Seite:Die Gartenlaube (1873) 514.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Er sah mich überrascht an, als wäre ich jetzt erst gekommen, nickte mechanisch und ließ mich gehen, ohne mich zu begleiten. –

„Wie leicht man sich in Menschen täuschen kann!“ brummte ich mir vor, als ich langsam durch die kleine Schustergasse schritt. „Die rohe Natur bricht also doch durch. Sieht man Einen zehn und zwanzig Mal und er bleibt sich immer gleich, so meint man ihn ganz sicher zu haben, und es ist doch ein Irrthum. Man hat ihn eben nur zehn und zwanzig Mal von derselben Seite gesehen.“ –

Einige Tage später fand ich in einer auswärtigen Zeitung, die mir zufällig in die Hand kam, den Tod eines Geheimen Regierungsraths Erhard Lange in B. angezeigt. Sollte Der –? Ich mußte unwillkürlich an meinen Meister Lange und die letzte unangenehme Begegnung mit ihm denken. Aber Geheimer Regierungsrath –? Das hätte freilich Vieles erklären können.

Ich sollte nicht lange darüber ungewiß bleiben. Eine Woche später erhielt ich einen gar nicht übel geschriebenen Brief, in dem der Meister etwas wehmütig um Entschuldigung wegen seines ausfallenden Benehmens bat.

„Wenn Sie aber verstehen wollen,“ hieß es dann weiter, „weshalb ich in jenem schweren Augenblicke alle vernünftige Besinnung verlor, so müssen Sie freilich Vieles wissen, was vorhergegangen ist; denn im menschlichen Leben folgt immer Eins aus dem Andern, und wer nicht auf den Anfang zurückgeht, findet lauter Räthsel. Darum möchte ich Sie nun um die gütige Erlaubniß bitten, Ihnen aus meinem Leben erzählen zu dürfen. Es mag an sich kaum des Erzählens werth sein; aber es hängt doch etwas an mir, wovon sonst Leute meines Schlages nichts zu wissen pflegen, und wenn ich’s recht bedenke, so steckt darin allein der Grund von Allem, was Ihnen an mir gefällt und mißfällt.“ Er schloß mit der Bitte, ihm am nächsten Sonntag „nicht wieder vorbeizugehen.“

Natürlich ließ ich ihn nicht vergeblich warten.

„Hier sind wir ganz ungestört,“ sagte er, als er mich auf dem Sopha seines Putzzimmers sitzen hatte, „und auch aus anderen Gründen ist’s hier am besten zu Dem, was ich vorhabe. Dieses Zimmer fand ich schon ungefähr so vor, wie Sie’s jetzt nach sehen – nur die Bilder hab’ ich eingebracht.“

Er zeigte mit der Hand auf das Oelbild über dem Sopha hin. „Der dort war mein Vater,“ erklärte er.

„Ihr Vater?“

Er sah eine geraume Weile auf das Bild hin, als ob er auch mir Zeit lassen wollte, eine bisher nur oberflächliche Bekanntschaft zu vertiefen; sein eckiges Gesicht nahm mehr und mehr einen zärtlichen Ausdruck an. „Mein Vater!“ wiederholte er, eine Thräne aus dem Augenwinkel fortwischend. „O, er war ein Ehrenmann,“ fügte er hinzu, „ein Mann aus einem Stück, wie es deren jetzt nicht mehr viele auf der Welt giebt, und das eiserne Kreuz, das Sie auf seiner Brust sehen, hatte er sich im Befreiungskriege erworben, in den er als Student zog. Kein Würdigerer konnte es tragen. Ueber Alles ging ihm die Pflicht, und er ist zwar arm gestorben, aber gesegnet von Tausenden, denen er ein geistiger Vater geworden war.“

Er nickte dem Bilde freundlich zu, und dann sah er zur Erde und sammelte still seine Gedanken. „Vielleicht Keinem hat er so weh gethan, als mir,“ fuhr er fort, „aber auch das geschah in bester Meinung, und wenn ich’s zu einer Zeit nicht einsehen wollte, so war daran die menschliche Schwäche schuld, die ja so oft im Leiden ungerecht macht. Auch ich segne sein Andenken.“

„Ich stamme also aus guter Familie,“ begann er wieder nach einer Pause in verändertem Ton; „daß aus mir nichts als ein Schuster geworden ist, kann wohl auffallen. Wie die Leute nun einmal über dergleichen denken, werden sie sagen: der Gotthilf Lange hat wahrscheinlich in der Jugend nicht viel Gutes gethan, daß man ihn ausgestoßen hat, er hat ein Handwerk lernen müssen, weil er sonst zu nichts taugte. So war’s aber nicht, sondern es hatte andere Gründe, daß ich so kurz kam. Ich war nämlich das achte Kind, und noch nicht einmal das jüngste.

