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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Menschenleid sind auch im Wesen zu allen Zeiten dieselben. Aber die Formen, in welchen die herbsten Bedrängnisse und tiefsten Schmerzen der Menschenkinder zur Erscheinung, zur dichterischen Ausprägung kommen, sind doch je nach den Zeiten sehr verschieden. Der Werther trägt daher ebensosehr das Gepräge der goethe’schen Individualität, wie diese damals war, als die Signatur jener Epoche, welche ich, um all’ ihre Aufgespanntheit, Gefühlsschwelgerei, Rührsäligkeit, Mondsüchtelei und Thränenverschwendung in ein Wort zusammenzufassen, kurzweg die ossianische nennen möchte. Nach dem Erscheinen von Goethe’s Roman konnte, mußte sie für uns Deutsche allerdings mit Fug und Recht die Wertherzeit heißen.

In unserem Dichter wertherte es das ganze Jahr 1773 hindurch so heftig, daß seinem eigenen Geständniß zufolge der Selbstmordsgedanke in ihm aufsprang und er zu wiederholtenmalen die Schneide eines in seinem Besitze befindlichen kostbaren Dolches nachdenklich mit der Hand prüfte. Glücklicherweise legte er das Selbstmordsinstrument – es war doch wohl nicht schneidig genug – beiseite, ergriff statt desselben die Feder und schrieb, nachdem er sich von allem Umgang abgeschlossen, nach „langen und vielen geheimen Vorbereitungen“ binnen vier Wochen (im Februar und März von 1774) „Werther’s Leiden“, welcher Hervorbringung, sagt er, „ich alle die Glut einhauchte, die keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem Wirklichen zuläßt.“ Im September war der Roman gedruckt im Publikum und der Werthersturm entfesselt. Denn einen wahren Sturm wühlte das wundersame Büchlein in der deutschen, in der europäischen Lesewelt auf, wie, was die Einzelnheiten angeht, in dem Buche „Werther und seine Zeit“ von J. W. Appel (1855) nachgelesen werden mag.

„Werther’s Leiden“ sind und bleiben eine jener epochemachenden Dichtungen, welche als von der Zeit unverrückbare und unzerstörbare Marksteine die Vorschrittstadien der Weltcultur bezeichnen. Sie sind eins jener Bücher, deren Inhalt so sehr ein Bildungsgemeingut geworden, daß ihre bloße Nennung ausreicht, jedem wirklich gebildeten Menschen den Culturcharakter ihrer Entstehungszeit in’s Gedächtniß zu rufen. Die Genesis derartiger Werke, welche man wohl auch Generalbeichten der Gesellschaft nennen könnte, ist diese: – Eine bestimmte Periode treibt die Summe ihres Schauens und Fühlens auf die Spitze. Dann geht der überlegene Genius, welcher in einem ihrer Söhne waltet, her, faßt mit souveräner Hand die chaotisch wogenden Zeitgedanken zusammen und formt aus solchem Zeitlichen ein ewiges Kunstwerk. Kaum ist dann so ein unvergänglich Monument vor die staunenden Augen der Zeitgenossen hingestellt, so eilen die „minderen Geister“, es nachzupfuschen. Wie ist nicht auch der Werther nachgepfuscht worden! Am breitesten durch den guten Miller in seinem „Siegwart“, welcher 1776 erschien und zu jenem sich verhält, wie etwa zu einer vollendet schönen Trauerweide eine vom Zuckerbäcker in Marzipan nachgeknetete … Goethe’s Roman ist die künstlerische Combination der wetzlarer Herzenserlebnisse seines Verfassers mit der Katastrophe des jungen Jerusalem. Gewiß ließ der Dichter es sich nicht träumen, daß er, mittels Schaffung seines Werkes von einem moralischen Krankheitstoff sich befreiend, ein europäisches Wertherfieber entzünden würde, welches die seltsamsten Phantasiestücke und Extravaganzen mit sich brachte. Mitunter auch ein hübsches Stück Komik, wie dieses, daß im Dorfe Garbenheim (Wahlheim im Werther) der Wirth in seinem Garten unter Eichen und Buchen einen Hügel aufschichtete und denselben reisenden Engländern und sonstigen Raritätenjägern als Werther’s Grab zeigte. Die Chinesen haben bekanntlich Werther und Lotte auf ihre Theetassen gemalt und Napoleon sagte Anno 1808 in Erfurt dem Dichter, er habe den Roman siebenmal gelesen, knüpfte auch an diese Mittheilung die bekannte scharfsinnige Kritik, die schwache Seite der Dichtung sei die Mischung der Motive des gekränkten Ehrgeizes mit denen der Liebesleidenschaft. Napoleon’s wiederholte und einläßliche Beschäftigung mit dem Werther ist ohne Frage ein culturgeschichtlich sehr schwerwiegendes Zeugniß für die gewaltige Wirkung des Gedichts. Sie brauchte nicht eine durchweg beifällige zu sein und war es auch nicht. Lessing schüttelte bei aller Anerkennung der Schönheiten des Romans doch bedenklich den Kopf zur Motivirung der Katastrophe, wie zu dieser selbst, und der gute, rüstige, vielverdiente Aufklärer Nikolai in Berlin, der für Poesie eigentlich gar kein Organ hatte, fand sich bemüssigt, den goethe’schen „Leiden des jungen Werther“, welche doch, abgesehen von ihrem hohen Kunstwerth, das große Verdienst hatten, die schleichende Sentimentalitätsepidemie einer akuten Krisis entgegengetrieben zu haben, seine platten und faden „Freuden des jungen Werther“ entgegenzusetzen, worin der Held sich nicht entleibt, sondern nur ein wenig besudelt, da ihm ein statt mit einer Kugel mit Hühnerblut geladenes Pistol in die Hände gespielt wird, und schließlich der ganze Jammer in Wohlgefallen sich auflös’t, indem Werther und Lotte in aller Form kopulirt werden. Leopold Wagner hat dann den Wertherfreudenverfasser sehr derb abgeführt mittels der Posse „Prometheus, Deukalion und seine Recensenten“, und so that auch Goethe selber epigrammatisch-bündig in seinen Knittelversen „Nikolai auf Werther’s Grab“, wo in der Manier niederländisch-naturwahrer Malerei unser Erzprosaiker von Aufklärer in einer unbeschreiblichen Stellung abkonterfeit wurde. Im übrigen erinnert die ganze um den goethe’schen Roman her wuchernde Literatur an das bekannte schiller’sche Wort: „Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu thun.“ … Daß der Werther, ästhetisch angesehen, ein Kunstwerk ersten Ranges, bedarf heutzutage keines Nachweises mehr. Unser Dichter offenbart sich darin von der ersten bis letzten Zeile als ein Darstellungskünstler höchster Mächtigkeit. In diesem geistvoll angelegten und mit echtester Inspiration, mit wundersam frisch erhaltener Stimmung durchgeführten Seelengemälde stört uns nicht ein schiefer Strich, nicht ein falscher Farbenton. Die Charakterzeichnung ist meisterlich und gibt sich namentlich kund in dem deutlichen Auseinanderhalten und scharfen Gegenüberstellen der drei Hauptfiguren Werther, Albert und Lotte. Die Handlung wird so psychologisch folgerichtig fortgeleitet, sie verläuft so naturgemäß, daß man sich am Schlusse sagen muß: Es mußte alles so kommen, wie es kam. Da ist überall elementare Poesie, scheinbar in unwillkürlichem Ergusse dahin schäumend, in Wahrheit aber durch die ordnende Künstlerhand gelenkt und geleitet. Von der Anschaulichkeit der Lokalzeichnung, von der Durchgeistigung des Naturlebens, von der Beseelung der Landschaftsschilderung sprechen, hieße nur sagen, was jedermann fühlt, wer den Werther lies’t. Auch die bezaubernde Stilfrische, die süße Musik und leidenschaftliche Macht der Sprache des Romans zu preisen, ist überflüssig. Es genügt, zu sagen, daß nur selten, sehr selten das Idiom einer Nation einen solchen Triumph erlangte, wie ihn das der deutschen im Werther feierte und zu feiern fortfährt.

