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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


habe. Des Vorgefallenen, der ganzen Vergangenheit wurde nicht erwähnt, die Zukunft war es, die ihn ausschließlich beschäftigte. Er kündigte ihr seinen Entschluß an, den Lindhamerhof zu verlassen, und sie widersprach nicht, weil sie wohl begriff, daß es ihm unerträglich sein mußte, an dem Orte, der seine Heimath, seine Freude und sein Stolz gewesen, unter fremden, vielleicht mißgünstigen Leuten als ein Gegenstand der Abneigung oder mindestens des Mitleids einherzugehen, wie er vielleicht gekonnt hätte. Sein Recht auf Wohnung und Austrag war als Grundlast auf dem Gute versichert und bestand fort, wenn auch die bedungene Ausstandssumme als verloren betrachtet werden mußte; aber er zog es vor, sich sein Reichniß, wenn auch um einen noch so geringen Preis, ablösen zu lassen; was er dafür erhalten würde, dünkte ihm immer noch hinreichend, die kurze Lebenszeit zu fristen, die er sich noch gegönnt glaubte. Er hatte Th’res beauftragt, in dem nahen Aibling nach einer kleinen, wohlfeilen Wohnung umzusehen, wo der einst so reiche Bauer mit seiner Schmach und Armuth sich verbergen könne. Auch ihr schien dieser Ausweg der beste, wenn sie auch in herzbrechender Wehmuth der Nothwendigkeit gedachte, von dem Orte zu scheiden, wo ihr so viel Gutes geworden, wo sie so viele geheime Freude gefunden, und der ihr durch das dort erlittene Leid nur noch theurer geworden. Auch hoffte sie, in dem gewerbsamen, bewegten Markte Arbeit und Verdienst zu finden, die ihr eine zerstreuende Thätigkeit, für den Alten aber die Mittel gewinnen sollte, seine doppelt verfinsterten Tage mindestens in Etwas zu erhellen. Sie gedachte auch, daß es ihr von dort aus leichter sein würde, Nachricht von Mutter und Schwester zu erhalten, denn seit der Erzählung des Alten war es in ihr aufgegangen, wie eine neue bisher im Boden verborgene Quelle, die, plötzlich an das Tageslicht emporsprudelnd, eine Fülle neuer Gedanken und Empfindungen, wie Wellen, mit sich brachte. Der Lindhamerhof, das fühlte sie tief, war und blieb ihre Heimath; an den Menschen, die sie hier kennen gelernt, hing ihr Herz mit allen Fasern der Liebe und des Glückes; doch seit sie wußte, daß auch anderswo Herzen schlugen, die ihr so nahe angehörten; seit sie wenigstens beiläufig den Ort kannte, wo sie eine Schwester und eine Mutter suchen durfte, war ihr eine ganz neue Welt aufgegangen.

Obwohl, wie ihr der Alte auf spätere Fragen gesagt, seit jenem Augenblicke am Grabe ihres Vaters Niemand von den Ihrigen auch nur mit einem Worte nach ihr gefragt hatte, war es ihr doch ein eigenthümlich süßer und schmeichelnder Gedanke, wenn sie vor’s Haus trat und die längst bekannten und vertrauten Berge vor sich liegen sah. Jetzt kamen sie ihr vor wie ein Wall, der sie von ihren natürlichen Angehörigen trennte, und wenn es sonnenhell auf die Spitzen und Gipfel schien, während draußen im Lande Schatten lagerten, war es ihr wie ein Fingerzeig von oben, der ihr dahin deuten und sie führen wollte. Ihr Entschluß stand fest, sie wollte getreulich bei dem alten Lindhamer aushalten, so lange er ihrer bedurfte; das sollte sie aber nicht hindern, über die Ihrigen Erkundigung einzuziehen und, sobald sie frei geworden, sie aufzusuchen.

So war sie Morgens im Markte gewesen, hatte glücklich eine Wohnung ausgekundschaftet und kam gegen Mittag eben noch rechtzeitig heim, um dem Alten die Suppe zu kochen und ihm beim Genuß derselben die Neuigkeiten zu erzählen, die sie mitgebracht.

„Du meinst also,“ sagte der Alte, „das Logis wird für uns taugen?“

„Gewiß,“ sagte Th’res; „es ist eine große Stube, wo wir den Tag über sein können, und ein paar Kammern, in denen wir schlafen; hinten am Haus aber ist ein Garten mit Obstbäumen; da könnt’ Ihr Euch an’s Fenster setzen und die Luft zu Euch hereinlassen, und die Kirche ist auch nit weit –“

Der Alte nickte. „So hast Du wohl gleich eingestiftet?“ fragte er.

