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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

No. 33.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Schuster Lange.

Novelle von Ernst Wichert.
(Fortsetzung.)


„‚Gotthilf!‘ sagte mein guter Vater, ‚ich habe alle meine Kinder gleich lieb und ich wünschte, ich könnte ihnen das auch durch gleiche Zuwendungen aus meinem Vermögen beweisen. Aber ich bin mit zeitlichen Gütern wenig gesegnet und meine Kraft ist erschöpft. Deine Brüder können ohne meine Unterstützung nicht bestehen; hoffentlich kommen sie durch dieselbe so weit, daß sie einmal der Mutter und den Schwestern beistehen können, wenn ich unter dem grünen Rasen liege. Erhard hat, wie Du weißt, die Rechte studirt und arbeitet als Referendar unentgeltlich. Hugo ist Philologe und erwirbt zur Zeit nur wenig durch Unterrichten. Franz ist beim Militär eingetreten und braucht erhebliche Zuschüsse, um sich zum Officiersexamen vorzubereiten. Nur Emil, der die Landwirtschaft erlernt, hat durch besondere Begünstigung eine Stelle erhalten, die ihn nothdürftig nährt. Dir, mein Sohn, kann ich keine weitere Schulbildung zukommen lassen; Du wirst sie aber auch nicht brauchen, denn ich habe Dich für ein Handwerk bestimmt.‘

Ich hatte dergleichen Eröffnungen nicht erwartet, aber sie überraschten mich gleichwohl wenig. Daß meine Eltern mit großen Sorgen kämpften, sah ich ja täglich. Aus den Büchern machte ich mir nicht viel. Ein Handwerk freilich – daran hatte ich bisher nicht gedacht. Ich dachte auch jetzt nicht darüber nach, was ich davon zu erwarten habe, und antwortete, daß ich meinem lieben Vater gern die Entscheidung über mich anvertraue.

Mein Vater strich mir die Haare von der Stirn und küßte mich freundlich. ‚Wir können nicht Alle studirte Leute sein,‘ fuhr er fort; ‚die menschliche Gesellschaft ist vielgestaltig und braucht in allen Berufszweigen tüchtige Kräfte, um ihre höchste Aufgabe zu erfüllen. Nicht ob Jemand Beamter, Soldat, Lehrer, Kaufmann, Landwirth, Handwerker oder Tagelöhner ist, sondern ob er ein rechtschaffener, gewissenhafter, pflichttreuer Mensch ist – ob er an seinem Platze steht und nach seinem besten Wissen und Können sein Scherflein dazu beiträgt, uns das Gottesreich auf Erden näher zu bringen, darauf kommt es an. Wir Menschen sollen alle Brüder sein, Hoch und Gering, Arm und Reich, Gelehrt und Ungelehrt. Darum ist es gut, wenn in den Familien selbst zunächst unter leiblichen Brüdern jeder Unterschied des Standes aufgehoben wird. Handwerk, sagt man, hat einen goldenen Boden, und es will wirklich etwas bedeuten, ganz selbstständig und unabhängig zu sein und in jedem Lande, in jeder Umgebung von Menschen sich nützlich machen und sein Brod verdienen zu können. Wähle Dir also das Handwerk, das Du erlernen willst, und es wird mein Bemühen sein, Dich einem braven Meister zuzuführen.‘

Damit entließ er mich, und ich hatte nun Zeit, mich in der Welt nach dem Platze umzuschauen, auf den ich gestellt sein wollte. Meine Welt war damals aber sehr klein; sie reichte wenig über das Dorf hinaus, in dem ich geboren war, und wo ich freilich alle Leute gut kannte. Ich überlegte hin und her und konnte doch mit mir nicht in’s Reine kommen; an das Wichtigste bei der Wahl eines Berufes dachte ich gewiß zuletzt, oder gar nicht. Ich fragte auch meine Mutter um Rath, aber sie weinte nur und sagte: ‚Ich kann nicht entgegen sein. Gott mag es zum Besten wenden!‘ Ich verstand nicht, was sie bekümmerte, und ich tröstete sie damit, daß ich ein guter Mensch werden und allezeit meines Vaters Beispiel vor Augen haben wolle, den Alle liebten und ehrten.

Nun war ich ganz auf mich gestellt. Ich sah mich also im Dorfe um, was es da für Handwerker gebe. Der Vornehmste war der Müller; dann kamen der Bäcker, der Schmied und endlich der Schneider, die mir indessen Alle keine sonderliche Ehrfurcht abnötigten. Aber der Schuster Fröse – vor dessen Knieriemen hatte die Dorfjugend Respect. Er war des Schullehrers Bruder und in seiner Weise selbst ein Gelehrter, denn er hatte auf der Wanderschaft viel gesehen und erfahren und wußte den Bauern allemal guten Rath zu geben. Er war auch Kirchenvorsteher und Einsammler von Abgaben, ging Sonntags immer mit einem großen Rohrstock und sang in der Kirche so laut und sicher, als ob die Orgel nur zum Vergnügen des Organisten gespielt würde. Der war mein Mann.

Wenn ich ganz aufrichtig sein soll, so waren es aber hauptsächlich zwei andere Gründe, die meine kindischen Gedanken ihm ganz besonders geneigt machten. Ich mußte, wie ich schon erzählt habe, mitunter barfuß gehen, und wenn ich mich dessen auch nicht gerade schämte, so hatte ich doch allemal das peinliche Gefühl, ein recht armer Junge zu sein. Nach meiner Schätzung fehlte mir nie etwas, außer mitunter ein Paar Stiefel. Und nun schien es mir recht tröstlich, daß ich als Schuhmacher daran nie Not leiden würde. Aber es kam auch noch etwas Anderes dazu. Meister Fröse hatte an seinem Fenster, um das sich im Sommer wilder Wein ranke, ein großes grünes Bauer angebracht, in dem sich ein Staar befand, der prächtig pfeifen und auch einige Worte sprechen konnte. In anderen kleineren Bauern hielt er Canarienvögel und Zeisige, und wenn man vorüberging, klang es so lustig, wie die Vögel pfiffen und sangen und der Meister dazu hämmerte und klopfte. Er war immer munter und guter Dinge, ließ den Staar sprechen, wenn ich an’s Fenster trat, und trällerte die allerschönsten Lieder, von

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_527.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)