Zwei Menschen jedoch gab es, welche durch das Erscheinen der goethe’schen Dichtung, durch das beispiellose Aufsehen, welches dieselbe erregte, und durch alle die mannigfaltigen, theilweise höchst wunderlichen Erörterungen, welche daran sich knüpften, peinlich, sehr peinlich berührt werden mußten: Kestner und seine Frau. Ob freilich die letztere durch die ihr gewordene Verherrlichung in der Tiefe ihrer Seele nicht weit mehr beseligt als verletzt sein mochte, wollen wir dahingestellt sein lassen. Jedenfalls glaubte Kestner Ursache zu haben, über die ihm zugetheilte Albertsrolle ein deutliches Gebrumme vernehmen zu lassen. Der Beschwichtigungsbrief, welchen der Dichter hierauf an das junge Ehepaar richtete, ist ganz herrlich, ist den glühendsten Ausströmungen im Werther gleichzustellen. „Oh, ihr theuren Menschen“ – in diesen Ausruf faßte Goethe zusammen, was er den Freunden inbetreff ihrer Bedenken über den Werther und dessen Schöpfer sagen wollte – „ahnt ihr denn so gar nicht, wie der Mensch euch lieben muß, dessen Leiden euch schon in dem bloßen Abbilde schaudern macht?“ Eine solche Beschwörung verfehlte ihres Eindruckes nicht: das Verständniß zwischen dem Dichter und dem jungen Paare stellte sich völlig wieder her und der freundschaftliche Briefwechsel ging fort. Vom Jahre 1776 an wurde er spärlicher, nach Kestner’s im Mai von 1800 erfolgtem Tode hörte er ganz auf. Es war jetzt über die Wertherei hinlänglich viel Gras gewachsen. Vierundvierzig Jahre nach ihrem Auseinandergehen in Wetzlar haben sich dann Goethe-Werther und Lotte noch einmal gesehen. Im Oktober von 1816 trat in Weimar, wohin sie eine verheirathete Schwester zu besuchen gekommen war, die nahezu vierundsechzigjährige Frau Hofräthin Kestner zu dem siebenundsiebzigjährigen Dichterkaiser ins Zimmer. Er empfing die Jugendgeliebte etwas umständlich

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