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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Zur Naturgeschichte des deutschen Komödianten.
4. Die Theatermütter.


Die originellsten Typen in der Theaterwelt sind die sogenannten Theatermütter; ihre Sippe theilt sich in verschiedene Abarten. Ich will es versuchen, einige interessante Genrebilder aus ihrer Gattung dem freundlichen Leser vorzuführen. Theatermütter kommen als echte, wirkliche und unechte bei der Bühne sehr häufig vor. Die echte, natürliche Theatermutter, von der ich zuerst reden will, gleicht einer alten Henne, die ihr Küchlein, Tochter genannt, mit Argusaugen bewacht – ihre Rechte dictatorisch vertritt und stets kampfbereit ist, wo es gilt, ihrem Kinde nachzutreten. Auch ist sie unerschöpflich im Lobe ihres Kindes. Alles, was dem zur Seite mitwirkt, ist unbedeutend talentlos. Sie spricht stets mit Pathos und gesticulirt bei jedem Worte heftig mit beiden Armen; ihre Kleidung ist auffallend und wird nur aus der abgelegten Garderobe ihrer Tochter für sie angefertigt, so daß ihre Toilette stets alle Farben des Regenbogens schillern läßt. Einen jeden Satz beginnt sie gewöhnlich mit: „Meine Tochter“. Ist diese nun in irgend welchem Schau- oder Lustspiel oder in einer Oper nicht beschäftigt, so zieht sie ohne Erbarmen die größten Meisterwerke herunter, wären sie auch von Goethe, Schiller oder Mozart. Mit verächtlicher Miene, den Kopf zurückwerfend, sagt sie dann wegwerfend: „Es ist mir sehr lieb, daß meine Tochter nicht in diesem langweiligen Kram von Goethe beschäftigt ist“ oder: „Meine Tochter ist immer froh, wenn sie in dieser Mozart’schen Dudelei nicht mitsingen muß.“ Ist nun gar diese Tochter ein wirkliches Talent und nimmt demnach bei der Bühne eine erste, künstlerische Stellung ein, dann ist ganz der Teufel los. Mama tritt in solchem Falle jedem Intendanten oder Director resolut entgegen; sie ist dann der Barometer, welcher das Repertoire genau verkündet; um zu wissen, ob die Abänderung einer Vorstellung stattfindet oder nicht, braucht man nur ihr Gesicht zu beobachten.

Ich kannte eine solche eben beschriebene Theatermutter, welche eine sehr talentvolle Tochter besaß, die, bei der großherzoglichen Bühne in K. engagirt, dort erste Liebhaberin mit großem Erfolg spielte; ihre Mutter war ein Original von Theatermutter und eines von der bösesten Sorte. Sie war der Schrecken der ganzen Hofbühne. Vom Intendanten bis zum Theaterdiener herab war Frau E… gefürchtet wie der Satan, denn Recht und Unrecht waren der guten Frau E… böhmische Dörfer; sie hatte stets Recht. Diese wahrhaft böse Frau trug allein die Schuld, daß ihr so reich begabtes Kind von der deutschen Bühne spurlos verschwand; ihre Herrschsucht trieb es aus einem Engagement in das andere. Frau E… riß die erste beste Gelegenheit, Scandal zu veranlassen, gleichsam vom Zaune; sie bereitete durch ihr rücksichtsloses Gebahren ihrem Kinde manche bittere Stunde und raubte so demselben eine vielleicht glänzende Zukunft. War ein Stück angesetzt, worin ihre Tochter eine unbedeutende Rolle zu spielen hatte, so trachtete Mama danach, sofort das Stück zu hintertreiben.

„Laura, Du hast den Schnupfen. Du spielst mir heute Abend auf keinen Fall! Dein Organ ist nicht frei. Ich lasse abändern, oder sie können diese Lumpenrolle durch die erste beste Choristin spielen lassen.“

„Aber, lieb’ Mütterchen, weshalb soll ich denn den Intendanten unnöthig in Verlegenheit setzen? Ich fühle mich ja vollkommen wohl. Auch ist kein anderes Stück vorbereitet,“ entgegnet dann schüchtern Laura.

„Gerade deshalb spielst Du nicht. Du mußt dem Volke hier zeigen, daß Du unentbehrlich bist; man muß vor Dir Respect haben.“

„Aber Mütterchen –“ wirft Laura bittend ein.

