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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Schriftenwechsel; aber Sintenis blieb im Amte. Man schien selbst in maßgebenden Kreisen das Aeußerste vermeiden zu wollen.

Mein Vater war Rationalist, ja, er war noch mehr: er war Einer von Denen, die man am richtigsten als Gefühlsfromme bezeichnen könnte. Seine Auffassung der Person Jesu entsprang dieser Frömmigkeit des Gemüthes. Für ihn bedurfte es keiner Machtstellung des Heilandes, sei es auch die des Fürsprechers an Gottes Thron. Denke man sich nun den Eindruck, den das Urtheil des Bischofs Dräseke über Sintenis auf ihn machen mußte, gerade wegen seiner Auffassung der Person Jesu. Der vielfache Verkehr mit gleichgesinnten Amtsgenossen ließ meinen Vater den Gedanken fassen, mit ihnen in noch engere Verbindung zur Abwehr frommer Uebergriffe zu treten und zugleich zwischen ihnen da eine Verständigung herbeizuführen, wo in einzelnen dogmatischen Punkten ihre Meinungen auseinanderwichen.

So ging denn aus dem alten Pömmelter Pfarrhause der Aufruf hervor zu dem so wichtig gewordenen Tage von Gnadau. Am 29. Juni 1841 kamen dort sechszehn Geistliche aus Magdeburg, Köthen und einigen Orten in Pömmeltes nächster Umgebung zusammen. Diese Sechszehn nun verständigten sich laut der 1842 gegründeten „Mittheilungen für protestantische Freunde“, Nr. 1, dort über den Grund ihrer Opposition und über Das, was anstatt des Verworfenen das echte Christenthum sei. Zwei Grundgedanken waren es, die sie für sich aufstellten: „Abwehr alles Dessen, was der freien Entwickelung auf kirchlichem Boden hemmend entgegentritt“ und „Ausbau des Christenthums oder“ (wie sie selbst sagten) „das Reich Gottes mit vereinten Kräften, ohne die Freiheit des Einzelnen zu beschränken.“

Die nächste Versammlung war für Halle bestimmt worden, und dort waren es schon sechsundfünfzig Freunde der Wahrheit, die am 28. September zusammentrafen, diesmal auch Nichtgeistliche. Hier wurden jenen zwei in Gnadau aufgestellten „Grundgedanken“ einige Sätze beigefügt, später bekannt unter dem allgemeinen Namen „Halle’sche Sätze“. Der bedeutendste unter ihnen ist: „Bei der Entwickelung der christlichen Lehre ist Wahrhaftigkeit unerläßliche Bedingung. Was man nicht mit der vollsten Ueberzeugung von seiner Wahrheit und mit dem reinsten Bewußtsein eigener Wahrhaftigkeit sagen kann, das bleibe ungesagt. Eine besondere Lehre für den Geistlichen und eine besondere Lehre für das Volk nehmen wir nicht an.“ Die Versammlung gab sich selbst den Namen „Protestantische Freunde“, der sich bald im Volksmunde in das kürzere „Lichtfreunde“ verwandelte, gegenüber der insgeheim wühlenden Jesuitenpartei, die schlechthin als „Dunkelmänner“ bezeichnet wurden.

In meines Vaters Wesen lag es nicht, sich vorzudrängen; da aber seine Freunde in ihm ein gewisses parlamentarisches Talent zu erkennen glaubten, machte es sich eigentlich von selbst, daß man ihn bei den immer häufiger wiederkehrenden Versammlungen zum Vorsitzenden, nach damaligem Ausdruck zum „Ordner“ wählte. Im Mai 1842 tagte eine über dreihundert Köpfe starke Versammlung in Leipzig. Hier ward zuerst der Beschluß gefaßt, ein eigenes Organ zu gründen; das war das Wochenblatt, das von nun an unter dem Titel „Blätter für christliche Erbauung von protestantischen Freunden“ erschien. Hauptmitarbeiter war mein Vater. Auch Dr. Rudolph Fischer (Archidiaconus an der Nicolaikirche zu Leipzig) sandte zuweilen Artikel ein, die Hauptarbeit aber blieb Jenem vorbehalten.[1]

Es ist allbekannt, wie rasch sich diese Bewegung verbreitete, daß sich viele Zweigvereine bildeten und die halbjährlich wiederkehrenden Hauptversammlungen in Köthen ihre Theilnehmer bald nach Tausenden zählten. Die Pfingstversammlung 1843 war eine besonders bewegte. In ihr hielt Wislicenus aus Halle seinen zündenden Vortrag: „Ob Schrift, ob Geist.“ Der Rationalismus sagte: „Nicht Alles in der Bibel ist Gottes Wort; aber neben vielem arg Menschlichen findet sich das wahre Gotteswort.“ Nun kam Wislicenus mit jener Frage, die er selbst dahin beantwortete: „Die Bibel ist uns nicht Autorität; sie ist uns nicht absolutes Gotteswort. Wir haben eine andere höchste Autorität; die ist der in uns lebendige Geist. Eine besondere Norm erkennen wir nicht an.“ Das wurde ausgesprochen vor Tausenden, trotz des herrschenden Symbolzwanges, trotz des an höchster Stelle protegirten Offenbarungsglaubens. Und dieser wichtige Tag ist es, dessen dreißigjähriges Gedächtniß wir mit diesem Artikel erneuern wollen.

