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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


des Obercriminalgerichts gnädig gemildert habe; aber diese Milderung heißt: Verlust des Ranges und Adels, lebenslängliche Verbannung nach Sibirien und Zwangsarbeit.“

Von ihren Gefühlen übermannt, hielt die Dame einen Augenblick inne; dann rief sie: „Begreifen Sie den Schmerz einer Mutter, welche ihren blühenden geliebten Sohn auf solche Weise verlieren muß?“

Voll Mitgefühl wollte Emilie die Hand der Dame ergreifen, um sie an ihre Lippen zu ziehen; doch diese hatte jetzt mit beiden Händen das Schreiben erfaßt und drückte es krampfhaft zusammen.

„Nicht wahr, Sie geben Ihren Vorsatz auf, mich jetzt zu verlassen, Mademoiselle?“ sagte die Dame nach einer Pause.

„Ich darf es leider nicht – ich habe eine heilige Pflicht zu erfüllen –“

„Und wann wollen Sie gehen, Mademoiselle?“

„Wenn Sie gestatten, in vierzehn Tagen – mir bleibt noch viel zur Reise vorzubereiten.“

„Ich halte Niemand, der nicht bei mir bleiben will; auf Dank und Anerkennung muß man nicht rechnen.“

Hohes Roth überflog die Wangen Emiliens; nahe daran, eine stolze bittere Antwort zu geben, bezwang sie sich mit wunderbarer Gewalt, sagte leise: „Ich danke Ihnen, Madame!“ und verließ das Gemach.

Acht Tage später fuhr die alte Dame zu ihrem Sohne, dem früheren Rittmeister Iwascheff im Garderegiment, um ihm das letzte Lebewohl vor seinem Wege in die Verbannung zu sagen. Emilie hatte gebeten, sie begleiten zu dürfen – wahrscheinlich weil sie der leidenden Frau bei dieser erschütternden Scene nahe zu sein wünschte. Der junge, auffallend schöne Officier schien erstaunt, die Gesellschafterin seiner Mutter zu sehen, und sein wunderbar bewegter Blick ruhte einen Augenblick fragend auf dem Antlitz Emiliens. Diese schlug das Auge nicht auf, hielt sich im Hintergrunde des Zimmers und war anscheinend ganz in ihre eigenen Gedanken verloren.

Iwascheff, der eine edle, ungebrochene Haltung bewahrte, tröstete seine Mutter; er beschwor sie, sich zu schonen, sich für ihn zu erhalten, ein Wiedersehen läge ja nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit. In Thränen schüttelte die Mutter den Kopf; noch einmal umfaßte sie den theuern Sohn und brach dann schluchzend in die Worte aus:

„Ach, Alles könnte ich ertragen, wenn ich eine liebende Hand Dir nahe wüßte, die meine Stelle vertreten, Dich pflegen, für Dich sorgen würde. Aber Dich allein zu wissen, einsam unter Qualen und Entbehrungen –“

„Er wird nicht allein bleiben, wenn es nicht sein Wille ist,“ sagte plötzlich eine sanfte Stimme neben ihnen. Emilie war näher getreten und fuhr in tiefer Bewegung fort: „Vor Jahresfrist, Madame, gestand mir Ihr Sohn, daß er mich liebe, daß es kein Glück für ihn geben könne, falls ich ihm nicht angehöre. Ich zweifelte keinen Augenblick, daß seine Eltern, seine reiche und stolze Familie Himmel und Erde in Bewegung setzen würden, um ein solches Bündniß zu hintertreiben. Und später? Wenn auch seine treue Liebe schließlich gesiegt hätte – der Blüthenstaub des Glückes wäre in solchen Kämpfen doch verloren gegangen! Und tausend Netze hätte die große Welt um den schönen glänzenden Cavalier gewoben, die der Gattin Frieden wohl gefährden konnten. Ich sagte darum Ihrem Sohne, Madame, daß ich – – – ihn nicht liebe. Gott allein weiß, was diese Lüge mich gekostet hat. – – Heute wird mir den armen Sträfling Niemand streitig machen – – – und hat er seinen Sinn – – nicht geändert – – o, so folge ich ihm als sein hochbeglücktes Weib.“

„Theure Emilie, edles vortreffliches Mädchen!“ „Geliebte, unaussprechlich Geliebte!“ riefen Mutter und Sohn, und eine beinahe Ohnmächtige wurde von den Armen des jungen Mannes umfangen.

„Aber die Reise in die Heimath, theure Emilie?“ fragte die Mutter, indem auch sie das Mädchen zärtlich an sich drückte.

„Hier ist meine Heimath,“ entgegnete Emilie, indem sie den schönen Kopf an die Brust des Geliebten lehnte. „Die Reise war nur ein Vorwand, um – ohne Aufsehen zu erregen – meine kleine Habe ordnen zu können.“

„Emilie,“ sagte warnend die Mutter, „ich bewundere Ihren Heroismus, allein Ihr Körper ist zart. Sie kennen die Entbehrungen, die Qualen nicht, welchen Sie entgegen gehen.“

„Es giebt nur einen Weg des Heils für mich; Gott wird mit uns sein.“ –

Emilie Ledentu – so hieß das heldenmüthige Mädchen – ward die geliebte, alle Noth und Entbehrungen freudig theilende Gattin Iwascheff’s. Nach mehr als zwanzig Jahren der Verbannung durfte sie mit ihm zurückkehren und wurde von Allen, die in sich den Sinn für edle Eigenschaften des Weibes lebendig erhalten, mit Theilnahme und Bewunderung empfangen. –


