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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


welche die ganze Zweite Kammer neu gestalteten, lieferten zuerst wieder – nach beinahe zwanzig Jahren der Stagnation des politischen Lebens in Sachsen – eine liberale Majorität, die durch ihre geistige Ueberlegenheit und ihren Zusammenhang mit dem lebendigen Geiste des Volkes das Schwergewicht, das so lange auf der Rechten gelegen hatte, auf die linke Seite herüberzog.

Der Landtag von 1869 bis 1870 war weniger reich an wirklichen Reformen, als an Anregungen oder Vorbereitungen zu solchen. Man hat ihn den „Antraglandtag“ genannt, eine Bezeichnung, deren er sich nicht zu schämen braucht. Reformen des Gemeindewesens, der Staatsverwaltung, des öffentlichen Unterrichts wurden in ihm lebhaft in Angriff genommen.

Die Ergänzungswahlen im Jahre 1871, die etwa ein Drittel der Zweiten Kammer erneuerten, änderten den Stand der Parteien im Ganzen nur wenig. Aber einen großen moralischen Vortheil sicherte sich die liberale Partei dadurch, daß sie schon in die Wahlen geschlossen eintrat und im Landtage selbst ihre abgesonderten Fractionen zu einer einzigen ungetrennten Phalanx verschmolz. Der erste Sieg, den ihr diese Einigkeit eintrug, war schon der Ausfall der Präsidentenwahl. Es gelang ihr, einen der prononcirtesten und darum den Gegnern unbequemsten Vorkämpfer des Liberalismus, einen der „Alten von 1848“, auf den Präsidentenstuhl zu erheben, den Advocat Dr. Schaffrath.

Schaffrath ist von allen Mitgliedern, nicht allein der liberalen Partei, sondern der ganzen Zweiten Kammer dasjenige, welches die älteste parlamentarische Vergangenheit hinter sich hat. Schon beim Landtag von 1845 trat er in die Zweite Kammer ein. Damals bildete er mit Joseph, Hensel II., Metzler, Rewitzer eine „junge“ oder „äußerste“ Linke, die selber die älteren Führer der Linken, Todt, Oberländer, Klinger, bisweilen hinter sich ließ und überflügelte. 1848 bis 1849 saß er zugleich im Frankfurter Parlamente und in der sächsischen Zweiten Kammer. Nach der Auflösung der Kammer im Frühjahr 1849 und den darauf gefolgten Maiereignissen zog er sich vom öffentlichen Leben zurück. Als dann die zweite Kammerauflösung im Jahre 1850 und gleich darauf der Verfassungsbruch erfolgte, der die alten, 1848 beseitigten „Stände“ wieder auf den politischen Schauplatz zurückführte, da gehörte Schaffrath zu jenen Demokraten von der strengen Observanz, welche beharrlich jede Theilnahme am parlamentarischen Leben verweigerten, weder wählten, noch sich wählen ließen, um auch nicht indirect das 1850 Geschehene als zu Recht bestehend anzuerkennen.

Erst nachdem das Wahlgesetz von 1868 die alten Stände zum zweiten Mal aus der Welt geschafft hatte, hielt er sich nicht mehr in seinem Gewissen behindert, für die neue, freigewählte Kammer ein Mandat anzunehmen. Ein städtischer Wahlkreis (Großenhayn etc.) entsandte ihn zum Landtag 1871 bis 1872, und die liberale Partei ehrte ihn als ihren Senior, indem sie seine Wahl zum Präsidenten mit vereinten Kräften betrieb und glücklich, wenn auch nur mit Einer Stimme Mehrheit durchsetzte. Als solcher hat er sein Amt mit anerkennenswerther Unparteilichkeit und Gerechtigkeit nach allen Seiten hin verwaltet. Was ihm die Führung des Vorsitzes immerhin oft erschwerte und bisweilen verleidete, war die angeborene Lebhaftigkeit seines Temperamentes, die sich schwer in die dem Präsidenten aufgezwungene Passivität fügte, zumal wenn die Debatte in ihrer Verbreiterung und Verzettelung des rasch eingreifenden oder zurechtlenkenden Wortes, wie es ihm zu Gebote stand, dringend zu bedürfen schien.

In juristischen Dingen ist Schaffrath eine Autorität, nicht bloß für seine Partei, sondern für die ganze Kammer, und sein Rath, wenn auch nicht öffentlich gemäß seiner Stellung gegeben, wird doch privatim von allen Seiten gern gehört und beachtet.

Schaffrath ist zugleich ein scharfer und eindringlicher Redner. Man merkt ihm die Gewohnheit und Sicherheit des öffentlichen Plaidirens an. In seinen Grundsätzen ist er noch der „alte Demokrat“; allein die Jahre und die Erfahrungen haben ihn, wie er selbst offen bekennt und ungescheut bethätigt, in der Anwendung dieser Grundsätze auf concrete Fragen des öffentlichen Lebens nüchterne Mäßigung und Besonnenheit gelehrt; er weiß das in der Idee Wünschenswerthe von dem praktisch Erreichbaren zu scheiden, oder mag es nicht leiden, daß man dieses über jenem opfere.

