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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


durch ihr drolliges, komisches Gebahren. Lobt man ihre Töchter – Söhne findet man selten bei der Bühne von einer Mutter begleitet –, sagt man ihnen, daß dieselben die oder jene Rolle gut gespielt haben, so werden sie sofort klettenartig, tragen dem Lobspender ewige Freundschaft an und beehren ihn mit dem traulichen „Du“; kurz, man hat sie am Halse. Bei alledem tragen sie eine rührende, innige Liebe für ihr Kind im Herzen, die jeder Aufopferung fähig ist.

Eine solche originelle Theatermutter war die alte Frau F…, deren Tochter einst die Zierde der Berliner Hofbühne war. Diese alte, drollige, schwatzhafte Frau wird Jedem, der nur einmal mit ihr zusammen gekommen ist, unvergeßlich bleiben. Es war rührend mit anzuhören, wenn sie von ihrer Tochter sprach, die sie abgöttisch liebte. Jedem, der es hören wollte, erzählte sie, wie brav, wie gut ihr Kind, ihre liebe Line sei, was sie für gute Tage bei ihrem Töchterchen habe etc. Der Schluß solcher Lobrede war dann jedesmal: „Meine Line ist ein Engel in Menschengestalt.“ Und darin hatte die alte Frau vollkommen Recht. Fräulein Lina F … verdiente dieses Prädicat im vollen Maße; denn sie war nicht nur eine hervorragend hochbegabte Künstlerin, sie war auch in ihrem Privatleben eine hochgeachtete Persönlichkeit. Die alte Frau hatte, wie schon gesagt, Recht, auf ihre Tochter stolz zu sein. Aber Stolz kannte die gemüthliche Matrone nicht, und deshalb verzieh man ihr so Manches, was sonst im gewöhnlichen Leben Anstoß erregt haben würde. Nichts Drolligeres, aber auch zugleich oft Störenderes gab es, als das Gebahren der Mama F… Abends in der Loge, wenn ihre Tochter eine bedeutende Rolle zu spielen hatte. Fast dreiviertel Stunden vor Beginn der Vorstellung trat Mutter F… in eine Loge des zweiten Ranges. Ihr erstes Geschäft war, sich den besten Platz auszusuchen; war das geschehen, so breitete sie bedächtig den Theaterzettel über die Logenbrüstung aus, so daß er gleichsam für Jedermann praktikabel war. Trat nun Jemand in die Loge, so suchte sie sich sofort mit ihm bekannt zu machen. Wehe ihm, wenn er sich mit Mama F … in eine Conversation einließ! Das ganze Stück war dann für ihn verloren. Kam nun zufällig eine dicke Persönlichkeit in die Loge, so machte sie sich sofort so breit als möglich und sagte ganz harmlos: „Sie, bitte, rücken Sie mir nicht so dicht auf den Leib! Diesen Platz habe ich contractlich: denn ich bin die Mutter von der ersten Schauspielerin hier,“ und indem sie mit dem Finger auf den Theaterzettel tupfte, sagte sie: „Hier steht sie. Das ist mein Kind. Meine Line spielt heute Abend die Ophelia in Hamleten. Na, da passen Sie mal auf! Da können Sie was zu sehen kriegen, daß Ihnen die Augen übergehn. Die Andern, die mitspielen in Hamleten, sind gegen meine Line gar nichts. Und die Toilette, die mein Engel von Kind macht, der reine Zucker! Die Andern sehen immer dagegen aus wie die Schlampampen.“ Dabei zog sie alle Augenblicke die Uhr und rückte auf ihrem Platze hin und her. Kaum war das erste Zeichen gegeben, so rief sie überlaut: „Nun geht es los! Nun passen Sie Alle recht auf! Sie werden eine Freude über mein Götterkind haben. Ach, ich bin die glückliche Mutter, die einen Engel geboren hat. Heute Abend ist meine Line verrückt; na, ich sage Ihnen, wie aus der Charitée herausgegriffen. Ich sollte es eigentlich nicht sagen, denn ich bin ja die Mutter von dem Wunderkinde, aber wenn meine Tochter als Ophelia mit dem Strohkranze auf dem Kopfe angewankt kommt, Verrückteres können Sie sich gar nichts denken, meine Herrschaften.“ So plauderte die von ihrer Tochter entzückte Alte unaufhörlich fort, bis sich der Vorhang hob, um des großen Briten Werk in Scene gehen zu lassen. Alles lauschte auf des großen Dichters Worte, nur Mutter F… nicht; unaufhörlich wisperte sie ihrem unglücklichen Nachbar etwas zu. „Sie, das Alles ist nichts; das Beste kommt noch. Wenn meine Tochter kommt, dann geht es erst los.“

„Pst!“ schallt es plötzlich aus dem Parterre hinauf, doch das kümmert Mutter F… nicht, denn sie flüstert abermals dem unglücklichen hin- und herrückenden Nachbar ziemlich laut zu:

„Sie, da brauchen Sie jetzt gar nicht so genau aufzupassen. Aber wenn Hamlet meine Tochter in’s Kloster schickt, da passen Sie auf – da sollen Sie was erleben, wie meine Line dabei spielt, ohne ein Wort zu reden. Sie werden Ihr blaues Wunder sehen.“

„Ruhig da oben!“ brüllen mehrere Stimmen aus dem gefüllten Parterre. Aengstlich und leise versucht der bedrängte Nachbar Frau F… begreiflich zu machen, daß sie die Vorstellung durch ihr fortwährendes Geplauder störe.

