Seite:Die Gartenlaube (1873) 354.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Der Löwe stirbt. Wohl trägt zum Thore
Wettin herein den Rautenkranz.

75
Doch trauernd mit dem Wittwenflore

Verhüllt die Burg den alten Glanz:
An’s Herz gedrückt der Minne Lieder
Sinkt sie wie auf die Todtenbahr
Verlassen und vergessen nieder

80
Und schlummert hundertfünfzehn Jahr’.


Da ballt zum Wetter sich die Wolke
Am deutschen Himmel, donnernd fährt
Den Fürsten all’ und allem Volke
Ein Blitz durch Herz und Haupt! Verklärt

85
Vom ew’gen Licht der Wahrheit zittern

Die Mauern, es zerreißt der Flor;
Der mächtigste von allen Rittern,
Ihr größter Gast betritt das Thor!

Der Junker Görg! Die Flammenleuchte,

90
Die auf den Zinnen hoch er hält.

Der Welt, die vor dem Wahn sich beugte.
Hier leuchtet sie der ganzen Welt!
Sie leuchtet fort, ob auch die Hallen,
Die ausgestrahlet „Gottes Wort“,

95
Verödet trauern und verfallen

Dreihundert Jahr’, sie leuchtet fort.

Und ihre Flamme hat entzündet
Das Herz der treuen Jünglingsschaar,
Die auf der Wartburg Fels gegründet

100
Des deutschen Geistes Hochaltar:

Der Heldenjugend ohne Gleichen,
Die dem zerriss’nen Reich entrollt
Der deutschen Einheit erstes Zeichen,
Das ewig hehre Schwarz-Roth-Gold!

105
Ein halb Jahrhundert hat gerungen

Die Wartburgfahne mit der Macht:
Der deutsche Geist blieb unbezwungen,
Trotz Bundestag und Kerkernacht! –
Heut ist’s vollbracht! Ihr tapfern Alten,

110
Der Erbfeind sank, die Zwietracht liegt

Zermalmt! Gott war mit Eurem Walten:
Der Geist der Wartburg hat gesiegt!

Drum stehst du, alte hohe Warte,
In Deutschlands Herzen so geweiht.

115
Daß jedes deutschen Siegs Standarte

An deiner Ehren Kranz sich reiht.
So schreite, von der Welt bewundert,
Von Sieg zu Sieg der deutsche Geist!
Heil Burg dir, die noch manch Jahrhundert

120
Ein Pförtner der Geschichte preist!
Friedrich Hofmann.



Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
VII.

Der 9. Juni von 1772 ist ein für die Geschichte der deutschen Sturm- und Drangzeit wichtiges Datum: – das war ja der Tag, an welchem es in unserer Literatur zu lotten und zu werthern begann. Denn an diesem Tage hat unser Dichter die Lotte der Lotten, die Ur-Lotte so zu sagen, zum erstenmal gesehen und kennen, item natürlich auch lieben gelernt: die neunzehnjährige, schöne, schlanke, blondhaarige, kornblumaugige und, ach, dem hannover’schen Gesandtschaftssekretär Kestner verlobte Lotte Buff, zweitälteste Tochter des Amtmanns Buff, welcher die um Wetzlar gelegenen Güter des argverotteten Deutschen Ordens verwaltete und in kleiner Entfernung von der Stadt im „Deutschen Hause“ mit seinen sieben Kindern wohnte, denen die Mutter weggestorben war. Von diesem Junitag an hat es dann in der deutschen Dichtung lange fortgelottet, von der Kraftgenialität bis in die Klassik hinein, und ist für unsere beiden Erzklassiker Goethe und Schiller der Name geradezu schicksalsvoll geworden: – Lotte Buff, Lotte Stein, Lotte Kalb, Lotte Lengefeld. Die zweite dieser Lotten werden wir später als die große, größte Flamme unseres Dichters kennen lernen; die vierte war das still und stät und segensreich brennende Licht im Dasein Schiller’s; von der dritten, der „Titanide“, wußte nicht nur der Schöpfer des Don Carlos, sondern auch der des Titan zu erzählen. Der letztere Jean-Paulisches: – „Durch den Nachsommer meines Lebens wehen jetzt die Leidenschaften“ – „Jene Frau, mit der ich einmal eine Scene hatte, wo ich im Pulvermagazin Tabak rauchte“ – „Das auflösende Leben mit genialischen Weibern hab’ ich nun auch kennen gelernt.“ Es trieb ihn aber doch, dieses Leben noch weiter kennen zu lernen, bis er klug genug geworden, aus der Flugregion der Titaniden auf den soliden Boden einer Hausfrauschaft sich zurückzuziehen, welche, obzwar aus Berlin stammend, dafür zu sorgen verstand, daß dem großen Humoristen seine bairischen Knödeln richtig bereitet wurden, item demselben in katarrhalischen Zeiten sein Warmbier in der gehörigen Temperatur präparirte und endlich auch gar nichts die Frauenwürde Entwürdigendes darin fand, dem Eheherrn die Strümpfe zu stopfen, so diese bei seinen vielen Schlendergängen durch Mondscheinlandschaften und Blumenstaubwolken brüchig geworden. Eine Hausmutter darf ja so was thun, wie selbst unsere von den höchsten Stelzen der Frauenemanzipationstheorie herabschwadronirenden Phantasmistinnen neuester Sorte nicht ganz werden in Abrede stellen wollen. Dagegen eine „Titanide“ als Beherrscherin der Knödelnbereitung, als Warmbierbrauerin, als Strümpfestopferin sich denken – oh, all’ ihr himmlischen und höllischen Mächte, schon die bloße Vorstellung erregt eine Empfindung, welche mit dem Zahnweh große Aehnlichkeit hat.

