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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


drein keinen Kaffee, sondern nur schlechten Thee trinkt, wo man sich gegenseitig todt schweigt und seinen Nachbar nur bemerkt, wenn er einem die „Times“ in’s Gesicht stößt oder auf die Hühneraugen tritt.

Leider aber wird jetzt in den Pariser Kaffeehäusern auch nicht mehr ausschließlich Kaffee oder ein sonst unschuldiges Getränk genossen. In den jüngsten Decennien hat der Genuß des Absynths selbst in den vornehmsten Kaffeehäusern so sehr überhand genommen und bereits solche Verheerungen angerichtet, daß dieses Uebel allgemeine Bestürzung erregt und die Federn der bewährtesten Publicisten in fortwährender Thätigkeit erhält. Um die Größe dieses Uebels zu ermessen, muß man bedenken, daß es in Paris und dessen Weichbild neben den Kaffeehäusern an achtzehntausend Schenkwirthschaften giebt und daß in jeder dieser Wirthschaften eine größere oder geringere Quantität Absynth verabreicht wird. Die Presse thut alles Mögliche, um von dem Genusse dieses Getränkes abzuschrecken. Man hat den Absynthtrinkern unzählige Male gesagt, daß der Absynth den Menschen früher oder später in eine körperliche und geistige Ruine verwandelt, daß eine sehr beträchtliche Menge der in den Spitälern und Privatheilanstalten verpflegten Fallsüchtigen sowie in den Irrenhäusern behandelten Patienten demselben ihr Uebel zuzuschreiben hat. Auch haben die Experimente, die mit dem Absynth gemacht werden, dessen zerstörende Wirkung auf’s Unzweideutigste bewiesen. Man goß vor dem Publicum in eines der zwei Glasgefäße, in welchem kleine Fische herumschwammen, sechs Tropfen Blausäure, in das andere eben so viel Tropfen Absynth, und die munteren Thierchen starben schneller in diesem, als in jenem Gefäße. Einige Tropfen Absynth genügen, einer Katze epileptische Krämpfe zuzuziehen. Trotz alledem giebt es Tausende und aber Tausende, die den mehr oder weniger langsamen Vergiftungsproceß täglich mit sich vornehmen.

Das Absynthtrinken hat in den Pariser Kaffeehäusern mit dem Tabakrauchen zugenommen und zwar unter dem Empire. Vor dem Staatsstreiche wurde in wenig Pariser Kaffeehäusern, und auch dort nur in den dafür bestimmten Estaminets (Tabaksstuben) geraucht. Jetzt giebt’s in Paris kein einziges Kaffeehaus mehr, in welchem nicht fortwährend Pfeifen, Cigarren und Cigaretten qualmten. Mit der außerordentlichen Verbreitung in den Pariser Kaffeehäusern ist dort die Artigkeit mehr oder minder verschwunden, und es bestehen in Paris nur noch wenige Kaffeehäuser, wo der traditionelle gemessene Ton herrscht, und diese sind just die am wenigsten besuchten. Die äußere Eleganz steht nicht immer in geradem Verhältniß zur Vornehmheit, und das kleine schmucklose Café Tortoni ist bei weitem besser besucht, als das Grand Café oder das Café de la Paix, obgleich beide letztere an prachtvoller Einrichtung alle anderen Kaffeehäuser übertreffen.

Wie in Paris jeder Stadttheil seine eigene Physiognomie hat, so haben auch die Kaffeehäuser, je nach dem Stadtviertel, ihr eigenthümliches Gepräge. So unterscheidet sich auf den Boulevards fast jedes Kaffeehaus von dem anderen durch den Charakter seiner Besucher. Die Kaffeehäuser in der nächsten Nachbarschaft der Theater werden fast ausschließlich von dramatischen Schriftstellern, Schauspielern und Theaterrecensenten besucht. Hier werden die Pläne zu neuen Stücken entworfen, pikante Situationen berathen und über die Personen eines hervorzubringenden Vaudevilles verhandelt. Bekanntlich haben die leichten dramatischen Musenkinder, die in Paris erzeugt werden, gewöhnlich zwei, nicht selten sogar drei Väter. Der Eine liefert den Stoff; der Andere macht den Dialog, oder liefert das attische Salz, um diesen genießbar zu machen. So ist z. B. das Café des Variétés, das sich an der Seite des Theaters gleichen Namens befindet, der Vereinigungspunkt dramatischer Dichter, oder vielmehr Vaudevillefabrikanten, und sonstiger Leute, die am Karren des Thespis beschäftigt sind.