„Nein, das hab’ ich nit gethan,“ erwiderte zögernd Th’res und fuhr, als er verwundert nach der Ursache fragte, in gleichgültig sein sollendem Tone fort: „ich hab’s nit thun wollen, ohne Euch noch einmal zu fragen.“

„Zu was die Umstände?“ rief der Alte. „Ich hab’ Dir freie Hand gelassen; mir muß es doch recht sein, in welchen Winkel man mich hineinschiebt, bis man mich in den letzten hineinlegt, in den an der Kirchhofmauer …“

„So müßt Ihr nit reden,“ sagte Th’res; „es steht wohl noch bei Euch, wo Ihr bleiben wollt, und – damit ich es nur sage – die Wohnung hab’ ich nit gestiftet, weil es Euch nur ein Wort kostet, dann könnt Ihr auf dem Lindhamerhof bleiben.“

(Fortsetzung folgt.)




Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
IX.


Der Erfolg ist ein kräftiger Magnet, der Ruhm leuchtet wie ein lockendes Licht, und das Glück hat viele Freunde. Unser auf der Weltbühne mehr und mehr Figur machender Wolfgang erfuhr das auch und zwar, wie es zu geschehen pflegt, eben so sehr zu seinem Vortheil wie zu seinem Schaden. Denn wie es wahr ist, daß ein Menschenkind nur in dem „Geräusch der Welt“ zu einem „Charakter“ sich „bildet“, so ist es nicht minder wahr, daß von diesem Weltgeräusche die inneren Stimmen, welche dem Menschen doch das Beste sagen, oft, zu oft überlärmt werden. Gar viel von unserm Eigensten, Ursprünglichsten bleibt an dem Dorngestrüppe hängen, durch welches der Weg zur Charakterbildung sich hinwindet. Erfahrung ist ein recht hübscher Besitz, gewiß; aber es fragt sich am Ende doch sehr, ob dieser Besitz sich der Mühe lohne, so viele Zeit auf den harten Bänken der Schule „Enttäuschung“ versessen zu haben. In späterer Zeit, als Fünfundsiebenzigjähriger, war Goethe sehr geneigt, diese Frage verneinend zu beantworten; denn am 27. Januar 1824 hat er zu seinem Famulus Eckermann gesagt: „Mein Leben ist im Grunde nichts als Mühe und Arbeit gewesen. Es war das ewige Wälzen eines Steins, der immer von neuem gehoben sein wollte. Der Ansprüche an meine Thätigkeit, sowohl von außen als von innen, waren zu viele. Mein eigentliches Glück war mein poetisches Sinnen und Schaffen. Allein wie sehr war dieses durch meine äußere Stellung gestört, beschränkt und gehindert! Hätte ich mich mehr vom öffentlichen und geschäftlichen Wirken und Treiben zurückgehalten und mehr in der Einsamkeit leben können, ich wäre glücklicher gewesen und würde als Dichter weit mehr gemacht haben.“ Glücklicher? Das ist möglich. Als Dichter productiver? Nein. Die goethe’sche Poesie ist nicht vom Genius mit der Einsamkeit gezeugt worden. Sie hat von jungauf nicht das Zeug zur Einsiedlerin gehabt. Sie war und ist ein Weltkind, natürlich im schönsten und besten Sinne des Wortes. Sie mußte in und mit der Welt leben; wie hätte sie sonst so lebenswahr, so weltverständig, so realistisch sein können?

Selbstverständlich waren die enttäuschungsmüden und erfahrungsschweren Stimmungen des Goethe von 1824 nicht die des glaubenden, liebenden und hoffenden Goethe von 1774 bis 1775. Da trieb er es laut und lustig oder auch trüb und traurig, wie es eben kam, mit im Getriebe der Welt, schob und ließ sich schieben und hatte gar nichts dagegen, wenn der Kreis seiner Bekanntschaften von Tag zu Tag sich erweiterte und ihm von allen Seiten her Freunde zuströmten. Im Gegentheil, er ging auch wohl selbst welche suchen. So Klopstock, dessen Einfluß und Ansehen dazumal im Zenith standen; so Lavater, den Propheten der Physiognomik. Auch eine eigenthümliche Gestalt der Sturm- und Drangzeit, dieser Sanct Lavatus, der von Christlichkeit, Menschenbrüderlichkeit und Eitelkeit – denn eitel war er wie ein Franzose – aufgespannte Helfer beim Sanct Peter in Zürich. Insofern er die biblisch-christliche Orthodoxie als ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 468. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_468.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)