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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Wir könnten die hier mitgetheilten Charakterzüge und Anekdoten aus dem Leben Uhland’s noch um eine beträchtliche Zahl vermehren, wenn wir nicht einerseits unsere Leser damit zu langweilen, andererseits aber dem bereits oben angekündigten längeren Artikel über den Dichter vorzugreifen fürchteten. Also für heute genug vom alten Uhland!




Grammatikalisches Sündenregister. Schreiber dieser Zeilen ist ein sprachrichtig fühlender Mensch und – ein Schulmeister. Deshalb passirt es ihm nicht gar selten, daß er mitten in der Entwicklung eines originellen Gedankens, durch den ein begabter Autor jeden aufmerksamen Leser fesselt und erwärmt, hängen bleibt, stockt, strauchelt – über das Strohhälmchen einer grammatikalischen Unrichtigkeit. Bald ist’s eine persönliche Unachtsamkeit des Autors, bald einer jener gerade in unserer Zeit immer mehr einreißenden Verstöße gegen die Grundregeln und den Geist unserer Sprache. – Zur ersten Kategorie gehört die nicht seltene Vermengung zweier Constructionen, woraus dann eine grammatische Unmöglichkeit hervorgeht, wie zum Beispiel: „Die Nachwelt wird um einen gediegenen Vortrag beraubt“ – entstanden aus den beiden Sätzen: „Die Nachwelt wird um einen gediegenen Vortrag ärmer“ und „die Nachwelt wird eines gediegenen Vortrages beraubt“. – Die andere Fehlerkategorie ist ganz geeignet, einen pedantischen Grillenfänger zuweilen ganz aus dem Häuschen zu treiben. So giebt es Autoren, die sich ein wahres Vergnügen daraus zu machen scheinen, die wenigen Reste von Declination, welche in unserm Neuhochdeutschen noch geblieben sind, auf ein Minimum zu reduciren. Besonders kühlen sie am Genitiv ihr Müthchen. Da liest man mit Staunen und Grauen: „Des König Wilhelm“, „des General Steinmetz“, ja sogar – es ist schrecklich, aber wahr! – „des Wagenlenker“. Was hat Ihnen das unglückliche Genitiv-S zu Leide gethan, meine Herren und – beileibe nicht zu vergessen! – meine Damen? – Als ich mich in diesen Angelegenheiten eines Tages brieflich an meinen ehemaligen Lehrer, Professor Aug. Schleicher in Jena, wandte, eine der größten linguistischen Autoritäten unserer Zeit, antwortete er mir, er schreibe sogar: „des Kaisers Friedrich’s“. Der Brief ist noch vorhanden und steht zur Verfügung.

Wieder ein Gebot ist: Du sollst die Apposition in denselben Fall mit ihrem Beziehungsworte setzen! Gleichwohl schreibt der Eine: „In Hindustan, ein Land von überwältigender Fülle der Vegetation,“ – anstatt „einem Lande“ etc.; und ein Anderer muthet uns den Satz zu: „Mit dem Bruder Andreas, ein menschenscheuer tiefsinniger Mönch,“ – anstatt „einem menschenscheuen“ etc.

Trotz aller sonstigen Gelehrsamkeit unserer Tage ist das sprachliche Feingefühl unleugbar im Sinken begriffen, und man muß sich mit Schleicher trösten, der uns, seinen Schülern, beim Schlusse seiner Vorlesung über Sprachengeschichte zurief:

„In historischen Zeiten, meine Herren, entwickeln sich Sprachen nicht. Sie verfallen vielmehr in ihrer lautlichen Formvollkommenheit. Je älter, desto formvollkommener ist jede Sprache. Der Inhalt einer Sprache wird mit der zunehmenden Intelligenz des Volkes im Laufe der Zeit reicher, tiefer, aber die Form zersetzt sich, verfällt. Diesem Gesetze ist jede Sprache unterworfen.“ Der Gelehrte pflegte sodann auf das Englische hinzuweisen, eine in Bezug auf die Form gänzlich zersetzte und verkommene Sprache. Während uns Deutschen von der allerdings schwerfälligen, aber volltönenden gothischen Form habedaudames (haben thaten wir) nur noch das dürftige „hatten“ übrig blieb, war dem Engländer auch dieses noch zu viel, und er ließ sich an dem äußerst dürftigen „had“ genügen, denn – Zeit ist Geld, und das kindliche Wohlgefallen an schönen Sprachformen kostet zu viel Zeit und bringt nichts ein.

