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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

unterzuschieben, welche gleich oder ähnlich aussehende Eier legten. Diese Behauptung wird von ihren Erfindern und Vertretern mit dem wohlfeilen Grunde der Teleologie unterstützt, es müsse die Natur einen weisen Zweck mit dieser Einrichtung verfolgen, den nämlich, daß die mit dem täuschenden Kukuksei beschenkten Pflegeeltern das Unterschieben nicht merken und so die sonst gefährdete Art unsers Kukuks erhalten helfen sollten. Dieses erbauliche Dogma paßt für einen gläubigen Spießbürger, aber nimmer in die nach Wahrheit und Klarheit strebende Naturkunde. Es verschwindet vor dem sprechenden Beweise der lebendigen Thatsachen in das Reich der Fabeln, dem es ursprünglich auch nur gedankenmäßig entnommen worden.

Da wir gerade am Ei sind, so gestattet man uns wohl, eine kurze Erläuterung über die Entwicklung des Kukukseies zu geben.

Der traubenförmige, ziemlich umfangreiche Eierstock des weiblichen Kukuks sitzt an der linken Seite der engen Bauchhöhle, deren Raum durch den umfangreichen und bei der Gefräßigkeit des Vogels meist angeschwollenen Magen noch weiter beschränkt wird. Dieser kleine Raum verursacht die verhältnißmäßig geringe Größe des Kukukseies. Die Entwickelung desselben geht nun vermöge der geringen Eiweiß- und Kalkausscheidungen im Eileiter sehr langsam von statten und verursacht einmal, daß der Vogel nur in größeren Zwischenräumen seine Eier ablegen und in Folge dessen keine so hohe Brutwärme wie die Selbstbrüter entwickeln kann, zum Andern, daß das Ei sehr dünnschalig erscheint.

Diese Dünnschaligkeit, sowie der vorwiegende Umfang des Kukukseies vor den Eiern, bei denen es liegt, begründen die Thatsache, daß dasselbe in der Regel vor dem eigentlichen Nestgelege gezeitigt wird. Der junge Kukuk schlüpft also regelmäßig früher aus als seine Stiefgeschwister, wenn diese einmal neben ihm zur Ausbrütung gelangen. Die Brutzeit unserer meisten kleineren Vögel währt vierzehn Tage; das Kukuksei bedarf zur Zeitigung meist nur deren dreizehn.

Es findet sich Gelegenheit, dies an dem Gelege in dem Neste des Weidenzeisigs zu beobachten. Den dreizehnten Tag gewahren wir, daß der junge Kukuk ausgekrochen ist, aber noch keines der Eier des Weidenzeisigs zum Aufbruche reif erscheint. Erst des andern Tages frühe liegen zwei junge Weidenzeisige unter den vier Eiern. Der junge Kukuk verhält sich vollkommen friedlich und ruhig den Stiefgeschwistern und Eiern gegenüber. Während dessen fällt uns das wiederholte Erscheinen zweier alter Kukuke in der Nähe auf, in Folge dessen wir uns rasch in die Laube zurückziehen. Gleich darauf kommen die Kukuke durch’s Gebüsch tief an der Erde hergeflogen, fußen in der Nähe des Nestes, und wir sehen sofort, wie der eine derselben – ob ein Weibchen oder Männchen, kann leider bei der übereinstimmenden Färbung beider Vögel nicht festgestellt werden – zwei Eier aus dem Neste holt und heißhungrig verschluckt, die übrigen aber sodann sammt einem jungen Weidenzeisige aus der Nestmulde wirft. Der andere Kukuk kommt nun herzu und verspeist rasch hintereinander den eben herausgeworfenen Nestvogel, sowie eines der noch übrigen Eier, wie vorher sein Begleiter, jedes Mal nach dem Verschlingen eines Gegenstandes das Gefieder schüttelnd, worauf beide auf einem nahen Baume fußen. Nach einer Weile fliegen dieselben, umflattert von dem klagenden Weidenzeisigpaare, wieder vor das Nest und zerren abwechselnd dessen Inhalt heraus, um auch diesen zu verschlingen.

Indem wir diese merkwürdige Thatsache in unser Tagebuch verzeichnen, beschäftigt uns natürlicherweise lebhaft die naheliegende Erwägung, ob die beiden Räuber die Eltern des jungen Kukuks seien. Da uns hierzu aber unmittelbare, greifbare Anzeichen und Beweise fehlen, so lassen wir den einzigen Fall vorerst blos als die Thatsache gelten: daß Kukuke als Nestplünderer auftreten und dabei selbst junge Vögel ihrer eigenen Art verzehren.