Mein Vater hatte, als er aus dem Kriege zurückgekommen war, so schnell als möglich seine Studien vollendet und eine Pfarrstelle auf dem Lande angenommen, um seine Braut bald heimführen zu können. Die Stelle war wenig einträglich, aber sie wurde ihm der Menschen wegen lieb, die seiner bedurften. Er traute die Paare, taufte die Kinder, geleitete die Alten zum Grabe, war in jedem Hause Freund und Rathgeber, Schiedsrichter bei allen Streitigkeiten, Fürsprecher in jeder Noth. Man bot ihm wiederholt eine bessere Pfründe an; aber er antwortete immer, ein Geistlicher solle nicht aus selbstsüchtigen Gründen wechseln, als sei das Amt nur seinetwegen da und das Einkommen die Hauptsache. Zuletzt gewöhnte man sich eben daran, ihn für abgefunden zu betrachten. Weltklug hatte mein Vater nicht gehandelt, das ist gewiß. Er hatte nicht daran gedacht, daß seine Bedürfnisse ganz natürlich mit der Zeit wachsen müßten und daß ihm dann alle seine guten Werke nicht helfen würden, die Noth des Lebens zu überwinden. Aber das war ja doch wieder sein Achtungswerthestes, daß er an so etwas nicht dachte, sondern seinen Weg geradeaus ging auf ein Ziel hin, das über dem gemeinen Irdischen stand. Wenn er sagte: Gott wird helfen, so rührte er zugleich doppelt thätig die eigenen Hände. Die Familie vermehrte sich schnell. Vier Söhne und drei Töchter wurden vor mir geboren, und mir folgte noch ein Bruder und ein Schwesterchen. Wir alle wollten genährt und gekleidet, vor Allem aber auch erzogen sein. Er unterrichtete mit Eifer die Knaben selbst, nahm dann zu seiner Unterstützung einen tüchtigen Hauslehrer zu sich, brachte die älteren Söhne nach der Gymnasialstadt in Pension und darbte sich das Brod vom Munde ab, um sie zu fördern. Ich glaube, sie haben sich niemals sonderlich den Kopf darüber zerbrochen, welche Opfer der Gute ihnen brachte.

Als ich heranwuchs, waren die Mittel des Haushaltes schon so geschwächt, daß der Lehrer entlassen werden mußte. Den drei Mädchen wurde eine Gouvernante gehalten. Sie unterrichtete auch mich, so lange es ging. Dann nahm sich mein Vater freilich auch meiner an, aber er war schon müde von seinem langjährigen Präceptoramt und die täglichen Sorgen schwächten noch mehr seine Kraft. Ich lernte fleißig, aber unregelmäßig, trieb mich viel im Wald und Feld umher, trug die abgelegten Kleider meiner Brüder gänzlich auf und ging wohl auch im Sommer barfuß, wie die andern Dorfkinder. Dabei blieb ich aber doch des Herrn Pfarrers Sohn in meinen eigenen Gedanken und nach der Schätzung aller Uebrigen. Nur wenn meine Brüder zu Ferien heim kamen, schämte ich mich, daß sie so viel mehr wußten und so viel besser gekleidet waren, als ich, und ich wagte nicht, meinen ältesten Bruder beim Vater zu verklagen, wenn er mich einen Bauerlümmel nannte, wozu er sehr geneigt war. Schon in meinem vierzehnten Jahre ging ich zum Confirmandenunterricht. Nach der Einsegnung nahm mich mein Vater auf sein Zimmer und eröffnete mir, daß er ein ernstes Wort mit mir zu sprechen habe. Ich vergesse diese Stunde nicht.

Er stellte mich vor sich hin und legte seine Hand auf meine Schulter.“



(Fortsetzung folgt.)



Ein Tempel der Zukunftsmusik.


Ueber und aus Bayreuth hat die Gartenlaube bereits früher so Vieles und so Eingehendes mitgetheilt, daß ein nochmaliges Zurückkommen auf das ehemalige und gegenwärtige politische und sociale Leben dieser Stadt hier nicht geboten erscheinen dürfte. Auch die künstlerische Bedeutung Bayreuths in vergangenen Tagen wurde bereits früher in diesem Blatte berührt.

Heute beschäftigen wir uns ausschließlich mit dem Wagner-Theater daselbst, welches in jüngster Zeit, mag man über dasselbe denken, wie man will, so viel von sich reden gemacht hat, daß es schon deswegen die Bedeutung eines Tagesereignisses in Anspruch nehmen darf.

Wenige Minuten vom Staatsbahnhofe, in nördlicher

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 514. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_514.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)