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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


denen sonst kein Mensch im Dorfe etwas wußte. Dem muß es gut gehen, dachte ich, daß er noch genug für alle die kleinen Thiere hat und immer so lustig singen kann. Mein Entschluß war gefaßt. Er schien meinem Vater nicht sonderlich zu gefallen, aber er widersprach nicht. Schon am nächsten Tage nahm ich von meiner Mutter beweglichen Abschied und fuhr mit ihm nach der großen Stadt. Ich kam zu einem Meister, der nicht Vogelbauer am Fenster hängen, aber in der Werkstätte viele Gesellen sitzen hatte. Mein Vater ermahnte mich zu Fleiß und Gottesfurcht, und daß ich immer meinem Stande Ehre machen möchte. – Und so bin ich ein Schuhmacher geworden, lieber Herr.

Ich erzähle nicht im Einzelnen, wie es mir in der Lehre erging. Meister und Gesellen waren im Ganzen freundlich gegen mich; sie honorirten ‚des Pfarrers Sohn‘. Sehr bald kam ich aber dahinter, daß ich an Bildung Allen weit voraus war. Nicht daß ich gerade sehr viel mehr gewußt hätte als sie, aber ich sah doch alle Dinge anders an und fand wenig Gefallen an Dem, was sie ergötzte, und suchte mir dafür in allen Freistunden wieder eine Beschäftigung, die sie verlachten. Manchmal überkam es mich wie Furcht, daß ich mein ganzes Leben lang in diesem Kreise von Menschen zubringen sollte, die ich nicht verstand und die mich nicht verstanden; dann träumte ich mich in das Pfarrhaus zurück und in meines Vaters Studirstube, und seine Büchergestelle kamen mir nun so ehrwürdig vor, und die Federn auf seinem Schreibzeuge winken so geheimnißvoll mit den weißen Fahnen – – da so ganz allein im Lehnstuhl sitzen können und denken und schreiben und lesen – – !

Solche Anfechtungen gingen vorüber. Ich lernte geduldig meine drei Jahre aus, wurde feierlich als Gesell freigesprochen und arbeitete bei meinem Lehrherrn noch längere Zeit gegen Lohn. Es war mein Stolz, daß ich meinem Vater nicht zur Plage gewesen war. Ich schickte ihm ein Paar Pantoffeln von meiner eigenen Arbeit und erhielt dafür eine Einladung nach Hause. Wie ein echter Handwerksbursch reiste ich zu Fuß, das Ränzel auf dem Rücken, band ein rothes Taschentuch an meinen Stock, als ich in’s Heimathsdorf einrückte, und sprach im Vorbeigehen beim Meister Fröse an, als ob ich fechten wolle. Bald war die Dorfjugend um mich her und geleitete mich mit Gesang bis zum Pfarrhofe.

Mein Vater empfing mich an der Thür mit sehr ernstem Gesicht. Ich hätte wohl mehr Rücksicht auf ihn nehmen können, warf er mir vor. Die Mutter wunderte sich, daß ich so groß und stark geworden. ‚Er sieht gar nicht aus wie ein Schuhmacher,‘ sagte sie wie zu meinem Lobe, ‚nur die Hände verrathen ihn.‘ Das fand ich nun auch und versteckte seitdem gern meine Hände, besonders vor Fremden. Meine Schwestern begegneten mir nicht so herzlich und zutraulich, als ich’s nach unserem früheren guten Verhältniß erwarten durfte. Es kam mir so vor, als ob sie sich immer bemühten zu zeigen – namentlich in Gegenwart des Vaters – daß sie in mir einen Bruder sähen. Ich fühlte, daß ich im Vaterhause fremd geworden war und nicht recht heimisch werden konnte. Es mochte auch an mir selbst liegen. Immer kam es mir auf die Lippen, ‚Herr Vater‘ und ‚Frau Mutter‘ zu sagen, und in den ersten Tagen konnte ich nicht in’s Zimmer treten, ohne anzuklopfen. Was ich aus der Handwerkerstube erzählte, nach meiner Meinung ganz ernste und interessante Dinge, belustigte oder langweilte meine Umgebung; die Lieder, die ich gelernt hatte, sollte ich nicht singen, weil die Dienstboten lachten. Ich merkte, daß etwas mit mir vorgegangen sein müßte, worüber ich wohl Grund hätte traurig zu sein, ich wußte nur noch immer nicht recht, was.

Zum Unglück kam auch mein zweiter Bruder zum Besuch. Er war Rector an einer Stadtschule geworden, hatte die Tochter des Bürgermeisters geheirathet und stellte seine junge Frau nun den Eltern vor. Daß er mich fand, war ihm keine angenehme Ueberraschung. Er hatte mich schon als Gymnasiast immer etwas hochmüthig über die Achsel angesehen; nun las ich es ihm vom Gesicht ab, wie schwer er es überwand, als mein Vater mich seiner Frau als einen Schwager vorstellte und sogleich hinzufügte, daß ich ein braver Schuhmacher sei. ‚Du hast mir ja von diesem Bruder nie gesprochen,‘ wandte sie sich übereilt zu ihrem Mann. Es war mir ein Stich durch’s Herz. ‚Wirklich?‘ fragte er mit einem etwas verlegenen Seitenblick auf den Vater, und sie wurde blutroth. ‚Wenn man so viele Geschwister hat‘ – entschuldigte er. Ich fühlte, daß mir das Wasser in die Augen kam, kehrte mich ab und ging hinaus.

