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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


eröffnet und ließ aus dreihundert zu dem Zwecke anwesenden Bürgern eine Jury wählen. Das Gericht hatte sich constituirt und war bereit, die Klage zu vernehmen. Da erhob sich Herr O’Connor und trug auf Vertagung an, indem die Vertheidigung noch nicht bereit sei und einer weiteren Consultation bedürfe. Das Gesuch wurde bewilligt; der Richter vertagte die Verhandlungen bis auf Mittwoch, den 25. Juni. Die neugierige Menge mußte unbefriedigt nach Hause gehen.

Frank Hardin Walworth, der Vatermörder, war der älteste Sohn von Mansfield Tracy Walworth, einem Novellenschriftsteller von einigem Rufe. Die Familie Walworth gehörte zu den besten und angesehensten im Lande. Der Vater des Ermordeten war Kanzler Walworth, einst der hochgeachtete, würdige Oberrichter des Staates New-York, gewesen, dessen Verbindungen und Stellung dem Sohne eine glänzende Laufbahn eröffneten, ohne daß jedoch derselbe bei seinem excentrischen Charakter von diesen Vortheilen, trotz seiner großen Talente, Gebrauch gemacht hätte. Der Kanzler hatte endlich bei seinem Tode den so ganz mißrathenen Sohn unter die Vormundschaft seines Bruders Clarence eines katholischen Priesters, gestellt, der sich seitdem als Haupt der Familie betrachtete und dadurch den ehrgeizigen Mansfield auf’s Tiefste kränkte. Dieser hatte im Jahre 1852 die Tochter des Generals Hardin, der während der Rebellion gefallen war, geheirathet, ein stolzes, grundsatzloses Weib, deren südliche Sympathien sie während des Krieges in hochverrätherische Verbindungen mit den Rebellen verwickelt hatten. Die Ehe war wie tausend andere in den sogenannten aristokratischen Kreisen Amerikas. Ohne gegenseitige Zuneigung, Achtung und Treue ging Mann und Frau, jeder Theil seinen eigenen Weg. Die Kinder waren selbstverständlich die unmittelbaren Opfer dieses zerrissenen, verrotteten Familienlebens. Bei der kalten herzlosen Mutter lebend, wurde ihnen von Kindesbeinen an Haß gegen den Vater gepredigt, der bei all’ seiner moralischen Verkommenheit und oft an Wahnsinn grenzenden Heftigkeit doch im Grunde weit mehr bessere Eigenschaften und Gefühle gehabt zu haben scheint als die ganze übrige saubere Familiensippschaft zusammengenommen.

Im Frühjahre 1871 erfolgte endlich eine legale Scheidung; Walworth lebte seitdem meist in New-York von schriftstellerischen Arbeiten; seine geschiedene Frau hielt in Saratoga, dem bekannten fashionablen Badeorte, ein Pensionat für junge Damen. Walworth hatte schon vor seiner Scheidung sich höchst gewaltthätige Scenen mit seiner Frau zu Schulden kommen lassen, so daß diese sich selbst einmal genöthigt gesehen hatte, ihren Sohn Frank zu ihrem persönlichen Schutze herbeizurufen. Trotzdem hatte sich Letzterer, nach Aussage der Mutter selbst, stets ruhig und höflich gegen den Vater benommen, trug indeß seit jenem Vorfalle beständig einen geladenen Revolver bei sich, um, wie er behauptete, sich und die Mutter zu schützen. Nach erfolgter Trennung schrieb Walworth häufig an seine Frau, in einer Weise, die nur zu deutlich den völlig krankhaften Seelenzustand des unglücklichen Mannes zeigte, welcher, von seiner ganzen Familie verstoßen, an Allem verzweifelnd, sich in seinen Briefen den Ausbrüchen der wildesten Leidenschaft überläßt und der dabei freilich häufig jede Grenze, die Anstand und Sitte gebieten, überspringt. Bald ist es glühende Liebe, bald tödtlicher Haß, die das zerrissene Gemüth mit der Gewalt des Wahnsinns erfassen und es wie ein steuerloses Wrack auf dem wilden wogenden Meere dem Alles verschlingenden Abgrunde entgegentreiben. Einige Stellen aus seinen letzten Briefen beweisen dies klar genug.

„Das verzehrende Fieber verläßt mich,“ schreibt er einmal, „und in wenigen Tagen werde ich ausgehen können. Ich werde bei meinen Kindern vorsprechen. Mein Herz sehnt sich nach deren Liebe. Ich werde die Kinder im Frieden sehen, wenn es möglich ist. Ich werde sie sehen, und sollte eine Tragödie davon die Folge sein. Papistische Grausamkeit (dies bezieht sich auf seinen ihm verhaßten Onkel, den Priester Clarence) muß sich vor der Liebe und Sehnsucht des Vaters beugen, oder der Name der Walworth wird in Blut untergehen. Halte Frank aus meinem Wege! Du hast ihm Haß gegen mich eingehaucht; seine Gegenwart ist mir lästig und würde nur zur Tragödie reizen. Ich will nur meine kleinen Mädchen sehen und Euch dann im Frieden verlassen. Ich muß meine Kinder sehen, und wehe Dir, wenn Du sie im Haß gegen den Vater erziehst! Gott ist mein Anwalt, nicht der brutale, unerbittliche Gott, den Du und der Priester, mein Bruder, verehrt, sondern der Gott, der die Liebe zu meinen Kindern in mein Herz pflanzte, und der dem seiner Jungen beraubten Tiger zuruft: ‚Tödte!‘ … Sollte ich von den unschuldigen Lippen meiner Kleinen hören, daß Du auch in ihre Herzen den tödtlichen Haß gegen ihren Vater gepflanzt hast, dann werden zwei Schüsse durch jenes Haus schallen; der eine wird Dich, der andere mich in die Ewigkeit senden.“

