Seite:Die Gartenlaube (1873) 529.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Ich stürmte fort durch das Dorf zur Chaussee, und dann weiter, Meilen und Meilen die ganze Nacht durch. Am dritten Tage schrieb ich an meinen Vater einen Brief. Ihm die volle Wahrheit zu sagen, konnte ich mich nun doch nicht überwinden; sie hätte ihn zu schwer gekränkt. Ich wäre schon zu lange als Gast in seinem Hause geblieben, schrieb ich, und möge den Meinigen nicht länger zur Last fallen. Ein junger Handwerker gehöre auf die Wanderschaft, und es sei längst mein Entschluß gewesen, in die Fremde zu gehen. Daß ich ihm und der Mutter nicht Lebewohl gesagt, möge er verzeihen und nach meinen Gründen nicht fragen. Wenn mir’s in der weiten Welt gut gehe, werde ich von mir Nachricht geben.

Und so sprach ich denn bei meinem Meister nur an, um mich von ihm zu verabschieden, wie sich’s nach Handwerksgebrauch und Gewohnheit geziemte, und wanderte in die weite Welt hinaus. Ich sah viele Städte und lernte mancherlei Menschen kennen, fand überall Arbeit, blieb aber nirgends länger, als bis ich mir den nöthigen Wandergroschen zur Weiterreise verdient hatte. Alles, was sich im Handwerkerstande regte und bewegte, beobachtete ich genau und wußte bald gut Bescheid. Wo ich Zeitungen und Bücher erlangen konnte, las ich sie eifrig, und da ich dann immer viel Neues wußte und über mancherlei Dinge, die meinen Arbeitsgenossen zu hoch lagen, ein Urtheil abgeben konnte, war ich meist wohl gelitten. So vergingen zwei Jahre, ich wußte selbst nicht wie. –

Eines Morgens früh zog ich, das Ränzel auf dem Rücken und den Wanderstab in der Hand, in eine am schönen Rhein gelegene Stadt ein. Der Erste, der mir begegnete, war ein Officier, der mit seiner Mannschaft zum Scheibenschießen ausrückte. Ich erkannte auf den ersten Blick meinen Bruder Franz, und die Ueberraschung machte, daß ich stehen blieb und laut seinen Namen rief. Er sah sich nach mir um, musterte mich etwas verwundert, kehrte sich dann aber sofort wieder zu seiner Truppe zurück und marschirte weiter. Will er Dich nicht kennen? dachte ich – oder hast Du Dich wirklich so ganz verändert? Kann schon sein; ich war noch ein halbes Kind, als wir uns zuletzt sahen. Nachdenklich ging ich zur Herberge und nahm dort vorläufig Quartier. Gegen Abend kam ein Soldat und brachte einen Brief an mich. Mein Bruder schrieb mir, ich möchte ihn besuchen, er wohne da und da und werde auf mich warten. Erkannt hatte er mich also doch – wahrscheinlich hinderte ihn der Dienst, mich auf der Straße zu begrüßen.

Franz war mir von meinen Brüdern immer der liebste gewesen. Mehrere Jahre älter, als ich, hatte er doch mit mir noch längere Zeit zusammen im elterlichen Hause verlebt und sich immer als meinen Freund und Beschützer erwiesen. Er war eine heitere, gerade Natur, zu dummen Streichen aufgelegt, unvorsichtig, manchmal etwas leichtsinnig, aber immer gutmüthig und freigebig. Er hatte, wie ich wußte, dem Vater die meiste Sorge gemacht, und es freute mich nun, daß er’s doch glücklich bis zum Officier gebracht hatte. Er empfing mich auf’s Freundlichste, küßte mich rechts und links und theilte mit mir sein Abendbrod, zu dem auch eine Flasche Wein gehörte. Er ließ sich viel von meinen Fahrten und Erlebnissen erzählen und lachte munter, wenn ich berichtete, wie ich mich da und dort durchgeschlagen hätte. Wir kamen natürlich auch auf die Heimath zu sprechen, und da meinte er: ‚an uns Beiden hat der Vater eigentlich nicht recht gehandelt, Gotthilf; an Dir nicht, weil er Dich Schuster, an mir nicht, weil er mich Officier werden ließ.‘ Das überraschte mich; ich meinte, er hätte ja wohl allen Grund, mit seinem Schicksal zufrieden zu sein. Er lachte und goß ein Glas Wein herunter. ‚Es ist ein glänzendes Elend, Kind,‘ sagte er, ‚glaube mir. Ja, wenn man Vermögen hat oder reichlichen Zuschuß vom Hause –! aber so ganz auf sich angewiesen – man verbraucht mindestens das Doppelte von dem, was man hat, um nur anständig zu leben, und hat dann natürlich schon als Lieutenant Schulden wie ein Major. So wird denn immer ein Loch im Beutel zugeflickt, und nebenbei ein größeres aufgerissen; und klagt einmal so eine Bestie von Blutsauger auf einen verfallenen Ehrenschein, so ist’s mit aller Herrlichkeit zu Ende. Da ist’s nicht leicht, seinen guten Humor zu behalten, und ohne den wäre doch gar nicht zu leben. Dabei ewige Rücksichten auf den Rock, den man trägt!‘– ‚Wie das?‘ fragte ich, da er mich bei diesen letzten Worten so eigen von der Seite betrachtete. – ‚Wie das?‘ wiederholte er lustig. ‚Was meinst Du zum Beispiel, Gotthilf, wie sich’s machte, wenn ein Camerad dem Burschen draußen nicht glaubte, daß ich heute Abend nicht zu Hause sei, und bei mir einträte und Dich auf meinem Sopha sitzen sähe – hm? Und wenn ich Dich dann vorstellte: mein Bruder, der Schuhmachergesell Gotthilf Lange, auf der Wanderschaft angesprochen – hm?‘ Ich wurde bleich, wie die Wand, und stand auf. Franz zog mich auf das Sopha zurück. ‚Ueberleg’s vernünftig!‘ sagte er ernster, ‚ich kann nicht, wie ich will – mein Stand zehrt an mir. Du bist mein Bruder und wahrhaftig! ich habe Dich lieb, lieber als den Regierungsassessor, der ein ehrgeiziger und engherziger Bureaumensch geworden ist, und als den Rector, der Keinen für Gottes Geschöpf ansieht, mit dem er nicht Lateinisch sprechen kann – aber was hilft das? über gewisse Dummheiten kann ich nicht fort; einen Bruder, der Schuhmachergesell ist, darf ich nicht haben, und wenn ich ihn doch einmal habe, so darf ich nichts von ihm wissen. Deshalb thu’ mir den Gefallen und kenne mich auf der Straße nicht, besuche mich auch nicht, außer wenn ich Dich rufen lasse, und wenn Du uns Beiden am besten dienen willst –‘ Er stockte; ich aber schloß den Satz: ‚so geh’ möglichst bald Deiner Wege!‘ Franz sah mich treuherzig an und nickte. ‚So ist’s,‘ bestätigte er, ‚dumm genug, aber ich kann’s nicht ändern. Wenn Du Geld brauchst, ich will mit Dir theilen, was ich habe; ob ich bis zum zehnten oder fünfzehnten reiche, ist sehr gleichgültig. Nimm, so viel Du brauchst, meinetwegen auch das Ganze.‘ Er griff in die Tasche und warf eine Geldbörse auf den Tisch. Ich schob sie eilig zurück. ‚Es fehlt mir nicht daran,‘ versicherte ich, schroff ablehnend. Es war eine Lüge, aber wenn ich am nächsten Tage meinen Rock hätte verkaufen müssen, von meinem Bruder würde ich keinen Pfennig angenommen haben.

