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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Ding seinen Liebhaber, wenn’s nur warten kann.“ Die alte Frau nickte freundlich, bot mir einen Stuhl mit schwarzem Pferdehaarbezug an und sagte immer nickend: „Ja ja, es ist auch ein gutes Haus, und hat noch Jeder darin sein Brod gehabt, mein Vater und mein Großvater und so weiter hinauf. Zeige einmal dem Herrn die Scripturen aus der Lade, Gotthilfchen! Sie sind ganz merkwürdig zu sehen. Da ist noch ein Bürgerbrief von Anno 1527 mit schönen Bildnissen, und das Schreiben vom Rath hundert Jahre später, worin bestätigt ist, daß in diesem Hause die Schuhe für die Prinzessin von Polen gemacht sind, welche sie auf ihrer Hochzeit getragen hat, wovon das Modell noch in der Putzstube sieht. Zeige doch, Gotthilfchen, zeige doch!“

Er suchte die Pergamente und vergilbten Papiere hervor, und sie wußte über jedes Bescheid. „Das soll man mir im Sarge unter den Kopf legen,“ plauderte sie weiter, „so wird’s am besten aufgehoben sein. Hat alles seine Zeit, Gotthilfchen, und dies da ist alt genug geworden in Ehren. Wer weiß, ob nicht der letzte Schuster in diesem Hause wohnt, und einem Andern hat’s keine Bedeutung. Ich hab’ immer gesagt: Gotthilfchen, laß unsern Sohn das Handwerk lernen! Das Haus ist eine gute Nährstelle; aber er hat durchaus studiren müssen, und Gottlob! wir haben’s ja dazu gehabt, und es wird ihm nicht fehlen, er mag anfangen, was er will. Aber das Haus wird er verkaufen und die alten Bürger- und Meisterbriefe nicht achten. Gieb sie mir mit in’s Grab, Gotthilfchen!“

„Wir leben ja noch,“ meinte er und streichelte über die Stuhllehne hinüber ihr Gesicht. „Wenn der Franz Diestel von der Wanderschaft zurückkommen wird, wollen wir ihn uns einmal ansehen. Er ist ja doch wie Kind im Hause, Mamachen, und Dir an’s Herz gewachsen, mehr wie Dein eigener Sohn.“

„Du sprichst nicht gut, Gotthilfchen,“ verwies sie ihn. „Was soll der Herr denken? Meinen Stolz habe ich auch, daß der Johannes ein Studirter geworden ist und zu hohen Aemtern gelangen kann, aber für uns ist er doch eigentlich verloren, seitdem er in die Pension gebracht wurde, und in dieses Haus gehört er nicht mehr hinein. Studirte Herren und Handwerksleute passen in derselben Familie nicht gut zu einander, Du weißt am besten, Gotthilfchen, und darum rathe ich immer: rufe ihn nicht her, damit wir ihn nicht geniren! Wie lieb wir ihn gehabt haben, wird er ja doch merken, wenn wir gestorben sind.“

In diesen Worten schien etwas zu stecken, das den Meister sehr unangenehm berührte. Seine lichtblauen Augen verfinsterten sich plötzlich. Die Brauen darüber zogen sich zusammen. Auf der Stirn zuckte es, und die Nasenspitze wurde ganz weiß. Er zog seinen grauen Bart zwei-, dreimal durch die Hand und ließ dieselbe dann zu einer Faust geballt auf die Lehne niederfallen. „Wenn mir so etwas durch mein eigen Fleisch und Blut geschähe –!“ murmelte er verbissen. Dann schien er ebenso schnell wieder auf andere Gedanken zu kommen, rückte das Käppchen aus der heißen Stirn und sagte mit etwas gezwungener Freundlichkeit: „man muß die Bäume wachsen lassen; daß wir sie pflanzen, ist unser Werk – das Gedeihen kommt von oben.“

„Amen!“ schloß die alte Frau und faltete die Hände.

Daß Lange einen Sohn hatte, erfuhr ich erst jetzt. Er war damals bereits Gerichtsassessor in B. und arbeitete im Ministerium, eine erwünschte Stellung als Richter abwartend. Lange versicherte, er hätte schon längst irgendwo im Hinterlande unter Dach sein können, aber er selbst habe immer gerathen, sich nicht jung begraben zu lassen. Seine Meinung sei überhaupt, Johannes solle nicht bei der mageren Justiz bleiben; es gäbe für tüchtige Leute bei anderen Behörden schnellere Beförderung, und der Sohn eines Schusters habe mehr Grund, als ein Anderer, zu zeigen, daß aus ihm etwas werden könne. Damit war er denn offenbar wieder auf den Punkt gekommen, dessen Berührung schmerzte, und die alte Frau redete nun sanft darüber weg und meinte, man müsse nicht stacheln und seiner eigenen Einsicht trauen. Es war überhaupt das freundlichste Verhältniß unter den Eheleuten. Durch Alles, was die alte Frau sprach, ging ein Ton von Zärtlichkeit und Zuthulichkeit, und er selbst behandelte sie mit fast kindlicher Rücksichtnahme.

