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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Seefeld und Zirl an der Martinswand in kurzer Zeit Innsbruck erreichen und sich vorher in dem Wirthshause zu Seefeld bei Forellen, Cybebenbrod und selten gewordenem gutem Tirolerwein erquicken und von dem Legendenkram unterhalten lassen, der dort wuchert. Noch näher hat er es, in den freundlichen Markt Mittenwald zurückzukehren, wo das gute Bier ihn belehrt, daß er sich in Baiern befindet, und im Garten hinter der Post, den gewaltigen Karwendel unmittelbar vor sich, einem Berichte über den außerordentlichen Aufschwung zuzuhören, welchen der Handel mit Mittenwalder Geigen, Guitarren und Bässen nach allen Welttheilen genommen hat.

Von Legenden und Sagen wird er allerdings nicht so viel hören, als in Seefeld – es wäre denn die Sage, daß in den Bergen, in denen sonst nur Zinkblende und Bleiglanz vorkommt, einmal eine Silbergrube gewesen, die der „silberne Hansel“ geheißen habe und wegen des Uebermuthes der reich gewordenen Knappen verschwunden sei – oder die Geschichte von dem bereits genannten Franzosensteige, über den verschiedene Lesarten im Gange sind.

Freunde natürlicher Entwickelungen erzählen, ein bairischer Ingenieur Weiß, der sich eben auf Vermessung in der Gegend befand und dieselbe daher auf’s Genaueste kannte, habe den anrückenden Baiern und Franzosen den Bergweg gezeigt. Andere wollen wissen, ein alter vielfach abgestrafter Wildschütze, der wie vogelfrei in den Bergen gelebt, habe sich zum Führer angetragen, wenn er Pardon und Versorgung für seine Familie erhielte. Die dritte, wohl der Wahrheit am nächsten kommende Erzählung dürfte sein, daß der Jagdgehülfe Wurmer von den Franzosen durch Todesandrohung gezwungen wurde, den Führer zu machen, dann aber vor den Verfolgungen der benachbarten Tiroler flüchten und, als er einmal Nachts heimlich zurückkam, um Weib und Kind zu besuchen, an Dachrinnen und Dächern hinklettern mußte.

Doch hat auch die Romantik nicht unterlassen, in die schlichten grünen Zweige ihre Blumen einzuflechten und daraus ein Ganzes zu bilden, das dem Geschmacke der Mehrheit zusagt, dem überall das stärker Gewürzte am besten mundet.

Nach diesen Berichten hauste auf einer der Leutasch-Almen eine hübsche Tirolersennerin, die einen nicht minder hübschen bairischen Jagdgehülfen zum Schatze hatte, der denn auch fleißig zu ihr „gen Alm fuhr“ und sich dadurch eine ganz ungewöhnliche Orts- und Wegkenntniß aneignete. Das Paar hing mit seltener Liebe und Beständigkeit aneinander, und diese Anhänglichkeit wurde auch nicht gelockert, als der Krieg, durch welchen Tirol sich von der bairischen Herrschaft losmachen wollte, ausbrach, und die bisher ruhend gewesene Nationalitätenfrage bei beiden Bevölkerungen täglich und stündlich verschärfte und zuspitzte. Sie hatten sich in eine Art von Neutralität wie in eine Nebelkappe gehüllt und mochten wie Romeo und Julie oder Max und Thekla denken, sie Beide gehörten nicht zu ihren Häusern oder Stämmen. Da traf es sich, daß der Jäger von dem Anführer der Franzosen aufgefordert und genöthigt wurde, seine Truppen über den Berg in den Rücken der Tiroler zu führen – aber obwohl er es wider Willen und nur gezwungen that, ließ die Tirolerin keinen dieser Entschuldigungsgründe gelten: sie gab dem Feinde ihres Vaterlandes augenblicklich den Abschied und haßte ihn nun ebenso glühend, als sie ihn zuvor geliebt. Mit gleichen Augen von der ganzen tirolischen Nachbarschaft angesehen und nach Kräften verfolgt, mußte er sich in ein anderes Revier versetzen lassen. Vier Jahre später stand er mit der von Baiern gebildeten Schaar von Jägern und Forstleuten in der Scharnitz den bewaffneten Tirolern gegenüber, zu denen auch manche ihrer Mädchen und Weiber sich in kriegerischer Begeisterung gesellt hatten. Er fiel im ersten Gefecht und die Kugel, die ihn zu Boden streckte, soll aus der Büchse seiner einstigen Liebsten gekommen sein; mit der erreichten Rache aber, so wird hinzugefügt, sei auch ihr Haß gebrochen gewesen, Reue und Trübsinn hätten sich ihrer bemächtigt, und so sei sie lange halb irrsinnig unter den Leuten herumgegangen und habe durch Kräutersammeln und Wurzelgraben ein ärmliches Leben bis in das letztverwichene Jahrzehnt gefristet.