Der Wein schmeckte mir nicht mehr. Ich sagte, daß ich sehr müde sei, reichte Franz die Hand und ging. Ich wußte, daß wir uns nicht wieder sehen würden. Wir haben uns nicht wieder gesehen. –

Ich nahm in der nächsten Stadt Arbeit und wanderte dann weiter über die deutsche Grenze nach Belgien und sogar nach Frankreich hinein. Was ein Schuhmacher in der Fremde lernen konnte, das lernte ich. Dabei dachte ich nun unaufhörlich darauf, wie ich mir weiter helfen könnte über das gewöhnliche Ziel eines kleinen Handwerkers hinaus. Es kränkte mich, daß ich der Familie anhängen sollte wie eine verkrüppelte Frucht, die man am liebsten abschüttelte. Mir schwebte damals immer eine Fabrik vor mit breitem Schaufenster und großem Laden; ich dirigirte das ganze Geschäft von einem Comptoir aus, führte die Bücher, correspondirte, beschäftigte auswärts meine Arbeiter und hielt meine Commis und Ladenmädchen; ich nannte mich einen Fabrikanten und Kaufmann, bezog eine stattliche Wohnung und konnte meinen Brüdern schreiben, daß ich mit ihnen nicht tauschen möchte. Man hat Zeit, sich dergleichen auszumalen, wenn man auf dem Schusterschemel sitzt und einen Nagel nach dem andern in die Sohle klopft. Es fehlte ja nur noch das Anlagecapital, nichts weiter.

Aus Paris, wo ich mich über ein Jahr aufhielt und wirklich einen Theil meines Verdienstes bei Seite legen konnte, schrieb ich nach Hause. Ich sehnte mich schon lange, wieder einmal eine Nachricht von dort zu erhalten. Sie blieb auch nicht aus, versetzte mich aber in die größte Betrübniß. Mein guter Vater war gestorben und meine Mutter mit den unversorgten Töchtern in großer Bedrängniß zurückgeblieben. Meine Schwester schrieb, der Vater habe schon seit Jahren gekränkelt, etwa von da ab, wo ich ohne Abschied fortgegangen sei, worüber er sich am andern Tage sehr erschreckt gehabt habe. Sie hätten ihn seitdem nur noch selten froh gesehen; seine Sorgen und Bekümmernisse seien zu groß gewesen. Ich packte sogleich die Hälfte meiner Ersparnisse ein und schickte sie der Mutter. In Jahr und Tag würde ich zu Hause eintreffen, schrieb ich dazu, und sehen, ob ich den Meinigen nützlich sein könnte.

Es zog mich nun wirklich nach Hause zu meiner armen Mutter, zu meiner Schwester, vor Allem zu meines Vaters Grab. Und so beschloß ich, langsam, aber auf dem geradesten Wege zurückzuwandern. Ich könnte ja, meinte ich, hinterher wieder in die Welt hinaus.

Es sollte mir noch etwas begegnen, worauf ich nicht gefaßt

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 529. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_529.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)