Von da an wurden die protestantischen Freunde überschüttet mit Schmähschriften. Natürlich warf man auch dem „einfachen Landgeistlichen in Pömmelte den Fehdehandschuh hin. Weil ihm in den Versammlungen das Ordneramt zuerkannt wurde, wies ihm die große Zahl der Gegner die ehrende Stellung des Hauptes der Bewegung zu. Dabei wurde auf die hämischste Weise verfahren, indem man ihm Spottbilder und Schandbriefe gemeinsten Inhalts, einen sogar, und zwar unfrankirt und damals sehr theuer, aus Constantinopel zusandte. Endlich griff A. R. Findeis, Prediger der Zwangsarbeitsanstalt in Groß-Salza, meinen Vater in einem „offenen Sendschreiben“ in einer Weise an, welche die Reinheit seines Charakters beschmutzen sollte.

Dagegen mußte mein Vater auftreten, und er that es in seinen „Bekenntnissen“ (Leipzig, Friedlein und Hirsch, 1844), einer Broschüre, in welcher er in allgemein verständlicher Sprache die Angriffe zurückschlug, und in welcher er zugleich seine Auffassung des Christenthums und der Person Jesu offen darlegte, eine Schrift, die eine Menge von Auflagen erlebte, deren letzte ebenso rasch vergriffen war, als die erste.

Auf der großen Maiversammlung 1845 in Köthen, die im Freien tagte, weil kein Saal die mehr als dreitausend große Menge fassen konnte, kam auf Uhlich’s Betrieb für Wislicenus, der eben von einem über ihn verhängten Ketzergericht aus Wittenberg zurückkehrte, trotz mancher verschiedenen Ansichten unter den Gesinnungsgenossen, die Erklärung zu Stande, daß jene Versammlung im Princip mit Wislicenus einverstanden sei, unterzeichnet von fünfundvierzig Geistlichen und vierhundertfünfzig Nichtgeistlichen. Dieser Versammlung folgten viele größere und kleinere in ganz Norddeutschland. Ueberall hin verlangte man Uhlich, in dessen Hände man trotz seiner Bitte, auch Andere damit zu betrauen, das Ordneramt legte. „Keiner versteht das so gut wie Du,“ hieß es von allen Seiten. Die größte Versammlung fand in Breslau auf dem Schießwerder den 30. Juni 1845 statt; sie zählte fast sechstausend Köpfe. Der alte freisinnige Professor David Schulz umarmte meinen Vater mit Thränen im Auge, sich glücklich preisend, das erlebt zu haben. Todtschweigen konnte man diese Bewegung nicht – so verbot man sie denn. Eine Zusammenkunft Friedrich Wilhelm’s des Vierten mit Metternich hatte jenes Verbot zur unmittelbaren Folge.

Neben den Versammlungen der protestantischen Freunde waren zugleich andere Versammlungen entstanden, die zum Versprechungsgegenstande die bürgerlichen Verhältnisse wählten. Ueber ihre Entstehung findet sich Näheres in „Leberecht Uhlich, sein Leben von ihm selbst beschrieben“, S. 31. Auch diese „Volksversammlungen“ wurden als „gemeingefährlich“ verboten.

Welche Bewegung hatte sich in dem kurzen Zeitraume weniger Jahre entfaltet! Der „Bauernpastor“ war eine weit gekannte, viel genannte Persönlichkeit geworden. Durch die Verbote der Versammlungen mehrten sich natürlich die Zeichen der Zustimmung von allen Seiten. Ein ganz besonders hohes Pömmelter Pfarrhaus-Fest war stets der 27. Februar, als Uhlich’s bald in ganz Deutschland bekannter Geburtstag. Da kamen, oft von weit her, Deputationen, Sängerchöre aus den umliegenden Orten, zahllose Briefe und Zuschriften. Mein Vater mochte wehren wie er wollte, die protestantischen Freunde selber betrachteten ihn als ihr Haupt, und der Geburtstag schien ihnen der schickliche Tag, das auch durch Aeußerlichkeiten zu documentiren.

Es versteht sich von selbst, daß hierzu die Kehrseite nicht fehlte. Im Sommer 1844 schickte ein Anonymus zwei Nummern des frommen „Volksblattes für Stadt und Land“, herausgegeben von dem in diesem Sommer gestorbenen Nathusius, an die Gemeinde zu Pömmelte, in welchem mein Vater durch den Brief eines angeblichen Schulzen Gottlieb als Lügner und Heuchler

  1. Das Blatt bestand bis 1848. Im Jahre 1849 gründete mein Vater sein „Sonntagsblatt“, das trotz des dagegen erlassenen Verbotes, das sein Erscheinen über ein Jahr unmöglich machte, bis zu seinem Tode von ihm fortgeführt und stets allein von ihm geschrieben wurde. Es trat unter dem Namen von „Uhlich’s Sonntagsblatt“ (Magdeburg bei F. Demker) in seinen vierundzwanzigsten Jahrgang ein unter der Redaction von A. Reichenbach. Viele der erbauenden Aufsätze desselben sind noch dem literarischen Nachlasse unseres verewigten Vaters entnommen.
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