Im Anblick des Karwendel mag der Hörer wählen, welche Geschichte ihm die bessere dünkt und zu welcher am meisten die gefurchte Greisenstirn des Berghauptes stimmt, um dessen starre Locken sich das Abendroth flüchtig schlingt, wie ein Kranz irdischer Rosen um den Scheitel eines Unsterblichen.




Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen.
Gesichtsmusculatur und Beherrschung derselben. – Wie Darwin die Ausdrucksformen erforschte. – Die drei Principien. – Complicirte Bewegungen, Macht der Gewohnheit, Reflexthätigkeiten. – Das Beispiel vom Hunde. – Directe Einwirkung des Nervensystems.

Kinder lieben es, „Gesichter zu schneiden“; und wenn die Mutter beim Anblicke des Zerrens und Rümpfens ihres hoffnungsvollen Rangen zornig ausruft: „um Gotteswillen, Junge, die Gesichter ‚bleiben Dir ja stehn‘!“ – so liegt allerdings etwas Wahres in dieser prophetischen Drohung. Oeftere Wiederholung der nämlichen Bewegung führt zur Gewohnheit; Uebung lenkt in bestimmte Bahnen; der betreffende Muskel wird auf Kosten der anderen gestärkt, und so kann hieraus nicht blos die Neigung, gewisse „Gesichter zu schneiden“ hervorgehen, es kann der Mund bleibend eine schiefe oder anderweit ungehörige Stellung annehmen, die Stirn bleibend sich in bedenkliche Falten legen, aus denen der Physiognomiker seine Schlüsse zieht. –

Auf den Figuren 1 bis 3 (1. verkleinerte Copie aus Ch. Bell’s Anatomie, 2. und 3. aus Henle’s Handbuch der Anatomie) sehen wir das Hauptrüstzeug für den Ausdruck unserer Gemüthsbewegungen, die Gesichtsmusculatur, so wie sie sich nach Entfernung der Haut uns zeigt, als ein System in symmetrische Partien geordneter, dünner Fleischlagen, die durch ihre Zusammenziehung die Annäherung ihrer Ansatzstellen an einander und hiermit Veränderungen von größerem oder kleinerem Umfange hervorbringen. Durch Verbindung einiger dieser Muskeln unter einander wird die Wirkung theilweise eine zusammengesetzte. Die gesammte Gesichtsmusculatur aber wird durch den Gesichtsnerv regiert, der sich von der Ohrgegend aus über sie ausbreitet, und die durch äußere Eindrücke irgendwelcher Art veranlaßten Vorgänge im Hirn, dem Organe der Seele, nach außen trägt, indem er den einen oder den andern von ihnen zur Zusammenziehung bringt und so das Mienenspiel hervorruft.

Bei natürlichen Menschen werden gewisse Gemüthsbewegungen stets ihren bestimmten und deutlichen Ausdruck haben, am meisten bei Kindern, die bei geringem Unbehagen schon weinen und schreien, wo der Erwachsene noch „keine Miene verzieht“. Es tritt hier eine Beherrschung durch den Willen ein. Der Diplomat vermag ganz nach Bedarf ein gleichgültiges Gesicht zu machen, bei aller Freude über das Gelingen, bei allem Aerger über das Mißlingen einer Operation. – Die Thatsachen also sind an sich mehr oder weniger bekannt, daß gewisse Bewegungen, unter denen uns namentlich die des Gesichtes die bedeutendsten sind, gewisse Gemüthserregungen begleiten.

Die Anatomie lehrt den Verlauf der Muskelbündel und nach diesem ihre Wirkungsweise kennen. Es läßt sich so mit mehr oder weniger Bestimmtheit angeben: die Veränderungen, die wir am Gesichte eines Lachenden sehen, werden durch die, die des Weinenden durch jene Muskeln herbeigeführt. Ja, der Franzose Duchenne zeigte durch seine sogenannte „örtliche Faradisation“, das heißt durch Leitung des elektrischen Stromes auf ganz bestimmte Muskeln, daß man durch örtlichen Reiz auf bestimmte Stellen des Gesichts einzelne Muskeln zur Zusammenziehung bringen und so Ausdrucksformen erzeugen kann, die den durch bestimmte Gemüthserregungen hervorgerufenen täuschend nahe kommen. Im Jahre 1862 erschien sein Werk: „Der Mechanismus der menschlichen Physiognomie“, das mit prachtvollen Photographien ausgestattet war.

Außer diesem sind eigentlich nur noch Pierre Gratiolet’s an der Sorbonne gehaltene und nach seinem Tode 1865 herausgegebene Vorlesungen „De la physiognomie et des mouvements d’expression“ und bereits im Jahre 1844 Sir Charles Bell’s

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_298.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)