Brunnen auf Eisenbahnstationen. Wenn unsere Freunde auf ihren sonnengluthigen Dampfwagenfahrten jetzt einen kühlen Trunk Wassers gratis erhalten, so mögen sie der Gartenlaube freundlichst gedenken. Es war Anfang Mai d. J., daß wir im Feuilleton unseres Blattes (Nr. 19) als „eine Forderung der Menschlichkeit“ den Wunsch aussprachen, auf allen Eisenbahnhöfen und Stationen Brunnen herzustellen, damit auch der Unbemittelte seinen Durst mit dem natürlichen Getränk stillen und der an Reinlichkeit Gewöhnte sich dann und wann die Hände waschen könne. Heute lesen wir in allen Zeitungen:

„Berlin, 10. Juli. Die Einführung der nachahmenswerthen Einrichtung von Brunnen auf den Eisenbahnhöfen steht demnächst auf sämmtlichen Staatseisenbahnen bevor, indem laut Anordnung des Herrn Handelsministers auf allen Bahnhöfen, entweder unmittelbar auf den Perrons oder in nächster Nähe derselben, Brunnen angelegt werden sollen, damit sich die unbemittelten Passagiere mit gutem Trinkwasser versehen und so ihren Durst stillen können.“ Bravo!


Die Frequenz unserer Universitäten ist bekanntlich stets eine sehr wandelbare, und zwar gilt dies, wie jüngste Erfahrungen beweisen, von den großen wie von den kleinen. Bis zum Wintersemester von 1871 auf 1872 behauptete Berlin noch die erste Stelle unter den deutschen Universitäten; es hatte 2603 immatriculirte und 1578 zum Besuch der Vorlesungen berechtigte Hörer, also eine Gesammtfrequenz von 4181. Die Wohnungs- und, wie man behauptet, auch noch andere gefährlichere Noth führten ein so beträchtliches Sinken der Berliner Hochschule herbei, daß das in jeder Beziehung glänzend gepflegte Leipzig es überflügelte. Während Berlin in diesem Sommersemester auf 1590 Immatriculirte hinabgegangen ist, fehlen in Leipzig nur noch 280, um die 3000 zu erreichen. Ebenso beachtenswerth ist die der üblichen Annahme, daß die Blüthezeit der kleinen Universitäten vorüber sei, widersprechende Erscheinung vom Emporsteigen einzelner derselben, wie namentlich Marburgs. In den letzten Zeiten der kurfürstlichen Regierung hatte die Zahl der Studirenden sich selten und wenig über 250 erhoben. Im Winter von 1866 auf 1867 sank sie sogar bis auf 245 herunter, weil damals überhaupt die Existenz der Hochschule in Frage gestellt war. Mit der Sicherstellung derselben begann ein auffälliges Steigen der Frequenz; ein uns von dort mitgetheiltes Verzeichniß der Hörerzahl von 1864 bis zur Gegenwart weist seit dem Sommer 1867 fünf Semester mit 300 bis 350, ebensoviel mit 350 bis 400 und sogar zwei mit mehr als 400 Hörern auf. Im Winter von 1870 auf 1871 zählte Marburg allerdings wieder nur 263, aber nur, weil viele seiner Studenten als Soldaten in Frankreich standen. Das laufende Semester hat 385 Hörer, worunter sich eine geringe Anzahl zum Besuch der Vorlesungen berechtigter Nichtstudenten befindet. Darnach bitten wir die Angabe über die Marburger Hochschule auf Seite 398 („Zwei Märtyrer-Denkmale“) abzuändern.


Einen doppelten Dank können wir heute allen den wohlwollenden Männern abstatten, welche auf die Notiz in Nr. 16, „Bittere Kriegsnachwehen“, uns mit Stellenofferten und guten Rathschlägen für den invaliden Officier so reichlich entgegenkamen. Der Betreffende hat bereits eins der eingelaufenen Anerbieten angenommen und für die nächste Zukunft, und hoffentlich für immer eine sorgenfreie Existenz gefunden. Aber nicht genug damit – wir sind durch die vielen Offerten auch noch in den Stand gesetzt worden, einem andern Hülfsbedürftigen die rettende Hand zu reichen, und müssen also auch für diesen zweiten Glücklichen noch unsern besondern Dank aussprechen.



Herman Schmid!

Wir eröffneten eine neue Subscription auf die zweite Auflage der

Volks- und Familien-Ausgabe
von
Herman Schmid’s gesammelten Schriften,

welche zugleich eine in der Erscheinungsweise vortheilhaftere Ausgabe derselben ist, insofern sie dem Publicum

(die erste Auflage erschien in Bänden à 7½ Ngr.)

zugänglich gemacht wird. Von den erschienenen Heften kann in allen Buchhandlungen Einsicht genommen werden.

Herman Schmid ist längst ein Lieblingsschriftsteller des deutschen Volks geworden – im Süden wie im Norden haben die Erzählungen aus den bairischen Bergen, seiner Heimath, sowohl, wie die mit geschichtlichem Hintergrunde wegen ihrer spannenden, eigenthümlichen Stoffe und wegen der bei aller Einfachheit kunstvollen Form gleichmäßig großen Beifall gefunden und sich insbesondere durch ihren gemüthvollen, durchaus reinen Inhalt das Bürgerrecht in der Familie erworben. Die Volks-Ausgabe seiner sämmtlichen erzählenden Schriften, deren erste Auflage trotz der kriegerischen Unterbrechung der letzten Jahre längst vergriffen ist, wird daher gewiß auch in zweiter, durch die neueren Erzählungen, wie „Bergwirth“, „Gasselbuben“, „Zuwiderwurzen“ etc. etc. vermehrten Auflage sich der allgemeinsten Theilnahme zu erfreuen haben.

Die Verlagshandlung von Ernst Keil in Leipzig.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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