In einem andern Briefe flucht er seinem todten Vater, weil er ihn unter die Vormundschaft des Pfaffen gestellt, und droht mit blutiger Rache, wenn die Familie es versuchen werde, ihm sein Erbtheil gänzlich zu entziehen, in Ausdrücken, die so maßlos brutal sind, daß die Feder sich sträubt, sie wiederzugeben. „Ich werde die Knaben (Frank und Tracy) tödten, des im Grabe ruhenden Schurken Pläne kreuzen und seinen Namen vom Erdboden vertilgen,“ so schließt der Brief, dessen Inhalt auf die momentan sicher an Wahnsinn grenzende Erregtheit des mit Allem zerfallenen, moralisch banquerotten Schreibers schließen läßt. Da aber von seiner Seite niemals ein Versuch gemacht wurde, diese Drohungen zu verwirklichen, so darf wohl geschlossen werden, daß es dem Unglücklichen, wenn der Sturm ausgetobt hatte, nicht so ernstlich damit gemeint war, oder daß er vielleicht gar nicht mehr Energie genug besaß, seine Worte wahr zu machen. Diese Briefe waren es vorzüglich, welche den ältesten Sohn Frank von Saratoga nach New-York trieben. Derselbe hatte mit seinem Onkel Clarence eine Reise nach Europa verabredet, fürchtete aber während seiner Abwesenheit Gewaltthätigkeiten des Vaters gegen die Mutter, und wollte nun, nach seiner Aussage wenigstens, eine Zusammenkunft mit dem Vater veranstalten, um diesem das Versprechen abzufordern, seine Frau in Zukunft weder durch Briefe, noch durch Besuche zu belästigen. –

Walworth, der Vater, wohnte seit zwei Jahren in dem Kosthause der Frau Sims; er stand bei seinen Bekannten im Rufe eines vollendeten Gentlemans, nüchtern, höflich und zuvorkommend; er war Mitglied des New-Yorker „Männerchors“ und liebte, trotz seiner meist trüben Stimmung, geselligen Umgang, namentlich mit Deutschen. Niemand hatte eine Ahnung von seinen unglücklichen Familienverhältnissen. – Am zweiten Juni Nachmittags erschien ein junger Mann im Hause der Frau Sims und fragte nach Walworth, welcher ausgegangen war. Der Besucher hinterließ deshalb eine Karte ohne Namensunterschrift, des Inhalts: „Ich wünsche einige Familienangelegenheiten zu ordnen. Besuche mich in zwei oder drei Stunden im Sturtevant-Haus[WS 1] und frage nach mir im Comptoir!“ Am Morgen des dritten früh um halb sechs Uhr begab sich Walworth, der Vater, nach dem bezeichneten Hôtel und gab seine Karte ab. Der Herr Sohn war noch nicht aufgestanden, so daß der Vater eine Zeitlang warten mußte, bis er vorgelassen wurde. Als er in das Zimmer seines Sohnes eintrat, saß dieser, völlig angekleidet, den Hut auf dem Kopfe, am Fenster. Er bot dem Vater einen Stuhl an und begann mit ihm über die bewußten Drohbriefe zu reden, indem er ihn aufforderte, feierlich zu versprechen, nie wieder die Mutter belästigen oder ein Glied der Familie bedrohen zu wollen. Der Vater erklärte sich hierzu bereit in einer Weise, die dem Sohne nicht genügend zu sein schien, ohne daß es indeß zwischen Beiden im Geringsten zu harten Worten gekommen wäre. Während des Gesprächs steckte der Vater die Hand in den Busen, als ob er eine Pistole habe herausziehen wollen, wie der noble Sohn im Verhör angab, und dies war für den ritterlichen Sproß der Hardin-Walworth hinreichender Grund, auf seinen nichts ahnenden Erzeuger vier Schüsse aus seinem Revolver in rascher Folge abzufeuern, deren letzter den Unglücklichen zu Boden streckte. Ohne die geringste menschliche Regung ließ der unnatürliche Sohn den in seinem Blute schwimmenden, mit dem Tode ringenden Vater liegen, und begab sich in’s Comptoir, wo er dem Buchhalter ganz kühl und gleichgültig bemerkte: „Ich habe soeben meinen Vater erschossen.“ „Was sagen Sie?“ rief der bestürzte Mann, „was haben Sie gethan?“ „Ich habe meinen Vater erschossen; ich habe ihn drei Mal getroffen. Holen Sie einen Polizisten!“ war die kaltblütige Antwort.

Während nach einem solchen geschickt wurde, dictirte der Vatermörder eine Depesche an seinen Onkel Clarence Walworth, den Priester in Albany: „Ich habe meinen Vater erschossen; sorge für die Mutter!“

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sturvesant-Haus
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 583. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_583.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)