Besonders ist die Gleichgültigkeit gegen die Wortendung im Wachsen begriffen, ganz wie zur Zeit der verfallenden Latinität. Viele schreiben bereits: „mit grauem schlesischen Marmor“; und ein paar Verfasser von elementaren Lehrbüchern der Grammatik machen sogar den naiven Versuch, diese Ungrammatik in ein System zu bringen und eine Regel folgendes Inhalts zu fabriciren: „Stehen zwei oder mehrere Adjective ohne Artikel, Für- oder Zahlwort vor einem Hauptworte, so biegt in den abhängigen Fällen nur das erste wie der bestimmte Artikel, die übrigen biegen schwach.“ Aus welchem Grunde denn diese Abweichung von Allem, was folgerichtig ist? Warum quälen sich die Herren denn so, die mißbräuchlich eintretende Abschleifung der Endung in eine Regel verwandeln zu wollen? Classisch gebildete Autoren (zum Beispiel Gustav Schwab, Kriebitzsch und Andere) bleiben Ihrer „Regel“ zum Trotze hartnäckig bei „grauem schlesischem Marmor“, und ich auch. Denn Ihre „Regel“, meine Herren, hat, ganz abgesehen davon, daß es Ihnen schwer fallen dürfte, dieselbe zu begründen, eine außerordentlich schwache Seite. Diese liegt, wie gewöhnlich die schwachen Seiten, im weiblichen Geschlecht. Könnten Sie es wirklich über sich gewinnen zu schreiben: „mit schöner frischen Butter“ und „auf öder dürren Weide“? Sie werden sich doch wahrscheinlich zu „schöner frischer Butter“ und „öder dürrer Weide“ bekennen. Das knarrende r hat auch für Sie zu viel Ellenbogen und läßt sich nicht so leicht wie das schwachmüthige m abschleifen und auf die Seite schieben. Wo bleibt nun aber, Ihre „Regel“ bei solchen Ausnahmen?

Der Streit, meine Damen, über „buk“ und „backte“, „frug“ und „fragte“ erledigt sich ziemlich einfach durch den Hinweis auf das Streben unserer neuhochdeutschen Sprache, wo nur irgend möglich anstatt der ältern sogenannten starken Form eine neuere schwache zu bilden. „Buk“ und „frug“ sind nun eben die alten Formen, starke genannt, weil sie ohne Hülfe allein durch Brechung des Grundvocals eine andere Zeit herzustellen vermögen, während die schwache Form „backte“ und „fragte“ als Flexionhülse die Wurzel des Verbs „thun“ heranzieht. „Ich backte“ und „ich fragte“ bedeutet daher eigentlich: „ich that backen, „ich that fragen“. Von regelmäßiger und unregelmäßiger Conjugation kann in solchen Fällen nicht die Rede sein, höchstens von alter und neuer.

Zu den rügenswerthesten Unarten, welche sich selbst in die Sprache der Gebildeten immer mehr einschleichen, trotzdem sie im geraden Gegensatz zum Sprachbewußtsein stehen, gehört ferner der Gebrauch der Partikel „wie“ nach dem Comparativ der Ungleichheit. „Wie“ drückt nur die Gleichheit zweier Dinge aus; es kann also durchaus nicht die Verschiedenheit ausdrücken, sonst verliert es seine Bedeutung. Man kann sagen: „ich bin so groß wie Du“ und „so groß als Du“, aber nur: „ich bin größer als Du“.

Und nun, meine Herrschaften, genug von diesen trockenen Dingen! Leben Sie wohl und lassen Sie meiner wohlgemeinten Strafpredigt freundliche Nachsicht angedeihen! Kann auch der lautliche Verfall der Sprache, wie der gelehrte Schleicher sagt, durch Nichts aufgehalten werden, so ist es meines Erachtens doch noch bester, der Symptome des beginnenden Verfalles sich deutlich bewußt zu werden, als das ganz in der Ordnung zu finden oder gar als „Regel“ fixeren zu wollen, was eben nur Zeichen der anfangenden Zersetzung ist. Wie in jeder Erkenntniß, so liegt auch in dieser eine gewisse Befriedigung.

D.




Aus den Aufzeichnungen einer vornehmen Russin. Mit klingendem Spiel zog an einem heitern Sommermorgen des Jahres 1826 ein Garde-Regiment durch die noch öden und stillen Straßen von St. Petersburg. Aus den unteren Stockwerken der Häuser eilten Erwachsene und Kinder auf die Straße, theils um besser die Klänge des Siegesmarsches zu hören, welchen das Musikcorps gar trefflich aufführte, theils um sich an dem Anblick der stattlichen Truppe zu erfreuen. Auch manch hübscher Mädchenkopf ward an den Fenstern der eleganteren Gebäude sichtbar und blickte mit unverhohlenem Interesse auf die schlanken Gestalten der Officiere, welche voll Manneskraft ihre prächtigen Rosse zügelten.

