Seite:Die Gartenlaube (1873) 530.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


war. Ich möchte am liebsten rasch darüber hinwegeilen, lieber Herr; aber es ist Ihnen doch vielleicht die Hauptsache, und in der That, man muß es wissen, wenn man verstehen will, warum ich so und so handelte. Schon weit nach Deutschland hineingelangt, erkrankte ich an einem Fieber und konnte nur mit der allergrößten Anstrengung meinen Marsch noch einige Tage fortsetzen. Meine Geldmittel gingen bald aus, und arbeiten konnte ich nicht. Ich befand mich bald in der traurigsten Lage und sah mein Elend vor Augen, wenn nicht schnell geholfen wurde. Endlich erreichte ich, nur noch am Stocke mühsam fortschleichend, eine große Stadt, sank auf der Straße zusammen und wurde von mitleidigen Menschen in das Krankenhaus geschafft.

Hier vernahm man mich sorgfältig zu Protokoll. Ich mußte angeben, wo ich zu Hause sei, die Namen meines Vaters, meiner Mutter, meiner Geschwister nennen. Man schien sich über meine Angaben nicht wenig zu wundern.

‚Wie kommen Sie zu dieser Verwandtschaft?‘ fragte der Oberarzt, ‚oder wenn sie richtig ist, wie kommen Sie zu diesem Wanderbuch?‘ – Ich verstand ihn nicht. – ‚Sie sind also eines Pfarrers Sohn?‘ fragte er im Tone eines Inquirenten. – Ich bejahte es nochmals. – ‚Und längere Zeit in Frankreich gewesen?‘ – Ich wies auf die Bescheinigung im Wanderbuche hin. – ‚Als Schuhmachergesell?‘ – Er fixirte mich scharf. – ‚Darf ich einmal Ihr Ränzel untersuchen?‘ – Er wartete nicht meine Erlaubniß ab, sondern löste die Riemen und faßte hinein. Mir fiel ein, daß ich eine Anzahl französischer Broschüren über allerhand sociale Fragen, wie sie unter den dortigen Arbeitern umzulaufen pflegten, und auch verbotene Lieder die man in den Werkstätten sang, gesammelt und als Merkwürdigkeiten aus der Fremde mit über die Grenze genommen hatte. Dergleichen war zu jener politisch so traurigen Zeit in Deutschland streng verpönt, und ich mochte wohl ein sehr erschrecktes Gesicht gemacht haben, als diese Blätter zum Vorschein kamen. – ‚Ah, was ist denn das?‘ rief der Arzt. ‚Dachte ich’s doch gleich! Ja, es kommt jetzt mancher in der unschuldigen Handwerkerblouse über die Grenze, der geheime Absichten hat. Gestehen Sie nur lieber gleich, von welcher Universität Sie relegirt sind, damit es nicht unnützes Geschreibe giebt!‘ – Ich blieb, wennschon etwas verschüchtert, bei meinen Angaben. – ‚Und Sie haben wirklich einen Bruder, der Erhard Lange heißt und Regierungsassessor ist?‘ fragte er geärgert. ‚Wo wohnt er denn?‘ – Das wußte ich nicht zu sagen. – ‚Aha!‘ rief er. ‚Faule Fische, Bester! Wenn ich Ihnen nun sage, daß er hier wohnt –?‘

‚Hier?‘ zitterte ich auf’s Aeußerste erschreckt.

‚Hier in dieser Stadt,‘ bestätigte er, und daß er zur Zeit den abwesenden Polizeidirector vertritt und daß er in einer halben Stunde an Ihrem Bette stehen kann – wie dann?‘

Diese Nachricht verwirrte mich gänzlich. ‚Der Name Lange ist weit verbreitet,‘ stotterte ich, ‚und es wäre wohl auch möglich, daß zufällig derselbe Vorname –‘

‚Zufällig, zufällig!‘ grinste er. ‚Sie verzichten also gewiß darauf, dem Herren vorgestellt zu werden?‘ – Ich nahm allen meinen Muth zusammen und sagte, daß ich die Wahrheit gesprochen habe und daß sich’s ja zeigen werde, ob wir Brüder seien. Er entfernte sich nun mit den französischen Drucksachen.

Nach mehreren Stunden – es war inzwischen Abend geworden – trat der Oberarzt wieder an mein Bett. ‚Ich habe den Herrn Assessor Lange gefragt, ob er einen Bruder habe, der Schuhmachergeselle ist,‘ sagte er; ‚er hat es sofort auf’s Entschiedenste in Abrede gestellt. Ich zeigte ihm darauf Ihr Wanderbuch, und er erklärte, daß ihm ein Gotthilf Lange ganz unbekannt sei. Der Gang hieher war danach unnütz. Sie sollen ihm wegen der sehr verdächtigen politischen Brochüren vorgeführt werden, sobald Sie wieder gesund sind. Das Weitere wird sich finden.‘ Ich war so schwach, daß ich kaum seine Worte verstand und noch weniger darüber nachdenken konnte. Es mußte danach wohl ein Fremder sein, von dem er sprach.

