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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


mehr thun konnte, als ein armer Dorfschuster. Aber ich hatte so meine eigenen Bedenken und konnte mit denen nicht sogleich fertig werden. Die Frau Meisterin, die mir ihr Haus anbot, war eine junge hübsche Wittwe, an die ich im Stillen viel mehr hatte denken müssen, als ich’s selbst wahr haben wollte. Und sie konnte wohl auch bemerkt haben, daß ich ihr herzlieb zugethan sei. Wer wollte ferner dafür garantiren, daß ihr Herz nicht auch ein wenig betheiligt sei? Wenn ich’s wohl bedachte, es konnte gar nicht anders sein. Und nun das Haus fast wie ein Geschenk von ihr annehmen und sie aus dem alten Besitze ziehen lassen, der mit ihrer Familie so eng verwachsen war, und gar nichts zu merken, das ging mir ganz gegen den Strich. Und andererseits wieder – ich war noch jung und die ganze Welt stand mir offen; ich konnte allenfalls nach Amerika auswandern und dort mein Glück versuchen. Wenn ich mich aber jetzt band, war’s zu Ende mit allen Träumen.

Die Meinigen redeten zu; sie wußten ja nicht, um was es sich bei mir handelte, und ich scheute mich, es ihnen zu sagen. So ging ich denn an das Grab meines Vaters und trug ihm meine Sache vor. Es antwortete keine Stimme daraus; aber in mir wurde es doch merklich klar und hell, und ich meinte nun deutlich meinen Weg zu sehen. ‚Was Einer ist, das soll er ganz sein,‘ hatte mein Vater so oft gesagt; ‚aller Unfriede des Gemüths stammt aus unserer Halbheit, daß wir nicht mit dem Herzen bei unserm Thun sind, sondern als eine Last tragen, was uns doch das rechte Gleichgewicht im Leben geben könnte, wenn wir es würdigen lernten.‘ Daran mußte ich nun viel denken, und es kam mir so vor, als ob ich selbst von der Halbheit nicht los könne und deshalb meinen Frieden nicht finde. Ich rechnete noch immer auf Dies und Das, was doch außer meiner Macht lag, und war lässig in Dem, was ich zu bewältigen vermochte. Ein Handwerker war ich geworden und wollte ich nun auch sein; aber mein Herz war noch nicht bei dem Handwerke, und so blieb ich ein halber Mensch, den seine Last drückte.

Das mußte anders werden, ganz anders. Der alte Handwerksmeister über der Thür setzte sich mir in den Sinn, wie er so stattlich dastand und mit Stolz zu sagen schien: ‚Das bin ich!‘ Sein Haus war klein und eng; aber er hatte doch ein Haus, und es war gerade groß genug für seine Bedürfnisse, gerade groß genug für die Frau Meisterin, die seine einfache Wirthschaft führte, und für die Gesellen und Lehrlinge, die darin Arbeit fanden und zum Rechten angehalten wurden. Er kam zu Wohlstand und galt etwas bei Seinesgleichen; die Zunft wählte ihn zum Aeltermann und der Rath zum Kramervorsteher, und er saß zuletzt auf der Schöffenbank und sprach den Bürgern Recht, nicht nach seiner Gelehrsamkeit, sondern nach seinem Gewissen.

Ich sah auch, wie er hinausgetragen wurde in einem schwarzen Rittersarge mit reichlichem Beschlage; sechs Jungmeister trugen ihn, und sechs Altmeister gingen voran, mit schwarzen Florschärpen an den Hüten und Citronen in den Händen; der Herr Stadtrichter folgte mit der Wittwe in einer Kutsche und dann das ganze löbliche Gewerk, immer Zwei und Zwei in langer Reihe; und Die auf der Straße standen und zuschauten, flüsterten einander zu: ‚Er war ein braver Mann; Gott schenke der Stadt viele dergleichen! Und war doch nur ein schlichter Handwerker – ein Schuster.‘ Nun, wenn auch gar Vieles in der Welt anders geworden ist, sein Haus steht noch und das Handwerk ist geblieben. Warum sollte nicht auch in unserer Zeit der rechte Mann zu Beidem sich finden können? Zu dem rechten Manne gehört aber auch die rechte Frau, und die ist schon gefunden. Ja, so soll’s sein!‘

Ich schrieb meiner Frau Meisterin einen Brief zurück, und der gefiel ihr wohl. Was sie antwortete, war von einem Schreiber zierlich aufgesetzt und auf ein Papier mit zwei flammenden Herzen geschrieben; aber darunter hatte sie mit eigener Hand beigefügt: ‚Ich danke Gott demüthiglich, daß er mir diese Freude schickt, da ich schon verzagte; ich will ihn immer vor Augen haben, daß ich Ihnen Alles recht mache, lieber Gotthilf; wenn Sie mich aber nur halb so lieb haben, wie ich Sie, so wird es mit seinem Beistande schon gehen. Zu Sonntag bestelle ich das erste Aufgebot, und über drei Wochen kann die Hochzeit sein – einen Leibrock und schwarzen Hut hab’ ich noch von meinem Manne, daran fehlt es nicht. Kommen Sie bald! Ich kann’s nicht so schreiben, wie ich’s meine; aber sagen werd’ ich’s können. Ich lache jetzt immer wie närrisch. Wir haben auch noch so viel miteinander zu reden, weil das Leder neuerlich aufgeschlagen ist. Also kommen Sie bald.‘