Es gab nun öfters Gesellschaft im Pfarrhause zu Ehren des jungen Paars, und ebenso kamen Einladungen auf benachbarte Güter, zum Domainenrath oder zum Oberförster. Man konnte mich im Vaterhause nicht gut übergehen, aber es gab jedesmal eine peinliche Minute, wenn ich mit den Gästen in unvermeidliche Berührung kam und Fragen und Antworten über mich hin- und hergingen. Mancher finstere Blick wurde mir zugeworfen, der mich verscheuchen sollte und verscheuchte.

Nur mein Vater hielt immer treu zu mir, und das danke ich ihm im Grabe. Sein Pflichtgefühl ließ die Zurücksetzung eines seiner Kinder nicht zu, und die Strenge, mit der er alle seine Grundsätze verfocht, nöthigte ihn auch, offen für den auf mich angewendeten einzutreten. Freilich konnte er dadurch nicht hindern, daß man mich heimlich bei Seite schob, wenn Besuche erwidert werden sollten; dann war gewöhnlich kein Platz im Wagen, oder es mußte Jemand zur Beaufsichtigung einer ländlichen Arbeit zu Hause bleiben, oder es gab ein Tanzvergnügen, bei dem ich mich doch nur entsetzlich langweilen würde, und was man sonst vorzubringen hatte. Ich wußte es damals nicht, aber jetzt weiß ich’s, weshalb mein Vater eines Tages, als sich wieder jeder Platz schon besetzt fand, selbst vom Wagen sprang und mich hinaufnöthigte. Nun rückten sofort die Uebrigen zusammen; aber er ging in’s Haus und gab dem Kutscher einen Wink abzufahren. Man war sehr still und verstimmt während der Fahrt. Es kam noch schlimmer.

Bald darauf wurden im Pfarrhause einige Gutsbesitzerfamilien erwartet. Meine Schwester Charlotte kam diesmal selbst in mein Dachstübchen hinauf, wo ich in meiner Gutmüthigkeit eine kleine Werkstätte zum Hausgebrauch eingerichtet hatte, um mir’s anzukündigen. ‚Ich denke, Du machst Dir aus dergleichen Gesellschaften gar nichts, Gotthilf?‘ holte sie mich aus; ‚Du siehst immer so gelangweilt aus.‘ Das mußte ich freilich bestätigen, aber ich setzte doch hinzu: ‚Ihr kümmert Euch auch so wenig um mich; es sieht fast aus, als ob ich Euch im Wege wäre.‘ Sie schlug die Augen nieder und lächelte verlegen. ‚Weißt Du, Gotthilf,‘ sagte sie nach einer Weile, ‚Du könntest mir einmal eine rechte Liebe erweisen.‘ – ‚Gern!‘ versicherte ich ganz arglos, ‚wie das?‘ – ‚Geh’ heute Abend aus,‘ antwortete sie, ‚oder komm nicht herunter! Aber Du mußt einen triftigen Grund dafür erdenken, sonst nimmt’s der Vater übel.‘– Ich mochte sie wohl sehr verblüfft angesehen haben, denn sie erläuterte sogleich selbst: ‚In Dietrichsfelde ist der Bruder der Frau zum Besuch, ein Herr von Tannstein, früher Cavallerieofficier und jetzt Landwirth; er bemüht sich sehr auffallend um mich – und es könnte sich wohl mit der Zeit etwas ereignen, wenn – – ich bitte Dich, Gotthilf, bleibe heut fort!‘ – Ich verstand sie jetzt. ‚Schämst Du Dich meiner?‘ rief ich ihr mit zitternder Stimme zu. – ‚Ach, schämen,‘ rief sie aus, ‚Du bist ja mein Bruder, aber wenn er hört, daß Du Schuhmacher – – Du darfst mir das nicht übel nehmen, aber bedenke doch: ein Herr von Adel und früherer Officier – und es wäre doch ein großes Glück für uns Alle – meinst Du nicht auch?‘ – Ich nickte zustimmend, ohne selbst zu wissen, daß ich’s that. ‚Mir ist heut nicht wohl,‘ würgte ich mühsam heraus, ‚sage das nur unten!‘ Sie dankte mir für meine Nachgiebigkeit und verließ mich offenbar sehr beruhigt.

Ich aber blieb zurück in traurigster Stimmung. Ich lachte laut auf, und gleich darauf stürzten mir die Thränen aus den Augen. Gallenbitter drängte sich’s mir von der Brust herauf und legte sich’s auf meine Zunge. Ich konnte meiner Schwester nicht einmal zürnen – sie hatte ja ganz recht und sorgte nur sehr menschlich erst für sich. Aber meinem guten Vater warf ich vor, daß er mich weniger geliebt hätte, als meine Brüder, daß er unväterlich an mir gehandelt. Meines Bleibens in seinem Hause durfte nicht länger sein.

Als es dunkelte, schnürte ich mein Ränzel, nahm meinen Wanderstock und ging ohne Abschied durch eine Seitenpforte hinaus, auf die Niemand achtete. Meine Schwester spielte im großen Zimmer Clavier und sang ein schwärmerisches Lied dazu. Herr von Tannstein hörte wahrscheinlich zu – es hing ein Paletot mit rothem Kragen und blanken Knöpfen im Hausflur.

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