„Ach was,“ erwidert sie, „ich habe hier meinen Platz contractlich; mir hat hier Niemand den Mund zu verbieten.“

„Ruhig!“ donnert’s von Loge, Parterre und Galerie.

Da öffnet sich plötzlich geräuschlos die Logenthür und der ehrwürdige Kopf des alten Theaterdieners[1] Zagner zwingt sich durch die schmale Oeffnung. „Sie, Frau F…!“ wispert er leise, „Sie sollen augenblicklich zu Ihrer Tochter kommen; sie will was.“

Sofort erhebt sich der Störenfried und verläßt mit den Worten: „Ich komme gleich wieder, meine Herrschaften,“ die Loge, deren Thür der alte Zagner leise mit den Worten schließt:

„Die kommt heute Abend nicht wieder, meine Herrschaften. Die ist besorgt und aufgehoben.“

Obgleich die alte Frau F… das Urbild einer echten Theatermutter war, so hatte sie doch das Gute für sich, sich nie in Kunstangelegenheiten, wozu sie wohl von vornherein nicht fähig war, zu mischen; ihre liebenswürdige Tochter suchte stets ihre Schwächen, die ihr gar oft Verdrießlichkeiten bereiteten, auf freundliche Weise zu verdecken. Nie beklagte sie sich über das Thun und Lassen ihrer alten Mutter; sie war ihr ein Heiligthum. Für die Mutter sorgte sie mit kindlicher Liebe, bis der Tod sie von ihrer Seite nahm.

Die gefährlichste Sippe ist die der sogenannten unechten Theatermütter. Dieses Genre wird jedem jungen Mädchen gefährlich, ja oft verderbenbringend, durch ein einschmeichelndes Wesen, durch Lobhudelei und aufdringliche Gefälligkeit. Die unechte Theatermutter ist der personificirte Eigennutz; sie ist ein Vampyr, der unnachsichtlich sein Opfer aussaugt und um guten Namen und Ehre bringt. Dem Raffinement dieser Geschöpfe fällt manch schönes Talent zum Opfer, noch ehe es sich entfaltet hat. Diese Hetären schänden den reinen Cultus der Kunst, indem sie ihn zum Deckmantel ihres unreinen Treibens bei der Bühne benutzen. Gewöhnlich gehören sie nicht einmal dem Theater an, und wenn dem so ist, so sind es alte, talentlose, unbrauchbare Schauspielerinnen, die nicht mehr anderweitig im Stande sind, bei der Bühne ihr armseliges Dasein zu fristen, als eben durch Bemutterung junger, unerfahrener Mädchen, die sich dem Theater widmen. Sie spielen dann die Beschützerin, Lehrerin, wenn sie auch von der Schauspielkunst keinen Begriff haben, ordnen, wenn ihr Opfer Abends zu spielen hat, die Garderobe, benehmen sich in Gegenwart Uneingeweihter stets gesittet, spielen die Ehrbaren, um sich so in Familien zu drängen, die theatersüchtige Töchter haben. Hat nun auf diese Weise so eine unechte Theatermutter ein Opfer erwischt, so führt sie es in die Welt, damit es auf kleinen Bühnen die Schwingen regen lernt; sie spielt dann vollkommen die Mutter, weist jeden Zudringlichen energisch zurück, bis er sich durch ein bedeutendes Geschenk bei Frau Mama legitimirt hat; denn jede unechte Theatermutter hat die Natur des Hamsters: Alles heimset sie ein, ob auf rechtlichem Wege oder nicht, das gilt ihr gleich. Bei Diners und Soupés ist sie unersättlich, beseitigt heimlich alles übriggebliebene Confect und trinkt übermäßig Wein. Kurz, sie ist die Fäulniß der Bühne, die leider durch keine Desinficirung vertrieben werden kann. –

Jedes junge Mädchen, das sich der Bühne zu weihen gedenkt, möge die vorstehenden Zeilen mit Ernst und Bedacht lesen und sie im Herzen bewahren, wenn sie jenen verhängnißvollen Pfad betritt! Sie möge dann sorgsam die geheimnißvoll aufgestellten Netze dieser Spinnen zu vermeiden suchen, um nicht in ihre vernichtende Gewalt zu kommen!

Ich könnte hier, um das nichtswürdige Treiben dieser unechten Theatermütter, zuweilen auch Tanten genannt, zu kennzeichnen, noch Beispiele der empörendsten Art anführen, welche darthun, wie dieselben, eigennützig, kein Mittel scheuend, so manch schönes Talent durch ihre raffinirte Habsucht zu Grunde gerichtet und schließlich dem Elend preisgegeben haben. Doch lassen wir den Vorhang über ihr schmachvolles Walten sich senken!

Adolf Meyer.

  1. Vorlage: „Theaterdienes“
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 573. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_573.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)