„Nichts da!“ schreit die jetzt schon leidenschaftlich erregte Mama, „Du spielst nicht und damit Punktum!“ Mit diesem kategorischen Imperativ eilt sie in’s Nebenzimmer, aus welchem sie nach kurzer Zeit in voller Toilette in’s Zimmer tritt. „So, nun werde ich dem Herrn Intendanten mit seiner ganzen Sippschaft den Staar stechen.“ Sofort verläßt sie, ohne weiter ein Wort mit ihrer Tochter zu wechseln, das Haus und eilt im Sturmschritte dem Hoftheater zu, wo eben der Intendant, Capellmeister und Regisseur beschäftigt sind, das Repertoire für die nächsten vierzehn Tage festzustellen. Plötzlich öffnet sich mit großem Geräusch die Thür des Bureau’s und Frau E… stürmt, zum Schrecken sämmtlicher Herren, mit glühendem Gesicht in’s Bureau. „Guten Morgen, Excellenz!“ ruft sie, sinkt wie eine Königin unaufgefordert in einen Sessel und ordnet ganz ungenirt ihre knatternde, sich aufbauschende Seidenrobe in künstlerische Falten, ohne weiter von den anwesenden Herren Notiz zu nehmen.

„Ah, Frau E…! Was verschafft mir die Ehre?“ fragt sie höflich der Intendant. „Was wünschen Sie, Frau E…?“

„Ich für meinen Theil gar nichts, Excellenz,“ erwidert Frau E…, „aber meine Tochter, mein Kind, wünscht heute Abend nicht zu spielen. Meine Laura hat den Schnupfen und aus dem Schnupfen entstehen allerlei Krankheiten, wenn man sich nicht in Acht nimmt; dem will ich mein Kind nicht aussetzen. Sie können ja die kleine Rolle, die meine Tochter spielen soll, von der ersten besten Choristin spielen lassen, brauchen also deswegen nicht Abänderungen vorzunehmen.“

„Meine beste Frau E…, das geht mit dem besten Willen nicht. Das Stück muß mit den ersten Kräften der Hofbühne in Scene gehen,“ wirft bescheiden der Regisseur ein; „auch hat es der Großherzog befohlen.“

„Ach, was Sie da Alles sagen, Herr Regisseur! Befohlen hin, befohlen her! Meine Tochter spielt nicht, wenn sie commandirt wird. Meine Tochter ist eine Künstlerin ersten Ranges. Verstanden?“

Um den Scandal nicht auf die Spitze zu treiben, beginnen die Herren, ohne weiter von Frau E… Notiz zu nehmen, die Arbeit wieder.

„Sie machen wohl das Repertoire für die nächsten vierzehn Tage?“ beginnt sie wieder, indem sie ihre Robe in malerische Falten zu bringen sucht; „darf man wissen, was Sie Alles ausgeheckt haben?“

„Nein, Frau E…,“ erwidert sehr pikirt der Intendant; „das Repertoire wird, wie üblich, den Mitgliedern der Hofbühne durch den Theaterdiener überbracht, wenn es festgestellt ist.“

„Also nicht? Na, mir auch recht! Meine Tochter spielt aber nicht jeden Abend; das merken Sie sich, Excellenz. Das Kind soll sich hier für diese miserable Gage nicht die Schwindsucht an den Hals spielen.“

„Es ist dafür bereits gesorgt, daß Ihr Fräulein Tochter nicht allzu sehr in Anspruch genommen wird,“ erwidert unwillig der Intendant; „sie spielt in jeder Woche nur ein Mal.“

„Was? Nur ein Mal spielt mein Kind? Das will ich doch abwarten. Meine Tochter spielt jetzt in jeder Woche drei Mal, und das lauter Hauptrollen,“ ruft Frau E… entrüstet, „oder sie spielt ebenso wenig wie heute! Verstehen Sie mich, Excellenz?“

Mit diesen drohenden Worten rauscht sie wie ein entschleußter Wasserfall zum Bureau hinaus. Alle schlagen mit Andacht ein Kreuz.

Die Folgen des unanständigen Gebahrens dieser stets muthigen Theatermutter ließen nicht auf sich warten. Der armen, unschuldigen Tochter wurde der Contract nicht wieder erneuert. Engagementslos zog sie mit ihrer Megäre von Mutter, lange Zeit bei Wanderbühnen gastirend, umher, bis sie mit ihrer stets wüthenden Mama aus der Theaterwelt spurlos verschwand. Die soeben beschriebene Art von Theatermutter nennt man in der Bühnensprache „Lärmkanone“. Sie ist der Schrecken aller Intendanten, Directoren und Regisseure. Darum ist auch gleich die erste Frage eines Directors, wenn er ein Engagement mit einer Primadonna, oder mit einer ersten Liebhaberin und Heldin abzuschließen gedenkt: „Haben Sie eine Mutter bei sich?“ Fällt eine solche Frage bejahend aus, so zieht sich sofort die Stirn des Directors in düstere Falten, und ist die Errungenschaft nicht hochfein, so wird aus dem Engagement nichts.

Eine andere Spielart von Theatermüttern, die auch noch zu den echten, natürlichen gehören, sind die Zudringlichen, Schwatzhaften; sie sind lange nicht so schlimm, wie die dominirenden; denn hält man sie sich ein wenig vom Leibe, so verschaffen sie den Bühnenangehörigen oft die heitersten Augenblicke

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 572. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_572.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)