Meine kräftige Natur half sich bei guter Pflege bald, an der man’s nicht fehlen ließ. Es schien mir, daß man mich sorgfältig bewachte. Eines Tages wurde ich für so weit genesen erklärt, daß ich in’s Polizeigefängniß abgeführt werden könnte. Die dringendsten Versicherungen meiner Unschuld halfen nichts. Einer der jüngern Assistenzärzte, ein freisinniger Mann, hatte mir einmal leise zugeraunt, daß der Oberarzt schnelle Staatscarrière machen wolle und sich durch dergleichen Polizeidienste zu empfehlen hoffe. Auch der Vertreter des Polizeidirectors sei ein sehr ehrgeiziger und auf politische Processe versessener Mann; es werde mir schlecht gehen, wenn ich mich nicht geschickt vertheidige. Traurige Zeiten damals!

Ich verlangte, dem Herrn Assessor Lange sogleich vorgestellt zu werden. Man brachte mich in sein Zimmer und ließ mich allein. Die Brochüren lagen auf dem Schreibtische. Nach einigen Minuten öffnete sich die Thür gegenüber und – mein Bruder Erhard trat ein.

Er hatte mich also schnöde verleugnet! Der Bruder hatte seinen Bruder verleugnet! Und weshalb? Um nicht bekennen zu müssen, daß der arme Handwerksbursch mit ihm Vater und Mutter theile. Franz war wenigstens ehrlich gewesen; er bewies mir, daß er von Herzen mein Bruder sei, und dann sagte er mir, daß er’s vor der Welt nicht zeigen könne; es schmerzte ihn selbst, der Sclave eines jämmerlichen Vorurtheils seines Standes sein zu müssen, und dieses Vorurtheil, darüber blieb mir ja kein Zweifel, war wirklich vorhanden. Aber Erhard! was zwang ihn zu solcher Entwürdigung aller heiligsten Familienbande? Nichts als der elendeste Ehrgeiz, sich einem Menschen gegenüber, den er im Innersten verachten mußte, keine Blöße zu geben. Und darum ließ er den Kranken im Spital, statt ihn in sein Haus aufzunehmen; darum litt er, daß sein Bruder in’s Gefängniß geführt wurde, während ein Wort ihn von jedem Verdacht befreien konnte – –! mein Herr, noch jetzt, wenn ich daran denke, wallt mein Blut auf, zuckt mir jeder Nerv. Ich kann’s nicht überwinden, selbst dem Todten kann ich’s nicht verzeihen.

Wie so oft Menschen, die ihr schlechtes Gewissen verstecken wollen, fand auch er es für gut, den Angreifer zu spielen. ‚So weit ist es also mit Dir gekommen,‘ rief er mir entgegen, ‚wie ein Vagabond ziehst Du durch das Land; mit den Feinden der Gesellschaft hast Du im Auslande geheime Verbindungen angeknüpft; das Gift, das sie bereiten, trägst Du schamlos Deinen Landsleuten zu! Und Du entblödest Dich nicht einmal, Deine Familie zu nennen, uns in Gefahr zu bringen!‘ – Das war zu viel. ‚Bube,‘ fiel ich ihm in’s Wort, ‚denkst Du Dich so zu rechtfertigen? Vor wem? Doch nicht vor Dir, doch nicht vor mir? Vergiß nicht, daß unser Vater hinüber ist, und daß sein Geist Dich Lügen straft vor dem Throne des Höchsten. Sprich einfach: was willst Du von mir?‘ – Er horchte unruhig nach der Thür. Man konnte vielleicht außen verstehen, was gesprochen wurde. ‚Diese französischen Brochüren,‘ sagte er mit leiserer Stimme, ‚könnten Dich in den schlimmsten Proceß verwickeln. Ich will sie verbrennen und die Sache todt machen; aber ich erwarte dann auch von Dir, daß Du noch diese Stunde die Stadt verläßst.‘ – Der Trotz regte sich in mir. ‚Ich werde nicht gehen,‘ rief ich, ‚bis ich gereinigt dastehe. Man wird ja Mittel haben, die Richtigkeit aller meiner Angaben zu erforschen; es wird sich ja feststellen lassen, daß Du mein Bruder bist!‘ – Er wurde aschgrau im Gesicht, und seine Haltung verlor alle vorige Straffheit. ‚Gotthilf,‘ sagte er plötzlich mit fast kläglicher Bitte, ‚das wirst Du nicht thun – bedenke meine amtliche Stellung, meine Aussichten, meine gesellschaftlichen Beziehungen –‘ Ich kehrte ihm den Rücken zu und verließ ohne ein Wort der Erwiderung das Zimmer. Eine Viertelstunde später wurde mir durch einen Polizeibeamten mein Wanderbuch zurückgestellt und angekündigt, daß ich entlassen sei.

Einige Wochen darauf kam ich hieher und in dieses Haus.

Der Meister Porsch war vor einem halben Jahre gestorben. Die Wittwe setzte nun zwar das Geschäft fort, das ihre einzige Nahrungsquelle war, aber einige fremde und unzuverlässige Gesellen hatten bereits so arg gewirthschaftet, daß sie in Schulden gekommen war und darauf denken mußte, das alte Haus zu verkaufen. In der Herberge, wo ich einkehrte, erfuhr ich davon, und man erzählte lachend von der altväterischen Einrichtung dieses Hauses und von der ehrsamen Wittwe, bei der es Niemand lange aushalten möge, weil sie ein ganz altmodisches Regiment zu führen liebe und so tugendsam sei, daß sie nicht einmal am blauen Montag einen freien Scherz erlaube. Das machte mich neugierig; ich klopfte bei ihr an und bat um Arbeit.“

(Fortsetzung folgt.)
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 530. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_530.JPG&oldid=- (Version vom 9.7.2021)