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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Gemüth gepflanzt. Wie soll also Gegenliebe zu den Eltern entstehen? Von nichts als Hohlheit und Lüge umgeben, vom ersten Erwachen des Bewußtseins an Zeuge des zerrissenen Familienlebens, der gegenseitigen Untreue der Eltern, ihres Betrugs in Handel und Wandel, ihrer Verachtung aller moralischen Grundsätze, alles Rechts und Gesetzes, wenn nur ihre Habsucht und ihre Begierden befriedigt werden können – wie kann ein Kind in einer solchen verdorbenen Atmosphäre aufwachsen, ohne bis in’s innerste Wesen hinein angefressen zu werden und schließlich den Weg des Lasters und Verbrechens zu betreten? In solchen Familien hört das wahre natürliche Verhältniß zwischen Eltern und Kindern auf; die Gefühle kindlicher Liebe und Achtung können da nicht gedeihen, und fühlt das Kind sich erst selbstständig – was hier sehr früh der Fall zu sein pflegt –, dann steht es nur zu häufig den Eltern als Fremder gegenüber, und es bedarf oft nicht langer Zeit und nicht vieler Umstände, um die schwachen Fäden zu zerreißen, die beide noch, vermöge der leiblichen Abstammung, an einander ketten. Losgelöst von allen religiösen und moralischen Grundlagen, sinkt das Familienleben zu einem blos äußerlichen, sinnlichen Zusammensein herab, dem jede höhere sittliche Verbindung der einzelnen Glieder unter einander völlig fehlt. Ist der Nestling einmal flügge geworden, dann kennt er die Alten nicht mehr. Und was die Erziehung im Elternhause versäumt hat, holt die Erziehung in der Schule nicht nach. Niedere und höhere Bildungsanstalten geben in der Regel nichts als den oberflächlichsten Bildungsfirniß, ohne es im Geringsten auf wahre gründliche Entwickelung des Geistes oder gar des Gemüthes anzulegen.

So wächst der größte Theil der Jugend auf, und wenn die Zeit kommt, die nach unsern Begriffen für den Jüngling die Zeit des reinsten, edelsten Strebens sein soll, die goldene Zeit der Ideale, wo Begeisterung für alles Schöne und Gute die jugendliche Brust schwellt: da steht der arme junge Mann da, im besten Falle ein kalter Geschäftsmann, der nie ein jugendliches Gefühl empfunden hat, oder ein vollendeter Materialist, der im habgierigen Jagen nach dem Dollar oder im wüsten Rennen nach sinnlichem Genuß seine einzige Befriedigung sucht, im schlimmsten Fall aber ein total ruinirter Wüstling, für den es nichts mehr zu genießen giebt, oder ein verhärteter Bösewicht, der dem ergrauten Dieb und Mörder, der ihn in den Wegen des Verbrechens unterrichten will, lachend ein Schnippchen schlägt und sich ihm als Lehrmeister anbietet. Aus dem Sumpfe dieser unserer moralisch völlig verrotteten fashionablen Gesellschaft steigen dann nicht vereinzelt, sondern in erschreckend zunehmender Anzahl solche Ungeheuer auf, wie der neunzehnjährige Vatermörder Walworth. – Und wo ist der St. Georg, um diese Lindwürmer unschädlich zu machen und das Land von ihnen zu befreien? Wo ist die Gerechtigkeit, die mit Wage und Schwert dem Verbrechen entgegentreten soll? Was man hier Gerechtigkeit nennt, ist wohl auch eine blinde Göttin und ihre Diener sind’s meistens nicht minder; aber blind nur gegen den reichen und angesehenen Verbrecher, blind gegen klare Beweise und Thatsachen, wenn nur ein geschickter Advocat sein Netz von Intriguen und Sophismen darüber werfen kann, blind gegen Wahrheit und Recht. Aber das Gold, das der Millionär in der Hand hält, die Stellen und den Einfluß, die der Politiker, der Demagog zu vergeben hat, die sieht das scharfe Auge dieser Priester der Gerechtigkeit ganz vortrefflich; so geschieht es, daß in vielen Fällen der Arme schwer, ja gar nicht zu seinem guten Rechte kommt, während der reiche Verbrecher frei und triumphirend ausgeht. Ist es doch vielfach so weit gekommen, daß die Idee, einen reichen Mörder zur Strafe zu bringen, förmlich verlacht wird. Wie kann da Achtung vor dem Gesetz bestehen? Kein Wunder, wenn jede Schranke schließlich fällt und das Verbrechen, im Bewußtsein seiner Straflosigkeit, sich als Macht im Staate fühlt, die unter Umständen unantastbar ist.

