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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Der Alte schnaufte ein paar Male zu. „Pah – pah – pah! Vergessen und vergeben – ja, dazu ist man gut genug – nach einem langen Leben voll Kränkungen. Aber es soll mir nicht darauf ankommen, auch einmal an der unrechten Stelle eine Wohlthat zu üben – Gott sei Dank! wir haben’s dazu. Wenn die Frau also Geld braucht – sagen Sie nur, wie viel? Aber in runder Summe, Alles in Allem, damit’s abgethan ist. Sie nehmen ja so viel Antheil an den Leuten: vielleicht haben Sie die Güte, es ihnen zu geben. Daß es von uns kommt, brauchen Sie wohl nicht zu sagen. Die Herren Regierungsräthe haben das zusammengelegt oder so etwas – Sie werden sich schon eine Ausrede finden. Also wie viel?“

„Es handelt sich nicht darum,“ lehnte ich ab, innerlich auch schon über dieses Anerbieten erfreut. „So dürftig die Umstände Ihrer Schwägerin sind, sie würde sich gewiß zuletzt an Sie mit der Bitte um eine Geldunterstützung gewandt haben. Und nun gar so – sich eine milde Gabe zuwerfen lassen – ! Da kennen Sie eben Ihre Schwägerin nicht. Nein, sie hatte besseres Vertrauen zu Ihnen, lieber Meister; sie wünscht, daß Sie der Vormund ihrer Kinder werden sollen.“

„Was? der Vormund ihrer Kinder – ich?“ rief er auf’s Aeußerste überrascht. „Daraus wird nichts!“

„Daraus wird etwas,“ sagte ich ruhig. „Die Vorladung ist unterwegs und wird Ihnen in den nächsten Tagen zugehen.“

„Ich nehme diese Berufung nicht an,“ opponirte er weiter; „ich nehme sie auf keinen Fall an. Ich habe das Recht, eine Vormundschaft abzulehnen, die ich nicht pflichtmäßig führen kann. Es ist wider mein Gewissen – wider mein Gefühl! Und ich will doch sehen, ob das Gericht einen Bürger, der sonst jedes Ehrenamt bereitwillig übernommen hat, durch Geldstrafen zwingen darf –“

„Wer spricht denn von Zwang, lieber Meister?“ begütigte ich. „Es ist ja bekannt, daß Sie Sich aus so und so viel Thalern nicht viel machen. Nein, Niemand will Sie zwingen. Sie werden volle Freiheit haben, die Vormundschaft über Ihres Bruders Kinder anzunehmen oder abzulehnen, aber Sie werden sich darüber vor Gericht zu Protokoll zu erklären haben, und ich weiß, daß Sie dort nicht ablehnen werden.“

„Woher wissen Sie das?“

„Weil ich Ihre Ehrenhaftigkeit kenne. Sie werden nicht wollen, daß da in den Acten stehe: der Meister Gotthilf Lange weigert sich, der Vormund von seines Bruders Kindern zu sein, weil er mit seinem Bruder in Feindschaft gelebt hat und ihm das über das Grab hinaus nicht vergessen kann.“

Er blieb stehen und sah mich eine Weile starr an. „Das wird nicht geschrieben werden,“ sagte er dann mit etwas unsicherer Stimme.

„Das wird geschrieben werden,“ antwortete ich fest, „ich habe darüber nicht den mindesten Zweifel, denn der Termin steht vor mir selbst an.“

„Vor Ihnen?“ Ihm wurde heiß, und er schob das Sammetkäppchen von der Stirn fort.

„Vor mir.“

„Aber warum thun Sie mir Das?“ fragte er wieder nach einer Pause in plötzlich ganz weichem Ton. „Sie kennen ja doch meine Lebensgeschichte –“

„Eben weil ich sie kenne,“ versicherte ich. „Sie wissen, daß Niemand glücklich wird, der nicht zum Frieden mit sich selbst kommt; und in Ihrem Herzen giebt es an einer bösen Stelle noch Kampf und Streit. Sie haben gemeint, mit sich fertig geworden zu sein, und es war ein Irrthum. Das Leid, das Ihnen angethan worden, ist noch nicht überwunden, und Sie möchten sich gar einbilden, daß Ihnen am wohlsten wäre, wenn man es ruhig fortwühlen ließe. Aber Ihr Freund weiß es besser und er müßte ein schlechter Freund sein, wenn er Ihnen nicht volle Gesundheit und ein frohes Alter wünschte. Und darum –“

„Er wird sich’s überlegen,“ fiel die alte Mama sanft ein, indem sie sich eine Thräne aus dem Auge wischte. „Nicht wahr, Gotthilfchen, Du wirst Dir’s überlegen? Ein frohes Alter – das ist etwas Schönes, und es ist doch wahr: ganz froh sein kann man nicht, wenn man auf der Welt noch irgend Einen weiß, auf den man einen Groll hat. Lassen Sie ihn nur – er wird sich’s überlegen.“