Diese demokratische Vergangenheit machte es ihm doch lange schwer, zu der neuen Gestaltung der Dinge in Deutschland mit ganzem Herzen sich zu bekennen. Aber auch dieses innere Widerstreben hat er seit Verwandlung des Norddeutschen Bundes in ein Deutsches Reich wohl so ziemlich überwunden, und wenn er in der nächsten Reichstagsperiode berufen sein wird, im Reichstage über die wichtigen Codificationen, welche bevorstehen, mit zu berathen und zu beschließen, so wird er wahrscheinlich aus der schweigenden Zurückhaltung, die er bisher als Reichstagsmitglied meist beobachtet hat, heraustreten und seine Erfahrungen auf diesem Felde im nationalen Interesse verwerthen.

Nicht so alt im parlamentarischen Leben wie Schaffrath und doch auch wieder älter ist der Gutsbesitzer und Landmann Riedel in Klein-Schönau bei Zittau, an Jahren der Veteran der liberalen Partei in der Kammer. Er trat in diese erst 1848 ein, also um drei Jahre später als Schaffrath; aber er gehört ihr seitdem ununterbrochen an, so daß er am 18. Mai dieses Jahres sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum als Abgeordneter feiern konnte. Da sah man recht, wie populär im ganzen Lande, wie herzlich geschätzt von seinen Parteigenossen, wie hoch geachtet selbst von seinen politischen Gegnern in der Kammer der „alte Riedel“ ist. Der Festtheilnehmer und Gratulanten, der Deputationen, Adressen und Angedenken war kein Ende. Selbst die Regierung hätte vielleicht – trotz seiner oppositionellen Stellung von jeher –, schon seines gemeinnützigen Wirkens halber, ihm eine Aufmerksamkeit bei einer so seltenen Feier nicht versagt, wäre sie nur sicher gewesen, daß nicht am Ende der Alte sie zurückweise. Ihm selbst war es jedenfalls lieb, nicht zwischen seinen demokratischen Grundsätzen und seiner Lausitzer Gutmüthigkeit in’s Gedränge zu kommen.

In diesen fünfundzwanzig Jahren hat Riedel gar viele und mancherlei politische Wendungen und Wandlungen im Ständehause zu Dresden an sich vorüberrauschen sehen, er hat 1848 das alte Ständewesen mit zu Grabe getragen und ward aus einem Landstand ein Volksvertreter, wie 1850 wieder umgekehrt aus einem Volksvertreter des „Widerstandslandtags“ ein Landstand des „Staatsstreichlandtags“. Hei, was hat Riedel damals oft so scharfe Worte gesprochen, daß selbst Herrn v. Beust das ewige Lächeln bisweilen von seinen Zügen wich! Nach mehr als fünfzehnjährigem Kampf erlebte er noch einmal die Genugthuung, als „Landstand“ zu sterben, um kraft des miterrungenen neuen Wahlgesetzes als „Volksvertreter“ wieder aufzustehen. Bei alledem ist er selber ungewandelt und unentwegt immer derselbe geblieben, der Mann schlichter, aber fester, nicht ausschweifender, aber auch nicht zu beugender, allzeit geradeaus und vorwärts gerichteter politischer Ueberzeugung.

Riedel ist Autodidakt. Aus beengten Lebens- und Bildungsverhältnissen hat er durch eigene Energie sich emporgearbeitet, so daß er nicht nur in den kleineren Kreisen der Gemeinde, sondern auch auf dem weiten Gebiete allgemeiner staatlicher Fragen seinen Platz ehrenvoll und wirksam ausfüllt und das Muster eines ländlichen Abgeordneten darstellt, der mit der sichern Beherrschung der ihm nächstliegenden Interessen auch den freiern und weitern Blick auf ein größeres Ganzes verbindet. Die dem Lausitzer angeborene warme Vorliebe für seine engere Heimath mit ihren mancherlei Vorzügen und ihren zum Theil berechtigten Eigenthümlichkeiten hält ihn so wenig ab von der Unterordnung dieser unter die allgemeinen Interessen seines sächsischen Vaterlandes, als wiederum letztere von der Hingebung an die großen nationalen Anliegen.

Auch Biedermann ist ein alter Parlamentarier. Er begann seine parlamentarische Laufbahn sogleich auf dem weitesten Gebiete national-deutscher Bestrebungen, in der Paulskirche zu Frankfurt. Im März 1848 hatte er mit an der Spitze der Bewegung gestanden, welche in Sachsen das alte System stürzte und eine neue Aera herbeiführte. Von einer Landesversammlung Liberaler in’s Vorparlament entsandt, von diesen in den Fünfzigerausschuß gewählt, ging er als Abgeordneter für die verfassungsgebende Nationalversammlung sogleich aus der ersten in Sachsen vollzogenen Wahl (in Zwickau) hervor. Als einer der Vorstände erst des rechten Centrums (des „Augsburger Hofs“), später der großen „Erbkaiserpartei“ (des „Weidenbuschvereins“), half er eifrig mit, die Idee eines monarchisch-constitutionellen Bundesstaats unter preußischer Führung, wenigstens auf dem Papiere, in der Reichsverfassung durchzuführen. Von dieser Linie

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