höhere Bildungsanstalt besucht, sondern sich seinem Violinspiel ausschließlich dahin gegeben, nur ganz nebenher die für das praktische Leben allerunentbehrlichsten Elementarkenntnisse sich angeeignet. Auf Mendelssohn’s Geheiß, der ihm auch die passenden Lehrer wählte, trieb er nun emsig Latein, Geschichte, deutsche Literatur und neuere Sprachen. Mehr noch als alle diese Studien förderte ihn der ununterbrochene persönliche Verkehr mit dem Meister. Wie eifrig er gestrebt, dem hohen Vorbild in jedem Stücke ähnlich zu werden, dafür zeugt unter Anderem auch der äußere Umstand, daß seine Handschrift bis auf den heutigen Tag eine täuschende Aehnlichkeit mit der Mendelssohn’schen aufweist. Von Mozart und seinem Schüler Süßmayer wird uns bekanntlich die gleiche Thatsache berichtet.

Bereits im Winter 1844 spielte Joachim öffentlich in Leipzig, und im nächsten Jahre folgte er Mendelssohn nach London. Das Allerheiligste des englischen Concertwesens, der Saal der Philharmonischen Gesellschaft, dessen Schwelle ein streng verclausulirtes, jedem Wunderkind den Zutritt untersagendes Statut behütete, sollte sich ihm dort erschließen. Es geschah freilich erst, nachdem der Componist des Paulus sein Wort verpfändet, daß in dem halbwüchsigen Jüngling ein voller und ganzer Künstler steckte. Durch den Vortrag des Beethoven’schen Concerts legte Joachim damals den Grund zu seiner außerordentlichen Popularität jenseits des Canals. Manche Londoner Saison hat ihn seitdem als hochgefeierten Gast gesehen.

Nach Leipzig zurückgekehrt, trat er in die Gewandhauscapelle, zu deren Obliegenheiten auch die Mitwirkung in der Oper gehört. Reichliche Gelegenheit bot sich ihm hier, das Orchester als Ganzes, wie die Natur jedes einzelnen Instrumentes kennen zu lernen. Im Herbst 1849 ging er mit dem Titel eines Concertmeisters nach Weimar, wo Liszt als allmächtiger Liebling des Hofes schaltete, das gesammte musikalische Jungdeutschland um sich versammelte und durch die Macht der Töne den Glanz verschwundener Tage der kleinen großherzoglichen Residenz zurückzugeben trachtete. Nicht lange fesselte unseren Künstler der neue Wirkungskreis; schon 1851 folgte er einem Rufe nach Hannover, durch welchen ihm die oberste Leitung der dort im Laufe jedes Winters veranstalteten Symphonieconcerte übertragen wurde. Er vermählte sich 1863 mit Amalie Weiß, damals erster Sängerin des Hoftheaters, und siedelte, als der preußisch-österreichische Krieg den welfischen Königsthron hinweggefegt, nach Berlin über. Auf’s Mannigfaltigste und Eingreifendste hat er seitdem an dem Tonleben der neuen Heimath sich betheiligt, sowohl im Concertsaal, wie als oberster Leiter einer aus Staatsmitteln in Berlin begründeten Hochschule der Musik.

Kaum zwei Jahre ist es her, daß er in der letzteren Eigenschaft mit seinem Vorgesetzten, dem Cultusminister von Mühler, wegen der von diesem eigenmächtig angeordneten Entlassung eines Lehrers der Anstalt hart zusammen gerieth. Obgleich zu jener Zeit der französische Krieg die öffentliche Aufmerksamkeit in athemloser Spannung erhielt, machte die Sache doch gar viel von sich reden. Sie trug den Namen des der Welt und ihren Händeln gänzlich abgekehrten Künstlers mitten hinein in die politischen Parteikämpfe und kam selbst auf dem Landtag zur Sprache. Der von seiner häuslichen Egeria übel berathene Staatsmann wurde bekanntlich von dem Musiker völlig aus dem Felde geschlagen und mußte zu seiner Niederlage noch manche Spötterei mit in den Kauf nehmen.

In dem gesammten Virtuosenthum der Gegenwart nimmt Joachim den ersten Platz ein. Bildet die eigentliche Seele aller musikalischen Darstellung, mag ihr die menschliche Stimme oder ein Instrument zum Organ dienen, die Erzeugung des Tones, so ist es denn auch dieser zumeist, der durch seine vornehme Größe, fleckenlose Schönheit und lebendige Ausdrucksfähigkeit dem Spiel unseres Geigers das charakteristische Gepräge giebt. In allen Lagen, vom tiefen Brustregister der G-Saite bis hinauf zum höchsten Flageolet, in sämmtlichen Stärkegraden, selbst noch im wuchtigsten, die vereinigten Gewalten des Orchesters beherrschenden Fortissimo, wahrt er den ihm eingeborenen Adel. Hand in Hand damit geht eine durch keine Zumuthung außer Fassung zu bringende Fertigkeit. Wie von selbst gleiten ihm die schwierigsten Wagnisse von den Saiten. Stets bleibt die Intonation glockenrein, die Gliederung der Passage klar und durchsichtig bis hinab in die kleinste Einzelheit. Was endlich die Hauptsache ist, dieses gesammte goldene Rüstzeug einer unfehlbaren Technik steht lediglich im Dienste eines überall auf das Ideale gerichteten künstlerischen Willens. Unerschütterliche Treue, schlichteste Wahrhaftigkeit gegenüber dem in Tönen zu offenbarenden geistigen Inhalt, sie sind das Element, in dem der Joachim’sche Vortrag lebt und athmet, aus welchem er seine ganze Kraft schöpft. Nirgends erscheint das Antlitz des Meisters, um den es sich gerade handelt, durch subjective Gefühlszuthaten verhüllt oder geschminkt, immer ist es das eigenste Wesen der Aufgabe, das wir ohne Zuschuß und ohne Abzug empfangen. Wie hier der Virtuose gänzlich aufgeht im Künstler, zeigt sich auch in der Wahl der Werke, mit denen er vor das Publicum tritt. Keine Rücksicht auf den äußeren Erfolg kann ihn dazu verführen, seine Hand nach jenen musikalischen Modefabrikarbeiten auszustrecken, die nur das Bravourbedürfniß des Spielers in Nahrung setzen sollen, bei denen der persönliche Vortheil einziger Zweck ist und die Composition nur den Vorwand hergiebt.

Ihre reichsten und gediegensten Schätze hat die Violinliteratur innerhalb des Streichquartetts aufgehäuft; seine unausgesetzte Pflege liegt deshalb auch Joachim vor Allem am Herzen. Er ist der Mittelpunkt eines Vereins von Künstlern, der Jahr aus, Jahr ein Haydn’s, Mozart’s, Beethoven’s, Schubert’s, Mendelssohn’s und Schumann’s Meisterwerke dieser Gattung darbietet. Für den Andrang zu den von ihm veranstalteten Aufführungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 612. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_612.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)