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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


wenn Du’s thust, daß ich nicht noch einmal den Markt nach Dir ablaufen muß, dann will ich Dich allein geh’n lassen und thun, als wenn ich den ‚Schergenknecht‘ nicht gehört hätte, der Dir sonst theuer genug zu stehen kommen sollte.“

Wolf erwiderte nichts; er schlug den Weg durch die Kirchgasse ein, festen Schritts und mit aufgerichtetem Kopfe, auf dem er den Hut zurecht gerückt hatte, daß die Spielhahnfeder nach vorne sah, als ob er einem Kampfe entgegengehe. Er wußte kaum, wie er den steilen Schloßhügel hinan gekommen war, aber er war um vieles ruhiger geworden und klopfte an der Thür des Gerichtszimmers so vernehmlich an, als es wohl selten geschehen mochte; ein ebenso vernehmliches Herein erscholl und der Eintretende stand – nicht, wie er erwartet hatte, dem Landrichter, sondern seinem Vater gegenüber.

Der Alte saß auf einem Stuhl mit hoher Lehne, der Leuten von Ansehn, die vor Gericht zu thun hatten, geboten zu werden pflegte; er sah erschöpft und angegriffen aus und starrte nachdenklich vor sich hin, als wären ihm die leidenden Augen noch dunkler geworden, als vorher. Hinter ihm, mit ehrbar demüthiger Miene, stand Dickl. Der Beamte war seitwärts an seinem Pulte beschäftigt; er legte, als er Wolf gewahrte, die Papiere, in denen er gelesen, zusammen und trat ihm mit finsterer Miene entgegen. „Na, Du hast mir ein schönes Sonntagsvergnügen gemacht,“ sagte er, „Du bist wirklich unverbesserlich.“

„Ich?“ entgegnete Wolf kurz. „Was hab’ ich denn schon wieder angestellt?“

„Nur immer trotzig!“ rief der Beamte mit einem Unwillen, der gegen die wohlwollende Art abstach, in der er sonst mit den Parteien zu verkehren pflegte. „Ich will mich aber in keine Erörterung einlassen und sage Dir mit ein paar Worten, um was es sich handelt. Dein Vater ist zu mir gekommen, und weil er mir leid thut und ich sehr viel auf ihn halte, habe ich die Sache gleich vorgenommen, obwohl Feiertag ist … er glaubt, daß er es nicht mehr lang treiben wird; er will daher seine Angelegenheiten ordnen und den Lindhamerhof übergeben.“

Wolf war auf’s Höchste überrascht; mit einer herzlichen Aufwallung trat er einen Schritt gegen den Alten vor und rief: „Nein, Vater, das müßt Ihr nit thun! Ihr könnt wohl wieder besser werden, und könnt den Hof noch lang regieren – ich wünsch’ mir gar nichts Anderes!“

„Du!“ unterbrach ihn der Landrichter. „Auf Das, was Du wünschest, kommt es nicht an – der Hof wird nicht Dir übergeben, sondern Deinem jüngeren Bruder.“

Wolf stand, als ob ihn ein unerwartet schwerer Schlag vor die Stirn getroffen, der ihm die Besinnung raubte und die Gedanken wirbeln machte. Seine Brust hob sich krampfhaft; sein ganzer Körper erbebte, und seine Muskeln spannten sich, wie die eines Menschen, den man im Schlafe in Bande geschlagen und der sich erwachend vergeblich anstrengt, dieselben zu zerreißen. „Wie wär’ Das?“ stieß er mühsam hervor. „Nicht ich soll den Lindhamerhof kriegen, sondern der Bruder, der Dickl? … Vater, ist das wahr?“

Ein dumpfes kurzes Ja war die Antwort des Alten.

„Und warum, Vater, warum?“ rief Wolf bewegt, keuchend und beinahe lallend vor Zorn.

Die Gemüthsbewegung des Alten war nicht geringer, als die des Sohnes; er richtete sich an der Stuhllehne auf und mußte erst Athem holen, ehe er zu sprechen vermochte. „Warum?“ erwiderte er erst matt, dann aber mit immer steigender Kraft; es war klar, die widerstreitenden Mächte standen sich gegenüber, um den unterbrochenen Kampf um Sein und Nichtsein ihrer Eigenart zur vollen Entscheidung zu bringen. „Warum? Ich mein’, das brauch’ ich Dir nit erst zu sagen, wenn Du an Das denkst, was ich Dir erst gestern gesagt hab’ … Warum? Weil ich haben will, daß der Lindhamerhof nach meinem Hinend’ nit verludert und verthan wird, sondern bei Ehren bleiben soll, wie er alleweil gewesen ist. – Weil ich das nit erwarten kann von einem Burschen, der in der Erntezeit bei der dringendsten Arbeit faullenzt und davon geht, der den ganzen Tag mit lüderlichen Gesindel herumtrinkt und Eisenbahner und solches Gelichter zu seiner Gesellschaft hat. Von einem Burschen, der über Nacht aus dem Haus bleibt und im Bierkeller mit dem Krügelteller sammeln geht, wie ein Bettelmusikant, der Springern und Komödianten auf öffentlichem Jahrmarkt zu ihren Kunststücken aufspielt –, von einem Tagedieb, einem …“