Freilich, es gibt Umstände, unter welchen auch die alltägliche Hausmutterschaft gar reizend-poetisch sich darzustellen vermag. Namentlich, wenn eine so schöne Blondine wie die neunzehnjährige Lotte Buff das Hausmütterchen macht. Das that sie, wie gewohnt, auch an dem vorhin erwähnten 9. Juni von 1772, und im „Werther“ (Brief vom 16. Junius) ist es gar hübsch beschrieben: – „Ich ging durch den Hof nach dem wohlgebauten Hause, und da ich die vorliegende Treppe hinaufgestiegen war und in die Thüre trat, fiel mir das reizendste Schauspiel in die Augen, das ich je gesehen habe. In dem Vorsaale wimmelten sechs Kinder von elf zu zwei Jahren um ein Mädchen von schöner Gestalt, mittlerer Größe, die ein simples weißes Kleid mit blaßrothen Schleifen an Arm und Brust anhatte. Sie hielt ein schwarzes Brot und schnitt ihren Kleinen ringsherum jedem sein Stück nach Proportion des Alters und Appetits ab und gab’s jedem mit solcher Freundlichkeit“ – nun, ihr kennt ja die prächtige Gruppe. Hat sie euch doch Kaulbach dem goethe’schen Entwurfe nachgezeichnet. Selten dürfte ein schönes junges Mädchen in einer alles reinmenschlich Gute im Menschen elektrischer berührenden Situation einem jungen Manne zuerst erschienen sein. Der Eindruck, welchen die frohsinnige Anmuth, womit Lottchen ihre jüngeren Geschwister bemutterte, auf unseren Wolfgang hervorbrachte, war ein mächtiger, schon beim ersten Anblick. Sie fuhren dann mitsammen zu einem ländlichen Balle und beim Schlusse desselben konnte sich der Dichter sagen: „Es hat mich mal wieder!“

Ja, es hatte ihn mal wieder, jenes geheimnißvolle „Es“ oder X, an welchem alle Physiologen oder Psychologen der Welt noch lange herumtasten können, ohne doch die „unbekannte Größe“ wirklich zu finden. Wenn man jedoch die mit unbegreiflich engherziger Scheu allzu lange unter Verschluß gehaltenen Akten der Goethe-Lotte-Kestner-Geschichte oder, literarhistorisch zu reden, der Wertherei, wie sie jetzt gedruckt vorliegen („Goethe und Werther“, Briefe Goethe’s u. s. w., herausgegeben von A. Kestner, 1854), unbefangen prüft, so gewinnt man als Resultat die Empfindung, des Dichters Gefallen an Lotte sei doch mehr nur Phantasiefeuer als Herzensflamme gewesen. Von jener echten, tiefinnigen Glut der Leidenschaft, welche aus dem Verhältnisse zu Friederike Brion loderte, ist da doch eigentlich nur dann und wann ein Funke zu spüren. Viel, sehr viel mag zu dieser Einhegung und Kühlhaltung von Goethe’s Neigung die Art und Weise mitgewirkt haben, wie Lotte selbst und ihr Verlobter die Sache nahmen und führten. Beide gewannen den Dichter aufrichtig lieb und erwiesen ihm großes Vertrauen. Daß durch den Freund eine Störung ihrer Beziehungen als Bräutigam und Braut eintreten könnte, ist ihnen gar nicht eingefallen. Lotte insbesondere hat den künftigen Wertherschöpfer hierüber von Anfang an taktvoll vor jeder Ungewißheit bewahrt. Sogar angenommen, unser junger Apoll von Wolfgang habe mit seiner genial-siegreichen Erscheinung den guten Kestner in ihren Augen verdunkelt, so war sie doch gescheid und fassungsfest genug, es nicht merken zu lassen. Junge Mädchen sind ohne alle Frage in Heiratsachen viel verständiger und berechnender als junge und alte Männer, wie denn überhaupt das Weib, solange es unverdorben ist, die „Dinge dieser Welt“, die thatsächlichen Verhältnisse sehr klug und praktisch anzusehen und, wenn nöthig, auch anzufassen vermag. Sehr natürlich ist auch, daß die Frau die Heiratfrage mit mehr Berechnung behandelt

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 354. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_354.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)