Daß der Meister gelegentlich auch ein ganz anderes Gesicht aufsetzen könne, als das gewöhnliche, sollte ich zu meiner Ueberraschung ein andermal erfahren. – Bald nach mir trat nämlich der Briefträger ein und brachte Briefe. Meister Lange musterte die Adressen und nickte befriedigt. Zuletzt gab ihm der Beamte aber auch ein Blatt in die Hand, das ihn sofort sichtlich stutzig machte. Es war kein eigentlicher Brief, sondern nur ein einfach gefalteter schmaler Bogen Papier, den eine kleine Oblate mit eingepreßten Buchstaben mehr zusammenzuhalten als zu verschließen beabsichtigte, nach Art der Geschäftsanzeigen oder Einladungen. Auffallend war nur die schwarze Farbe der Oblate und der schwarze Rand des Blattes. Der Meister stand mir so nahe, daß ich ohne Mühe die Aufschrift lesen konnte; sie lautete: „An den Schuhwaarenfabrikanten Herrn Gotthilf Lange Wohlgeboren“, und trug den Poststempel B. Ob ihm nun diese Titulatur nicht gefiel, oder was ihm sonst durch den Sinn gehen mochte, so viel ist gewiß, daß sich sein Gesichtsausdruck merklich veränderte. Unschlüssig bewegten sich die Finger mehrmals nach der Stelle hin, wo die Oblate haftete, um immer wieder zurückzuzucken. Endlich stellte er, ohne das Siegel zu erbrechen, durch einen Druck auf die Kanten einen Cylinder her, in den er hineinsehen konnte. Ein flüchtiger Blick genügte, ihn über den Inhalt der Anzeige zu vergewissern. Sein Gesicht verfinsterte sich noch mehr. Mit einer heftigen Wendung reichte er dem Briefträger das Blatt und sagte barsch: „Wird nicht angenommen!“

Ich erschrak und wußte selbst nicht worüber. Offenbar hatte Lange eine Todesanzeige erhalten, die ihn nahe angehen mußte, und die Zurückweisung trug daher den Charakter der gröbsten Rücksichtslosigkeit. Der Briefträger mochte eine ähnliche Empfindung haben. „Das ist doch aber unzweifelhaft an Sie, Herr Lange,“ äußerte er zögernd.

„Ich weiß nicht,“ antwortete der Alte, sich abkehrend. „Ich bin kein Fabrikant, bin’s nie gewesen.“

In jedem andern Falle hätte ich diesen Grund der Abweisung bei einem Manne, der so viel Gewicht darauf legte, nur einfacher Handwerker zu sein, erklärlich gefunden; hier war er jedenfalls nur vorgeschoben. Das gab auch der Beamte zu verstehen. Lange blieb fest. „Gewissen Leuten wird’s schwer,“ knurrte er. „an den Schuster Lange zu schreiben, und von denen will ich mich am wenigsten Fabrikant schimpfen lassen. Sie wissen, was ich bin, und sie nennen mich nicht meinetwegen, sondern ihretwegen mit einem Titel, der ihnen besser klingt. Das sollen sie bleiben lassen!“

„Mich geht’s nichts an,“ meinte der Briefträger achselzuckend. „Aber an Sie ist nun einmal das Poststück, und wenn Sie’s nicht haben wollen, reist es mit der Aufschrift zurück: ‚Adressat verweigert die Annahme.‘ Wollen Sie das?“

Meister Lange nickte mit dem Kopfe, der mir heute viel eckiger vorkam als sonst, und winkte zugleich mit der Hand, daß die Sache abgethan sei. Der Postbeamte entfernte sich.

„Man meldet Ihnen den Tod eines Bekannten?“ fragte ich nach einer Weile, um das peinliche Schweigen zu durchbrechen.

„Meines Bruders,“ antwortete er noch in derselben verbitterten Stimmung.

„Ihres Bruders?“ rief ich überrascht und sehr unangenehm berührt.

„Freilich! Wir haben Vater und Mutter gemeinsam gehabt – sonst nicht gerade viel mehr auf der Welt. Seit vierzig Jahren kennen wir einander nicht. Nun weiß ich doch wenigstens, daß er gestorben ist und eine Wittwe hinterläßt.“

Er lachte recht eisig, daß mich’s fröstelte. Ich erkannte ihn kaum noch wieder, wie er das große Zuschneidemesser zur Hand nahm und das Stück Leder zerfetzte, das zufällig auf dem Tische lag. Es schien mir nicht angemessen, durch Fragen etwas aus ihm herauszuholen. Augenscheinlich handelte es sich um ein schweres Familienzerwürfniß, das ihm großen Kummer bereitet hatte. Ich stand auf und nahm meinen Hut; er bemerke es nicht einmal.

„Also todt – mein Bruder todt,“ murmelte er vor sich hin, einen Lederfetzen abreißend und in eine Ecke schleudernd. „Sterben müssen wir doch Alle einmal. Als ob das etwas so Besonderes wäre, daß darüber nach so langen Jahren noch ein Brief geschrieben werden mußte! Freilich nicht geschrieben, nur gedruckt: und die Aufschrift von irgendwem. Abgethan!“

Wieder flog ein Lederfetzen quer über die Stube. Ich legte meine Hand auf die seinige und sagte: „Adieu!“

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