„Vater,“ schrie Wolf ihn unterbrechend, „sag’ Das nit, was Dir auf der Zung’ sitzt – sprich das Wort nit aus! … ich vertrag’s nit’; ich kenn’ mich selber nimmer, wenn ich’s hör’ … ich weiß nit, was ich thu …“

„Dann will ich Dir’s sagen,“ fiel der Landrichter ein, „nichts wirst Du thun, Du kecker Bursche, als zuhören und auf Das, was man Dich fragt, Red’ und Antwort geben – Du stehst vor Gericht.“

„Red’ und Antwort geben?“ rief Wolf mit funkelnden Blicken. „Wer will mich zwingen, wenn ich’s nit thu? Wollen Sie mir den Proceß machen und mich ausfratscheln? Meinen Sie vielleicht, ich werd’s leugnen, was ich gethan hab’? Fallt mir nit ein! Meinen Sie, ich soll fein demüthig zum Kreuz kriechen und um schönes Wetter bitten? Ich denk’ nit dran. Ich mein’, es hätt’ wohl einen andern Ort gegeben, wo der Vater mit mir hätt’ reden können und mir das Alles vorhalten – und dort, dort hätt’ ich auch Red’ und Antwort gegeben; hier aber, vor Gericht, hab’ ich keine.“

„Es wird Mittel geben, die Dich reden machen,“ entgegnete der Landrichter. „Zuerst hast Du mir eine Frage zu beantworten. Du kennst nun die Absicht Deines Vaters; er ist Herr von Haus und Hof und kann damit schalten, wie er will, und sein Vorhaben auch unbeanstandet durchführen, aber es ist Brauch in der Gegend, ein rechtliches Herkommen aus uralter Zeit, daß immer der ältere Sohn Nachfolger auf dem Gute wird. Dieses Gewohnheitsrecht ist zu Deinen Gunsten. Du kannst Dich darauf berufen und Deinem Vater und mir gegenüber vor Gericht darauf bestehen, daß der Hof Dir als dem Aeltesten gehört. Erkläre Dich nun, wie Du gesonnen bist! Willst Du streiten – oder giebst Du Dich drein?“

In Wolf ging Unbeschreibliches vor.

Schmerz und Wuth rangen in ihm wie zwei sich begegnende Strömungen, aber wie ein Felsstück ragte aus ihnen der Trotz empor, der ihn seinem Vater so ähnlich machte und an dem jedes weichere Gefühl sich brach, daß er nichts so deutlich erkannte und so brennend empfand, als die Schmach, die der eigene Vater ihm angethan. Er sah ein, daß es nur einiger begütigenden Worte, eines warmen Entgegenkommens bedurfte, eines Zeichens der Nachgiebigkeit, um den Vater umzustimmen und seinen verhängnißvollen Entschluß zu hintertreiben; er war sich bewußt, daß er nur die innere Geschichte der gestrigen Ereignisse zu erzählen brauchte, um Alles in anderem Lichte erscheinen zu lassen, aber es war ihm unmöglich, das Eine oder das Andere zu thun. Hatte sein Vater es über sich gewonnen, ihm das Erbe, das ihm von Gottes und Rechts wegen gebührte, aus reiner Willkür zu entreißen, ihn gewissermaßen selber anzuklagen und vor Gott und Welt als einen verlornen Sohn, einen hoffnungslos aufgegebenen Menschen zu brandmarken, so war er viel zu stolz, um sich dagegen zu wehren und gegen ein solches schon vorher gefälltes Urtheil zu vertheidigen. Einer solchen Schwäche, einer so tiefen Herabwürdigung seiner selbst war er nicht fähig, und wenn es gegolten hätte, sich damit noch einen größeren Reichthum zu gewinnen, als den Lindhamerhof; es war ihm aber auch klar, daß das Opfer, selbst wenn er es seinem Stolze abzuringen vermocht hätte, dennoch ein vergebliches sein würde. Für ihn war kein Bleiben und Gedeihen mehr. Es war zweifellos, daß das Vorgefallene allgemein bekannt werden würde, und er hätte es nicht ertragen, sich vielleicht über die Achsel angesehen oder darum betrachtet zu wissen, daß er verstoßen und nur gegen Aufgebung seines eigenen Selbst wieder zu Gnaden aufgenommen worden sei. Er konnte keinem Menschen mehr gerade in’s Gesicht sehen; er mußte darauf gefaßt sein, daß die Leute hinter seinem Rücken einander anstießen und sich flüsternd seine Geschichte erzählten, oder mußte fürchten, daß der nächste beste Knecht, den er wegen einer Ungehörigkeit tadeln wollte, sich gegen ihn auflehnte und ihm sagte, daß er einmal in denselben Schuhen gestanden sei und ihm nichts vorzuwerfen habe. Der Riß, der durch alle seine Verhältnisse gethan war, kannte keine Heilung; zwischen ihm, den Seinen und der Heimath hatte sich ein Abgrund aufgethan, für den es weder Ausfüllung noch Brücke gab und der ihn für immer von seiner ganzen Vergangenheit schied.

Wie Blitze zuckten all diese Gedanken wirr und dennoch

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