Der Meister sagte kein Wort dazu; sein Gesicht sah noch immer finster aus, und er drückte mir nicht die Hand, die ich ihm zum Abschied reichte. –

Aber ich behielt doch Recht. Zum bestimmten Terminstage erschien er im Sonntagsrock auf dem Gericht, trat in sehr feierlicher Haltung hinter meinen Stuhl und legte mit einem unterdrückten Seufzer seine Vorladung auf den Tisch. „So Gott will!“ sagte er ernst. Es wurde unter uns über die Sache nicht weiter gesprochen, sondern als selbstverständlich angenommen, daß kein Hinderniß obwalte. Und so schrieb ich das Protokoll, hielt ihm die Pflichten eines Vormundes vor und verpflichtete ihn durch Handschlag, wie das Gesetz es will, und er ließ Alles ruhig geschehen, ja, man würde ihm nicht einmal irgend welche Erregtheit angemerkt haben, wenn er nicht zur Unterschrift die Feder zu tief in’s Tintenfaß getaucht und einen großen Klecks auf’s Papier gemacht hätte.

„Punktum!“ sagte ich lachend.

„Ist’s nun gut?“ fragte er, nachdem er die Brille in’s Futteral gesteckt und in der Rocktasche verwahrt hatte. Das konnte heißen sollen, ob er abgefertigt sei; aber ich nahm’s anders.

„Je nach dem,“ meinte ich; „ein treuer Vormund wird doch zum Wenigsten seine Mündel kennen lernen müssen.“

„Darum eben!“ sagte er, drehte seinen Hut zwischen den Händen, schielte seitwärts nach den Referendarien, die an demselben Tisch arbeiteten, und hüstelte verlegen. „Wenn ich mit Ihnen ein Wörtchen im Stillen – –“ Ich stand auf und nahm ihn in eine Ecke. „Ich möchte zu der Frau Geheimen – zu meiner Frau Schwägerin wohl hingehen,“ äußerte er sich zögernd, „zumal sie doch schon zuerst bei mir gewesen ist; aber das wird anfangs sehr peinlich für uns Beide sein, da wir einander doch nicht kennen, und so mancherlei vorgewesen ist. Da habe ich denn gedacht, wenn Sie die Güte haben wollten –“

„Mitzukommen und Sie einzuführen?“ half ich ein. „Sehr gern, lieber Meister, sehr gern. Und sogleich, wenn Sie wollen. Warten Sie dort zehn Minuten! Ich erledige nur noch die dringendsten Geschäfte, und wir gehen zusammen.“

Das schien ihn nicht wenig zu erleichtern. Auf der Straße verhielt er sich zwar noch ziemlich schweigsam, aber was er sprach, klang doch heiterer und zuversichtlicher. Nur als wir in das Haus kamen, in dessen dritter Etage die Geheime Räthin wohnen sollte, blieb er eine Weile, auf den Stock gestützt, stehen und grübelte in sich hinein. „Ich hätt’s doch nicht gedacht,“ knurrte er leise. Dann aber schüttelte er sich, als ob er alle Bedenken von den Schultern werfen wollte, und schritt entschlossen die Treppen aufwärts.

Eine Ueberraschung ganz eigener Art konnte ihm nicht erspart werden. Als ich anklopfte, entstand innen ein Geräusch, als ob ein Stuhl hastig fortgeschoben würde, und als wir auf das schüchterne „Herein“ einer weiblichen Stimme eintraten, stand – der Assessor vor uns. Vater und Sohn betrachteten einander verwundert, und der Alte hatte wahrscheinlich in diesem Augenblick überhaupt keinen andern Gedanken, als daß es höchst verwunderlich sei, seinen Sohn an diesem Orte zu treffen.

„Du hier?“ fragte er endlich, noch ganz betroffen.

„Bei meiner Tante,“ antwortete der Assessor, indem er sich der Dame im Trauerkleide zuwandte, die aufgestanden war und mich mit einem forschenden Blick ansah.

„Bei Deiner Tante,“ wiederholte der Meister mit halber Stimme, „so – so!“

Auf einem Stuhl am Fenster saß Ottilie. Sie hatte ein Knäul in den Händen, das zu der Baumwolle gehörte, die lose auf einem zweiten, mehr in die Stube hineingeschobenen Stuhl lag, den wahrscheinlich der Assessor verlassen hatte. Halb erschreckt, halb neugierig blickte sie, ohne sich zu regen, den Eintretenden entgegen, und eine dunkle Röthe überlief ihre Wangen, als sie begriff, um was es sich handelte. Sie nahm nun schnell das Gebinde Baumwolle auf und warf es in einen Arbeitskorb.

Ich machte der peinlichen und doch für den bloßen Zuschauer sehr komischen Scene ein Ende, indem ich den würdigen Meister Lange der Geheimen Räthin vorstellte und hinzufügte, daß derselbe die Güte gehabt habe, sich so eben als Vormund ihrer Kinder verpflichten zu lassen. Das bekümmerte Gesicht der armen Wittwe verklärte sich. „O! wie dankbar bin ich

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