Das ist der einzige Liebesbrief, lieber Herr, den ich je in meinem Leben erhalten habe; darum kann ich ihn nach so vielen Jahren auch noch auswendig. Es hat aber auch noch einen andern Grund, daß ich ihn mir so gut merkte. Ich mußte doch nun meiner Mutter und meinen Schwestern etwas von der Sache sagen, und ich fing es sehr ungeschickt an, indem ich ihnen den erhaltenen Brief zeigte. Sie fanden die zwei flammenden Herzen, die geschrobenen Redensarten des Schreibers und die Nachschrift der Frau Meisterin selbst so komisch, daß sie in lautes Lachen ausbrachen und durchaus nicht daran glauben wollten, daß mir die Partie ernst sein könne. Darüber wurde ich sehr aufgebracht und entriß ihnen das Blatt. Nun hielt meine Mutter sich verpflichtet, in würdigerem Tone abzumahnen.

‚Da hat Dir wieder Dein gutes Herz einen Streich gespielt, Gotthilf,‘ sagte sie, ‚und es ist sehr ehrenwerth, daß Du die Frau in Schutz nimmst; aber Du würdest es bald schwer bereuen, wenn Du wirklich eine so ungleiche Verbindung eingehen wolltest; Du bist zwar ein Schuhmacher von Profession, aber des Pfarrers Sohn bleibst Du deshalb doch, und die ersten fünfzehn Jahre, die Du in Deinem Vaterhause unter gebildeten Menschen zugebracht hast, kannst Du nicht mehr vergessen. Glaube mir, die Meisterin ist keine Frau für Dich.‘

Diese Vorstellungen konnten nicht mehr Eindruck auf mich machen; ich war schon zu fest in meinem Entschlusse; sie wurden aber auch abgeschwächt durch die Sticheleien meiner Schwestern, die mich am leichtesten durch Spott meinten heilen zu können. Zuletzt, am Abend vor meiner Abreise, gab es einen sehr heftigen Auftritt zwischen uns, und ich schied mit der Gewißheit, daß auch diese letzten Familienbande für immer zerrissen seien.

Mein Wille aber war fest, alle Halbheit abzuthun und nach freier Wahl das ganz zu werden, was mir nun einmal vorbestimmt war. Ich heirathete meine Frau Meisterin und habe meine Wahl nicht bereut. Das alte Haus überkam ich mit Allem, was darin, als Heirathsgut, und unser gemeinsamer Fleiß hat es erhalten und wieder schmuck hergestellt. Meine Mutter unterstützte ich, so lange sie lebte, und sie hinterließ mir zum Dank dafür dieses Bild meines Vaters und jene Familienbibel, in der wir an jedem Sonntag Morgen lesen. Meinen Schwestern habe ich Stiftsstellen gekauft – gesehen habe ich sie nicht wieder. Von meinen Brüdern hat sich Keiner um mich gekümmert, und sie waren auch für mich todt. Die anderen sind mir gleichgültig geworden in den vielen Jahren; aber gegen den ältesten habe ich allezeit etwas empfunden wie Haß und habe mir’s nicht abwehren können, wie ich auch ankämpfte. Und so wissen Sie nun, wie ich der Schuster Lange geworden bin, den Sie kennen, und weshalb ich die Anzeige von meines Bruders Tode so erzürnt zurückwies. Nie, nie kann ich es ihm vergessen, daß er seinen Bruder verleugnet hat – auch im Grabe nicht!

Das ist meine Lebensgeschichte.“ –

Der alte Herr hatte sich gegen den Schluß hin sehr aufgeregt, unter seinem Sammetkäppchen vor perlten die Schweißtropfen über die Stirn, und der Blick, mit dem er zu dem Bilde seines Vaters aufsah, hatte etwas Flammendes, Verzehrendes. Er war doch noch nicht zur Ruhe gekommen, der gute Meister; er hatte sein Schicksal noch nicht überwunden, wie er doch meinte, und ich hatte in diesem Augenblick das sichere Gefühl, daß ich an diese Wunde nicht rühren dürfe, jetzt gewiß nicht. Ich reichte ihm also nur die Hand und sagte ihm Dank mit so viel Herzlichkeit, als ich in wenigen einfachen Worten äußern konnte. Das war ganz nach seinem Sinn. Er stand auf und bat mich, noch zur alten Mama hinüberzukommen, die gewiß schon lange mit dem Kaffee auf uns warte.

So war’s auch. Und die großen Tassen mit den Goldrändern, die neben der Kanne standen, hatten mir jetzt noch eine besondere Bedeutung; es waren sicher noch dieselben, aus denen die Frau Meisterin mit dem jungen Gesellen an jenem traurigen Sonntage getrunken hatte, als Beiden der Abschied so schwer wurde.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 545. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_545.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)