Der Fremde weiß die Physiognomien der Pariser Kaffeehäuser nicht zu unterscheiden, und ahnt nicht, daß dicht neben einem Kaffeehause, das von der soliden tugendhaften Bourgeoisie besucht wird, sich ein anderes befindet, dessen Stammgäste weder solid, noch tugendhaft sind. Es giebt auf den Boulevards viele Kaffeehäuser, in welchen das andere Geschlecht sich zahlreich einstellt. Die ungeschminkte Tugend besucht diese Kaffeehäuser niemals, weil dort das geschminkte Gegentheil allzustark vertreten ist. Manche Kaffeehäuser haben eine specielle Kundschaft, die ihr ganzes Leben hindurch dem Etablissement treu bleibt. So wird das Café de la Régence fast ausschließlich von Schachspielern besucht. Hier vereinigen sich täglich die ausgezeichnetsten Schachspieler von Paris, und wenn irgend ein berühmter Jünger des Palamedes nach der Hauptstadt kommt, unterläßt er es gewiß nicht, sogleich dieses Kaffeehaus aufzusuchen, wo man unausgesetzt den größten Scharfsinn anwendet, um die Könige ohnmächtig zu machen, ohne sich der Anklage des Majestätsverbrechens auszusetzen. Das Café de la Régence hat zu seinen Stammgästen den berühmten Schachspieler Philidor gezählt, dessen Bildniß dort aufgehängt ist und mit innigster Verehrung von seinen Nacheiferern betrachtet wird. Hier hat auch vor mehreren Jahren der Amerikaner Murphy jene großartigen Schlachten geschlagen, in welchen die Ritter fallen, ohne zu verbluten.

Ist nun das Café de la Régence der Sammelpunkt der Schachspielvirtuosen, so ist das Café Manoury bekannt durch die Virtuosen im Damenbrettspiel, welches eben nur diese Virtuosen nicht langweilig finden. Was aber das Dominospiel betrifft, so ist dasselbe die Leidenschaft besonders der kleinen Bourgeoisie, und es giebt in Paris kein einziges Kaffeehaus, wo nicht mit den schwarzäugigen Knochen unaufhörlich geklappert und gerasselt würde.

Es giebt auch in Paris, an der Ecke des Boulevard und der Rue Montmartre, ein Kaffeehaus, in welchem sich Pariser und auswärtige Diamantenhändler versammeln und sehr bedeutende Geschäfte abschließen. Dort werden geschliffene und rohe Diamanten in großer Menge ausgekramt. Die Besucher dieser Diamantenbörse unterscheiden sich gar sehr von ihrer kostbaren Waare, besonders in Bezug auf den Schliff.

Daß manche Kaffeehäuser ein Publicum von einer specifisch politischen Färbung vereinigen, kann man sich leicht denken. Seit vorigem Jahre haben die in der Wolle gefärbten Bonapartisten das Café de la Paix zu ihrem Rendezvous gewählt. Das Crethi und Plethi des Bonapartismus schimpft hier weidlich auf die Männer des vierten September, auf den Präsidenten der Republik, auf die Republik und die Republikaner, auf die Legitimisten und Orleanisten und wiegte sich vor dem Ableben des Ex-Kaisers in der süßen Hoffnung, sobald wie möglich den Mann von Sedan im Triumph nach Paris zurückführen zu können.

In Folge des jüngsten Krieges sind in Paris mehrere Kaffeehäuser verschwunden, die eine mehr als hundertjährige Vergangenheit hatten und ein historisches Interesse gewährten. Ich muß hier besonders das Café Procope erwähnen. Dieses Kaffeehaus, das im Jahre 1689 von dem Sicilianer Procope gegründet wurde, bildete im vorigen Jahrhundert den Sammelplatz der großen Schriftsteller, der kleinen Schöngeister und der Selbstherrscher der Kritik. Diderot, d’Alembert fanden sich hier täglich ein, nicht selten auch der hypochondrische Jean Jacques. Hier spitzte Piron seine Epigramme zu, und hier horchten Alle auf die Stimme des damaligen literarischen Weltbeherrschers Voltaire, der seine Witzpfeile nach allen Richtungen abschnellte. Das Café Procope wurde von vielen Fremden besucht, denen man den Tisch zeigte, an welchem der Verfasser der Henriade zu sitzen pflegte. Das berühmte Kaffeehaus ist aus Mangel an Kundschaft vor Kurzem eingegangen, und wer weiß, in welcher Rumpelkammer sich jetzt der historische Tisch befindet.

Ein anderes Kaffeehaus, unstreitig das eigenthümlichste von Paris, war das Café des Aveugles. Dasselbe befand sich in einem unterirdischen Geschoß des Palais Royal und verdankte seinen Namen dem Orchester, das allabendlich hier spielte. Es bestand nämlich aus lauter Blinden. Sie kamen jeden Abend mit dem Omnibus aus der Blindenanstalt und geigten, flöteten und posaunten ihre altfränkischen Stücke. Zwischen diesen musikalischen Leistungen, die sehr solide Ohren voraussetzten, ließ sich auch eine andere Musik hören, die noch viel solidere Ohren voraussetzte, da sie wie ein heftiges Donnerwetter in die Gehörorgane schmetterte. Ein als Wilder costümirter Mann in Tricot und mit einer hohen bunten Federkrone auf dem Kopfe erschien alle zehn Minuten gleich einem Deus ex machina und schlug fünfzehn Trommeln auf einmal. So plötzlich wie er kam, verschwand er auch wieder und ließ das Publicum, das fast ausschließlich aus Provinzialen und Ausländern bestand, verblüfft und betäubt zurück. Zum Schlusse producirte sich ein Bauchredner und sprach verschiedene Dialoge. Während mehrerer Menschenalter wurde dieses Programm ohne die geringste Abänderung allabendlich ausgeführt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_312.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)