Diese beiden Factoren: Mangel an wahrer Erziehung und Straflosigkeit des Verbrechens, erklären Erscheinungen, wie die in diesem Artikel geschilderte, und bis diesem doppelten Krebsschaden gesteuert ist, wird unsere Republik immer erschreckendere Beiträge zur Verbrecherchronik der Menschheit liefern.



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Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
XI.


Dienstags den 7. November von 1775 Morgens fünf Uhr langte der Dichter in Weimar an und fand zunächst im Hause des alten Kammerpräsidenten von Kalb Herberge. Sein Aufgang war, dem Zeugnisse Knebel’n zufolge, wie der „eines Sterns“. Jedenfalls ist es ein culturgeschichtliches Ereigniß gewesen, daß ein junger Stürmer und Dränger in der Wertherstracht – (blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Kannevasweste, weiße Lederbeinkleider und Stiefeln mit gelbbraunen Stulpen) – in einen der bisher chinesisch um- und abgemauerten deutschen Hofkreise einbrach und jedermänniglich und jederweibiglich ad oculos demonstrirte, das „Von Genius’ Gnaden“ sei dem „Von Gottes Gnaden“ ebenbürtig, zum mindesten ebenbürtig. Es scheint sehr lächerlich, ist es aber nicht, wenn ich sage, daß das Smollis, welches Karl August seinem Gaste Wolfgang antrug, ein Stück socialer Revolution gewesen sei. Es war das in Wahrheit eine deutschburschikose „Erklärung der Menschenrechte“, und zwar erlassen vor jenem 4. Juli von 1776, an welchem die Amerikaner die ihrige ausgehen ließen in eine hoffnungsvoll aufathmende und die neue frohe Botschaft gläubig empfangende Welt. Ein regierender deutscher Herzog – und wär’s auch nur ein Herzog von Lillipuzien oder Miniaturia – mit einem Frankfurter Bürgerssohn auf du und du – nein, so was war noch nicht dagewesen! Von rechtswegen hätte sich darob das ganze Junkerthum auf den Kopf stellen und mit zappelnden Beinen gegen sothane Ketzerei protestiren müssen. Sehr möglich auch, daß ein solcher Protest im stillen Kämmerlein mitunter von denselben Hofjunkern erhoben wurde, welche dem Smollisbruder ihres herzoglichen Herrn öffentlich noch so eben ihre Verehrung gezollt hatten. Gewiß ist jedenfalls, daß Goethe’s Glück bei Hofe viel Neid von der grüngelbsten Sorte weckte.

Und wie war es denn eigentlich mit dem „Glück bei Hofe“? Gar nicht so glänzend, wie die Neidharte sich’s einbilden mochten. Der Mensch Goethe hat ja, wie wir’s uns bereits früher von ihm sagen ließen, sein wirkliches und eigenstes Glück nur in seinem „dichterischen Sinnen und Schaffen“ gesucht und gefunden. Aber wir wissen auch, das Hofglück war ihm viel häufiger eine schwere Last als eine leichte Lust. Noch mitten im Saus und Braus der weimarer Kraftgeniezeit[1] hat er einmal schmerzlich-zornvoll ausgerufen: „Der Fluch, daß wir des Landes Mark verzehren, läßt keinen Segen der Behaglichkeit aufkommen!“ Aber warum betheiligte er sich an dieser Zehrung? Warum ist er überhaupt zu Hofe gegangen? Warum hat er serviler Weise dort ausgehalten, wenn es ihm nicht gefiel? fragt Reptilius Demophiles mit hoch emporgezogenen Brauen und tief herabgezogenen Mundwinkeln. Guter Reptilius, es ist nicht jedermanns Sache, im Staube zu kriechen wie du, das Paradies in der Kafferei zu suchen und die Majestät des Menschenthums in Pöbelkneipen thronen zu sehen. Der Goethe war nun einmal eine vornehme Natur und blieb es auch dann immer noch, wann er, wie er später that, in den „Wanderjahren“ seines Wilhelm Meister mit der prophetischen Vorwegnahme des echten Dichters und Zukunftssehers stark socialisirte und im zweiten Theile der Faustdichtung herrlich das Evangelium der Arbeit verkündigte, dessen werkthätiger Apostel er übrigens all sein Leben lang gewesen und geblieben ist.

Und wo sollte denn ein Mensch, der dazu gemacht war, auf der Menschheit Höhen zu leben, diese im damaligen Deutschland suchen? Seht euch doch das unendliche Jammersal der deutschen Gesellschaft von damals etwas näher an! Ein Chaos von Verrottung da, von unklarer Gährung dort. Die Bauerschaft kaum dem Halseisen der Hörigkeit entschlüpft, das

  1. Vorlage: „Krafgeniezeit“
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_586.JPG&oldid=- (Version vom 29.9.2019)