An einem Morgen kurz darauf erblicken wir merkwürdigerweise vor dem bereits uns bekannten Rothkehlchenneste zwei junge Kukuke in einer Vertiefung des Bodens liegen, woselbst das von uns aufgescheuchte Rothkehlchen sie erwärmt. Die jungen Vögel sind noch blind und aus ihrer nackten Haut schimmern nur schwach an Flügelarmen und Rücken die Kiele durch, so daß wegen dieser Anzeichen und der vorgeschrittenen Größe ein Alter von einigen Tagen angenommen werden kann. An beiden gewahren wir hingegen noch deutlich die später verschwindende muldenförmige oder verbreiterte Bildung des Rückgrates etwas unter der Einsenkung der Flügeloberarme; der eine, viel dunkler gefärbte ist dem andern helleren an Größe sichtlich voraus. Vor dem Neste liegen sämmtliche Eier des Rotkehlchens. Eines davon, geöffnet, enthüllt ein vollständig entwickeltes Rothkehlchen, das mit den beiden jungen Kukuken und den Eiern in das Nest gethan wird. Beide Vögel verrathen viel Unruhe, der größere jedoch nur aus Veranlassung des kleineren Nestbruders, an welchem sich öfters ein zitterndes Emporheben der Flügelarme, verbunden mit einem plötzlichen Emporschnellen des Halses und Vorderkörpers nach hinten, bemerklich macht, in Folge dessen das Thierchen zuweilen förmlich umstülpt. Endlich arbeitet sich der Kleinere mit seinem Hinterteile unter den Körper des Größeren, so daß dieser förmlich auf jenen zu liegen kommt, worauf dessen beide unverhältnißmäßig starkbändrigen und langen Flügelarme sich wagrecht, gleichsam als Gegenwehr, nach oben heben, gegen die vorwärts drängenden Flügel und das vorgestreckte Vordertheil des oben aufliegenden Vogels. Gleichzeitig spreizt der Träger seine langen, die ganze Nestmulde ausfüllenden Kletterbeine sägebockartig nach vorn auseinander, um sich dann, sich in das Geflechte des Nestes festklammernd, allmählich hinterrücks mit seiner Bürde unter zurückgebogenem Halse zum Nestrande hinauszuschieben, indem er, auf die Fersen gestützt, abwechselnd mit den Beinen krötenartig nach oben oder rückwärts greift. Am Nestrande angelangt, hält er keuchend mit geöffnetem Schnabel eine Weile an und läßt ermattet Kopf und Hals nach vorn sinken, reckt diese aber bei der geringsten Bewegung seiner Bürde sogleich wieder empor und schiebt sich mit dem Gegner mehrere Zoll weit auf dem Vorraume des Nestes bis an das nächste Hinderniß der Umgebung, um hier durch ein Schnellen nach hinten den Gegner abzuwerfen.

Solcher Kampf wiederholt sich vor unseren Augen, indem beide Kämpen sich trotz ihrer Blindheit, auf den vorgehaltenen Flügelarmen und Beinen kriechend, so schnell als möglich wieder die Nestmulde zu erreichen bestreben. Stets aber zeigt sich der kleine, flüchtigere Vogel als der angreifende, niemals der größere, der ungleich öfter aus dem Neste gedrängt wird, als er den kleineren Gegner hinausschaffen kann. Bei diesen Scenen schiebt sich nur einmal eines der im Neste liegenden Eier mechanisch mit den Kämpfenden heraus; übrigens wird an keinem der Vögel das Bestreben sichtlich, die Eier aus dem Neste zu entfernen, selbst dann nicht, als beiden abwechselnd ein Ei auf den Rücken und zwischen die Flügelarme gebracht ist. Der aus dem einen Ei genommene Embryo wird nach kurzer Zeit, in der wir uns zurückziehen, von einem der Rotkehlchen im Schnabel eine größere Strecke vom Neste in der Luft davon getragen.

Wir entfernen uns endlich, die beiden jungen Kukuke der weiteren Pflege des Rothkehlchenpaares überlassend. Des andern Morgens liegt der größere Kukuk erstarrt vor dem Neste, während die Pflegemutter in demselben über dem anderen jungen Vogel sitzt. Alle Eier sind noch an ihrem Platz im Neste. Nun wird zu dem Kukuk ein mehrere Tage alter Sperling gebracht, welcher Tags darauf an derselben Stelle, wie vorher der Kukuk, erstarrt ist. Da die Eier selbst jetzt noch im Neste sich befinden, so schließen wir, daß in dem vorliegenden Falle der Kukuk nicht geneigt oder fähig ist, dieselben zu entfernen. Am folgenden Morgen erblicken wir aber den jungen Kukuk fast unkenntlich verstümmelt und ohne Kopf im Neste. Das letztere Vorkommnis könnte einigermaßen zur Vermutung führen, daß der junge Kukuk die Beute eines Nestraubes von Seiten alter Kukuke gewesen.

Vieljährige eingehende Beschäftigung mit diesem Gegenstande hat uns zu der unumstößlichen Thatsache geführt, daß die Eltern ihre eigene Brut stets dem Kukuke vorziehen. Die gegentheiligen Behauptungen mancher Schriftsteller sind blos in oberflächlichen, aller Thatsächlichkeit entbehrenden Annahmen begründet. Die Natur bleibt sich in ihren Grundzügen immer gleich, und die Elternliebe folgt über alle Sätze verkehrter Zweckmäßigkeitslehren hinaus eben ihrem gewaltigen natürlichen Triebe. In der Pflege des Adoptivkindes Kukuk von Seiten der Pflegeeltern ist nichts anderes zu erblicken, als der allen Nistvögeln mehr oder minder innewohnende Trieb, unselbstständigen Vögelchen Hülfe angedeihen zu lassen. Aber nicht allein dem Kukuk kommt

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_408.JPG&oldid=- (Version vom 6.3.2019)