Ganz im Gegensatz zu der freudigen Aufregung, welche sich bei so vielen Zuschauern dieses militärischen Schauspieles kund gab, eilte eine junge Dame – die den Kopf auf die Fensterbrüstung eines reich ausgestatteten Zimmers gelehnt hatte – bei den ersten Tacten des Marsches und nachdem sie einen flüchtigen Blick auf die Truppe geworfen, mit leisem Aufschrei in ein Nebenzimmer und bedeckte das schöne bleiche Antlitz mit ihren Händen. Die schmerzlichsten Erinnerungen mußten in ihr wach geworden sein, denn heiße Thränen quollen zwischen den schmalen Fingern hervor und mit dem Ausruf: „Wie anders war’s vor einem Jahr! O, mein Gott, gieb mir Kraft dieses furchtbare Geschick zu tragen!“ sank das Mädchen auf die Kniee.

Das inbrünstige Gebet, welches sie zum Vater dort oben ausströmte, schien ihre Seelenpein zu lindern, denn allmählich gewannen die Züge des Mädchens einen ruhigeren Ausdruck, und als ob eine Inspiration aus jenen seligen Höhen, zu welchen der Geist sich eben aufgeschwungen, ihr geworden sei, verklärte plötzlich ein Hoffnungsstrahl das edel geschnittene Gesicht.

In einem luxuriös möblirten, mit den kostbarsten Nippes und andern Mode-Spielereien überreich versehenen Zimmer desselben palastartigen Gebäudes ruhte zwei Stunden später eine ältere Dame auf einem niedrigen Divan. Ein Gewand von schwarzer Seide umschloß ihre Gestalt, und die stark gerötheten Augen blickten starr auf ein Blatt Papier, das sie mit ihrer weißen, aristokratisch feinen Hand convulsivisch hin und her bewegte.

„Madame,“ meldete eine Dienerin, „Mademoiselle Emilie läßt bitten, ihr eine kurze Unterredung gewähren zu wollen.“

„Zu so früher Stunde?“ erwiderte die Dame in verwundertem Ton. „Laß sie eintreten!“

Emilie, das junge Mädchen, welches wir im heißen Gebet verlassen, öffnete leise die Thür und trat in bescheidener, doch würdiger Haltung ein. Sie war einfach gekleidet, allein das ganze Arrangement ihrer Toilette zeigte von feinem Geschmack und alle ihre Bewegungen verriethen Anmuth und Sicherheit. Emilie schritt zu dem Fußende des Divans, und die Dame wendete ein wenig den Kopf nach der Seite, auf welcher Emilie stand, ohne jedoch ihre bequeme Stellung zu verändern. Hierin lag nichts Ungewöhnliches, denn die Dame war die stolze Herrin des Hauses, das junge Mädchen nur ihre Gesellschafterin. Dennoch glitt heute ein Schimmer von Röthe über die Wangen Emiliens, und sie schien durch das Benehmen der Dame sich verletzt zu fühlen.

„Madame, ich komme mit einer Bitte,“ begann sie zögernd.

„Sprechen Sie, Mademoiselle!“

„Ich bitte, mich aus meiner Stellung in Ihrem Hause zu entlassen, Madame.“

„Und weshalb, Mademoiselle?“

„Ich erhielt traurige Nachrichten aus der Heimath, – man bedarf meiner.“

Egoistisch, wie leider die Mehrzahl der Reichen, vom Glück Verwöhnten es ist, hielt die Dame es nicht für geboten, nach dem Kummer den Mädchens zu fragen, die seit zwei Jahren ihre Hausgenossin war und sich stets eifrig bemüht hatte, Langeweile und üble Laune von der Herrin fernzuhalten oder zu verscheuchen. Mit einem Tone unverkennbarer Gereiztheit entgegnete sie:

„Und gerade jetzt, Mademoiselle, wo ich in meinem Schmerz Sie mehr als sonst vermissen würde, wollen Sir von mir gehen?“

„Ein unabwendbares Geschick nöthigt mich dazu, Madame,“ hauchte leise Emilie.

„Wissen Sie, was dieses Schreiben enthält?“ fragte die Dame, indem sie auf den Brief wies, welchen sie noch immer in der Hand hielt und dessen Inhalt sie – ach, wie viele Male schon! – gelesen hatte.

„Ich ahne es; Herr Annenkoff sagte mir gestern, daß das Urtheil über die Decembristen[1] gesprochen sei.“

„Nun wohl, alle Schritte unserer Freunde sind vergeblich gewesen. General L. schreibt mir, daß Seine kaiserliche Majestät den Urtheilsspruch

  1. Decembristen nannte man Diejenigen, welche sich an der Verschwörung, die am 14. December 1825 – bei der Thronbesteigung von Kaiser Nikolaus – ausbrach, betheiligt halten.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 493. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_493.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)