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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


von links herein der Karwendel und von rechts das Wettersteingebirge sich so eng aneinanderdrängen, daß dazwischen nur ein schmaler Durchgang bleibt, auf welchem die grüne Isar über dem harten Bette ihres Kieselgerölls sausend herangezogen kommt. Das ist der Scharnitz-Grund. Es giebt viel liebliche Thäler in den Bergen und manchen anmuthigen Winkel, der dem Reisenden den Gedanken weckt, daß es hier gut Hüttenbauen sein müßte; zu dieser Art von Gegenden gehört die Scharnitz nicht. Selbst im Hochsommer, wenn die von den Kalkschrofen des Gebirges eingesogene Hitze auch nachtüber anhält, hat das Gelände einen winterlichen Zug, der nicht eben zu längerm Verweilen einladet, aber wesentlich zu dem großartigen Bilde gehört, das sich in feierlichem Ernste vor dem Wanderer aufthut, zumal wenn er sich, um einen Gesammtüberblick zu gewinnen, die Mühe nicht verdrießen läßt, zu einem der vielen Kalköfen hinanzusteigen, welche am Isarufer häufig nach Gefallen errichtet, ausgenützt und dann dem Verfalle überlassen werden.

Das ist ein Schauplatz, wie er großartiger von der Natur selten geschaffen worden; zu beiden Seiten sind Berge als Coulissen vorgeschoben, und das Gebirge bildet einen Hintergrund, wie keine Bühne der Welt ihn zu bilden vermag. Von links fallen die Wände des Karwendels ab, während rechts ein Ausläufer des Wettersteins schroff abstürzt, in der Mitte aber die Felspyramide des Arnsteins gebieterisch in die Wolken ragt. Zu Füßen desselben im engen Thalgrunde liegt das Grenzdörfchen Scharnitz, eingebettet zwischen Ueberresten von Mauern und Schanzwerken, welche den schmalen Thalgrund und das Flußbett der Isar dereinst beherrschten und den Durchgang zu einem stark befestigten Engpasse gestalteten. In dem ersten Bergeinschnitte hinter demselben öffnet sich der Eingang in die drei unbewohnten Felsenthäler von Karwendel, Gleirsch und Oberau, von denen eines das andere an Wildheit zu überbieten sucht, während gegenüber sich das freundlichere, von ein paar kleinen Dörfern belebte Leutaschthal aufthut.

Schweigend liegt vor dem Beschauer der weite Thalgrund mit der Bergenge; nur das Rauschen der mit starkem Gefäll heranströmenden Isar dringt zu dem Beschauer herauf, oder über ihm ertönt der heisere Ruf eines majestätisch vorüberschwebenden Gold- oder Beinbrechadlers, die, sonst fast überall verschwunden, hier noch manchmal in den Felswüsten horsten. Wer die Gegend an einem schönen Abend überblickt, wenn die untergehende Sonne die schroffen weißgrauen Kalkwände mit dem Purpur des Alpenglühens übergießt, der mag wohl zu guter Stunde einen abgerissenen Gedanken des Monologs erkunden, in welchem die Natur ihren eigenen Herzschlag zu belauschen scheint. Von den flammenden Felsen, neben denen die quellennährenden Eisfelder und einige Schneerunsen liegen, wo nur Flechten am Gestein fortkommen und das duftende Wintergrün, gleitet das Auge zu den Kahren und Köpfen, auf denen die Gemse haust und das Schneehuhn brütet, und zu den langbegrasten Halden, mit Knieholz, Latschen und Legföhren, unter denen das Haidekraut kümmerlich fortkommt – es sind die gefährlichen Grate, wo Edelweiß, Jochraute und Jägerblüml blühen und schon Manchen zu sich emporgelockt haben, um ihn dann in’s Verderben hinunterzustürzen. Dann kommen die milderen Hänge, wo in geschützten Bergeinschnitten die Almen und Sennhütten liegen mit ihren saftig grauen Mähdern voll duftender Alpenkräuter und buntblühender Orchideen – wie die Wüste um eine Oase liegen Steinblöcke herum, auf denen die Glockenblume läutet, der Quendel nickt, die Gemskresse ihre Dolden schüttelt und der Steinbrech sich bescheiden anklammert. Nun folgt die Region der alten bärtigen Tannen, die gerade in diesen Gegenden einen seit Jahrhunderten unerschöpften Holzreichthum eröffnen, unter ihnen die Moose in den kostbarsten Formen und Arten und die Korallenwurz, die für ihre Aehren den dichtesten Schatten aussucht. In den Tannen- und Föhrenwald beginnen sich dann im allmählichen Absteigen Laubbäume zu mischen, unter denen der mächtige Bergahorn mit seiner herrlichen breitblätterigen Krone den Reigen führt, mildere Lüfte verkündend und mit ihnen die trauliche Nähe menschlicher Wohnungen.

Solche Spiele, welche die Natur vor dem Beschauer auf dieser Scene entfaltet, sind mannigfaltig und fesselnd genug; aber auch jene sind es nicht minder, die der Mensch – die vorüberziehende Staffage – auf ihr bereits aufgeführt hat, meist Vielen zum Leide und sich selber nicht zur Freude!

