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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

No. 36.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Künstler und Fürstenkind.[1]

Von August Lienhardt.


1.

Als wir zusammen, mein lieber Gottfried, Italien durchzogen, vom Schnee der Alpen bis zu den Gluthen des Vesuv, von den gletschergenährten Fluthen des Po bis zu jenem Gestade Hesperiens, wo wirklich „die Citronen blühn, im dunklen Laub die Goldorangen glühn“, da lachtest Du oft über Deinen scheuen Walter, und nanntest ihn – Weiberfeind! Denn nicht die feurigen Blicke der Venetianerin, nicht der schleierumwobene Alabasternacken der Tochter Mailands, nicht das stolze Profil der Römerin vermochte den Spröden zu rühren! Und während Du unter den Blumen des blüthenreichen Landes wie ein Schmetterling umherflattertest, fandest Du kaum ein mitleidiges Achselzucken für Deinen Freund, der nur Augen hatte für die Ebenbilder längst vermoderter Schönheiten.

Ach, mein Herzensfreund, wie ist das anders geworden! Wohin ist all mein Weiberhaß?

Doch höre Alles vom Anfang an. Ich hatte bereits eine Woche in den Räumen des Glaspalastes zu München der Besichtigung der Kunstausstellung gewidmet. Meine Seele hatte geschwelgt in den erhabensten Geistesproducten eines halben Jahrhunderts. Ich warf noch einen letzten Scheideblick auf Schwind’s „Sieben Raben“, als ich in meinem Sinnen plötzlich vom Wohlklang einer weiblichen Stimme aufgescheucht wurde, welche ihre Bewunderung über das seltene Kunstwerk aussprach. Ich sah auf und sah eine junge Dame neben einem im kräftigen Mannesalter befindlichen Herrn vor dem Bilde stehen. Ihre Stimme hatte mich so sympathisch berührt, daß ich an der Stelle, dem Anscheine nach in ein Bild vertieft, wartete, bis sie mir das volle Gesicht zuwendete. Gottfried, ich kann Dir nicht schildern, wie mich dieses Antlitz bis in die innersten Fibern meines Herzens ergriff. Diese seelenvollen Augen, in welchen man unterzugehen wünscht wie in einem tiefen See voll Seligkeit, diese reine, durchgeistigte Stirn, dieser edle Mund, diese feinen Züge, welch’ reiches Geistes- und Gemüthsleben verrathen sie! Diese Gestalt voll Ebenmaß – jede Geberde eine Venus von Milo! O Freund, ich kenne mich nicht mehr!

Nenne mich einen Schwärmer – aber ich konnte mich von dem Gedanken nicht trennen, daß es mein Tod sein würde, wenn ich mein Schicksal nicht mit diesem erhabenen Wesen verknüpfen dürfe. Und doch wußte ich gar nicht, wer ihr Begleiter war, ob Vater, Bruder oder Gatte. Vergeblich bot ich alle meine Bekannten auf, um mich nach der Fremden zu erkundigen.

In der Angst, daß sie sich zu früh entfernen möge, kehrte ich mich weder an die Vorschriften des Reglements, noch der guten Lebensart. Ich zog mein Taschenbuch hervor und entwarf eine Skizze der Fremden, mir Alles in’s Gedächtniß prägend, was nöthig, um sie mir wieder vorzuzaubern. Ach, wie schwach wird mein Pinsel sich erweisen gegenüber solchem Liebreiz!

Wie ich gefürchtet, so kam es. Während ich von einem Freunde aufgehalten worden, hatten die Fremden sich entfernt, und als ich nacheilend mich durch ein an der Ausgangspforte entstandenes Gedränge wie ein Aal gewunden hatte waren sie davongefahren. Ich verbrachte die erste Woche mit Postenstehen in der Ausstellung, aber sie kam nicht wieder. Ich ging jeden Abend in die Theater, aber ich fand sie nicht. Ich durchmusterte den Adreßkalender, erkundigte mich in Privathäusern, erforschte alle Gasthöfe, war häufig in den Galerien und in den Ateliers von Kaulbach und Piloty – aber vergebens. Ich sah sie nicht wieder. Ihr Bild ist jedoch unauslöschlich in mein Herz gegraben. Danach war mein Entschluß gefaßt. Ich muß ein Werk ersten Ranges malen, wozu mir mein Gedächtniß und meine Skizze dienen sollen, und mit Hülfe dessen muß ich sie wiederfinden, und wenn ich’s in allen Hauptstädten Europas ausstellen müßte. Lebe wohl, mein lieber Gottfried, und denke in der ewigen Stadt ein wenig der Qualen Deines

Walter.


2.

Victoria! Der Wurf ist gelungen! Ich habe sie wieder gefunden, frei von allen Banden! Dennoch bin ich der Unglückseligste aller Sterblichen!

Höre, theuerster Gottfried, und beklage mich, denn zu rathen, zu helfen ist mir nicht! Es sind jetzt Monate verflossen, seitdem ich sie zum ersten Male sah, und keinen Tag ist ihr Bild in meinem Herzen geschwächt gewesen. Ich habe während des Winters das entworfene Bild vollendet. Ich habe mit der ganzen Gluth meiner Seele, mit allem Flug meiner Phantasie, mit voller Leidenschaft meines Gemüths, mit der vollkommenen Sorgfalt eine Liebenden gemalt und, ich darf es sagen, ich habe mein bestes Kunstwerk vollendet. Ich habe sie als Schneewittchen dargestellt. Seit Ostern ist das Bild ausgestellt, zuerst in München, dann in Dresden, Berlin, Frankfurt. Es ist, wie ich glaube, ziemlich ähnlich geworden. Ich hoffte, daß entweder der Gegenstand meines Sehnens selbst, oder ein Verwandter, oder ein Freund das Urbild


  1. Die obiger Novelle zu Grunde liegenden Thatsachen sind exclusiven Kreisen bekannt, und dürften nicht wenige unter unseren Lesern leicht errathen, wo der „Künstler“ und das „Fürstenkind“ zu suchen sind
    D. Red.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 575. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_575.JPG&oldid=- (Version vom 31.3.2021)