Die riesigen Berghäupter sahen wie jetzt hernieder, als das ganze Land vom tirolischen Zirl an bis heraus zum altbajuvarischen Kochelsee von undurchdringlichem Urwald bedeckt war, bis der kriegskundige Römer kam, ihn zu lichten, und, die Wichtigkeit der Bergenge erkennend, die Enge zu einem festen Passe (Scaranzia) umgestaltete; sie schauten mit dem gleich unbeweglichen Stein-Antlitz zu, als der Sturm der Völkerwanderung heranbrauste, um das Römergebäude in Trümmer und den Wohnsitz einer kurzen Cultur wieder in eine Einöde zu verwandeln. Gleichgültig hallten ihre Wände den Glockenton zurück, als zur Zeit der Frankenherrschaft Herzog Thassilo von Baiern einige Benedictinermönche in den Ruinen ansiedelte, denen es aber wohl zu unwirthlich war, so daß sie schon nach wenigen Jahren den rauhen Wohnsitz mit dem milderen Pustertal vertauschten. Es störte sie nicht aus ihrer gigantischen Ruhe auf, als im Mittelalter die Räder von ganzen Zügen schwer beladener Frachtwagen vorüberknarrten und die Schellen wälscher Maulthiere und Saumrosse unablässig klingelten: der Handel aus Italien und der Levante hatte sich hierher die Hauptstraße gebahnt und, wie die Gartenlaube bereits früher (Nr. 1 dieses Jahrgangs) geschildert, in dem nahen Mittenwald eine Lager- und Transitstation geschaffen, deren Bedeutung man sich jetzt nur noch schwer vorstellen kann. Das war besonders der Fall, als die stolzen Herren der Lagunenstadt den Weg über Bozen verpönten und förmlich in Verruf thaten, weil Herzog Sigmund von Tirol einen Zug venetianischer Kaufleute in Bozen gewaltsam angehalten und in’s Gefängniß geworfen hatte. Dann sahen sie, wie die friedlichen Bilder durch kriegerische von der Schaubühne verdrängt und, während der dreißigjährige Krieg in den deutschen Landen wüthete, die seit den Römertagen zerstörten Befestigungwerke aus den Trümmern aufgerichtet wurden. Herzogin Claudia von Tirol, die schöne Medicäerin (und Heldin in Hermann Schmid’s Roman „Der Kanzler von Tirol“), stellte dieselben großartig wieder her; die nach ihr benannte Porta Claudia kam aber erst später dazu, ihre Widerstandsfähigkeit zu erproben. Das war, als fast ein Jahrhundert später Max Emanuel von Baiern, der Stürmer von Belgrad, seinen Tirolerzug unternahm und die Veste, die sich ihm ohne besondere Schwierigkeiten ergeben hatte, für künftige Fälle vorsorgend, von Grund aus zerstörte. Wieder hergestellt, sollte sie erst in den Kriegen Napoleon’s noch eine – hoffentlich die letzte – kriegerisch blutige Berühmtheit erlangen.

Es war im Jahre 1805, als Marschall Ney, während Bernadotte über Kufstein in Tirol eindrang, gleichzeitig den Angriff durch die Scharnitz leitete. Sein erstes Corps unter General Laissé, aus etwa dreizehntausend Mann Franzosen und Baiern bestehend, stellte sich vor der Veste auf, welche, von dem österreichischen Oberstlieutenant Swinburne mit siebenhundert Mann Soldaten und Tirolerschützen vertheidigt, sowohl wegen ihrer Stärke als wegen der Lage selbst für uneinnehmbar galt. Zwei Stürme waren bereits mit großen Verlusten zurückgeschlagen, als die Franzosen einen unbesetzt gebliebenen Bergpfad entdeckten, der vom Wetterstein her über das sogenannte Alpel in das Leutaschthal und somit in den Rücken der Scharnitzstellung führte. Die Tiroler mußten sich zurückziehen, und als die Franzosen Morgens zum dritten Sturme anrückten, fanden sie die Werke verlassen, die sie dann so gründlich zerstörten, daß seitdem kein Versuch mehr gemacht wurde, sie wieder herzustellen. An der Isar liegen noch unansehnliche Ruinen derselben; über denselben zieht der Bergpfad hin, noch heute im Munde des Volkes der „Franzosensteig“ geheißen.

Jetzt ist die Scharnitz nur noch für den Naturfreund von Bedeutung; für einen solchen wird der Besuch im höchsten Grade lohnend sein, selbst wenn er nicht darauf ausgeht, die erwähnten Seitenthäler nach den hier vorkommenden seltenen Versteinerungen oder die Berghalden nach botanischer Ausbeute zu durchsuchen. Das Dörfchen selbst ist klein und noch ärmlicher als klein; der Schmuggel und das Wildschützenthum, einst die beiden Hauptpulsadern für das Leben der Bewohner dieser Gegend, sind unlohnend und unmöglich geworden, und so ist keine andere Beschäftigung geblieben, als in den Holzschlägen, Kohlenhütten oder Kreidegruben. Wer die Scharnitz wieder verläßt, kann über

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_296.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)