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Die Unfälle auf Eisenbahnen und ihre Ursachen.
Von M. M. von Weber.
I.

Es giebt wenige Erscheinungen im Völkerleben, welche so allgemeines und lebendiges Interesse erwecken, als die Unfälle auf Eisenbahnen.

Diese ernsten Vorkommnisse haben immer etwas Dramatisches, spielen sich häufig vor dem mehr oder weniger großen Publicum eines Eisenbahnzuges ab, und jeder glücklich davongekommene Zuschauer hat dabei das unbehagliche Gefühl, vielleicht bei nächster Gelegenheit selbst leidender Acteur bei solcher Scene sein zu müssen, während Schreck und Angst die Empfänglichkeit für den erschütternden Eindruck der oft überaus düster-grandiösen Erscheinung eines verunglückten Eisenbahnzuges vermehren. Der Anblick dieser entweder tief in die Erde gewühlten oder weit ab vom Gleise, auf der Seite, oder gar mit nach oben gekehrten Rädern auf dem Rücken liegenden Locomotiven, die, wie im Todeskampfe, ihren glühenden Athem stöhnend ausgestoßen; der Anblick dieser oft bis zu ihrer zwei- und dreifachen Höhe übereinander und ineinander geschobenen Wagentrümmer, die wie mit Mauerbrechern zusammengekeilt erscheinen; der Anblick endlich dieser blassen Menschen, die das Chaos umstehen – Alles das ist wohl geeignet, auch in einem festen Herzen einen mächtigen Eindruck, und in der Erinnerung ein leicht über die Wirklichkeit hinaus sich vergrößerndes, schwer verwischbares Bild zurückzulassen. Hier sehen wir die Hälfte eines Güterwagens in einem Wagen dritter Classe stecken, dort den Puffer einer Lowry, mit dem Sammtfetzen eines Saloncoupés phantastisch drapirt, zum Dache einer ersten Classe hinausragen, hier die Räder eines Personenwagens unbegreiflicher Weise im Innern eines Gepäckwagens stecken, dort ein Quader, von einem der letzten Stein-Lastwagen dahergeschleudert, sich auf zertrümmerten Sammtfauteuils breit machen, zerschmetterte Balken, gebogene Eisenstangen, wie Strohhalme zerknickte, mannsschenkelstarke Stahlachsen aus dem Chaos herausstarren, geplatzte Koffer, Säcke, aufgesprungene Kisten mit zerschmettertem Porcellan oder Glas den Boden um den Trümmerhaufen bedecken, unheimlich aussehende Rothweinbäche aus zerdrückten Fässern hervorrieseln. Glücks genug, wenn nicht noch das Elend der Verbandsstätte, der Jammer Verwaister oder die entsetzliche Spannung dazu kommt, die sich mit dem Hervorholen von Gefährdeten oder gar Verwundeten aus den ungeheuern Lasten der Haufen von Holz- und Eisentrümmern verknüpft, wo an der athemlosesten Eile Menschenleben hängen, und doch eine nicht mit höchster Vorsicht und Besonnenheit angesetzte Hebewinde einen neuen, alles in seinem Innern Befindliche zerquetschenden Zusammensturz des Trümmerhaufens herbeiführen kann.

Während sich nun einerseits, im Angesicht dieses düstern Bildes, die ganze Kraft der Menschentreue und des Pflichtbewußtseins in jenen entschlossenen schmutz- und rußbedeckten Männern zeigt, die im Augenblicke schon, wo sie kaum selbst dem Tode entgingen, ernst und besonnen Winde und Hebel ansetzen, Meißel und Schraubschlüssel handhaben und sich kaum Zeit lassen, von der schreckensbleichen Stirn den Schweiß oder auch hier und da vielleicht einen Blutstropfen abzuwischen, da es gilt, Leben oder Eigenthum zu retten, oder ihre Bahn wieder frei zu machen, wird andererseits – natürlich und daher entschuldbar – die menschliche Schwäche laut.

Die verletzte, fieberisch unklar erregte Menschennatur fordert ein Sühnopfer, und schnell bildet sich unter denen, welche die Trümmerstätte umstehen, die Meinung über die Ursache des Unfalles und häuft sich der Zorn auf den Armen, den, nach der Ansicht dieser Umstehenden, die unumstößlich bewiesene Schuld der Katastrophe trifft. Wenn sie zu Gericht zu sitzen hätten, so gäbe es nur Lynchjustiz für sie, und doch würden selbst die, welche der Unfall selbst mit betraf, die den ganzen Verlauf mit ansahen, sofort nach demselben dessen ganze Scenerie klar erfaßten, in neunundneunzig unter hundert Fällen einen Justizmord begehen – wenn sie nicht erfahrene, besonnene Eisenbahntechniker sind – und diese würden wieder in neunundneunzig unter hundert Fällen nicht sofort urtheilen.

Das Eisenbahnwesen theilt das Schicksal der Kunst, daß jeder es verstehen, jeder es regieren zu können glaubt. Werden doch Eisenbahn- wie Theater-Regenten meist aus Holz geschnitzt, das möglichst weit vom Schauplatz ihrer Thätigkeit entfernt gewachsen ist; aber fast über nichts im Bereiche des Eisenbahnwesens herrschen so wenig reife Anschauungen, selbst unter Gebildeten, als über das Maß der Sicherheit oder Unsicherheit des Eisenhahnverkehrs und die Momente des Betriebes, welche zur Vermehrung oder Verminderung desselben sachgemäß beitragen.

In Nachstehendem soll der Versuch gemacht werden, an der Hand der zur Zahl gewordenen Erfahrung, der Statistik, auf das Hauptsächliche von Dem hinzuweisen, worauf es dabei wirklich ankommt.

Die Statistik ist aber ein scharfes Werkzeug, mit dem der Weise sehr Nützliches bilden kann, der Unweise aber sich selbst, und der Unredliche, was schlimmer ist, die Wahrheit verletzt. So haben die officiellen Rechenschaftsberichte der Eisenbahnverwaltungen den Begriff der „Selbstverschuldung“ in die Zahlennachweise der Unfälle eingeführt, und die kritiklose Statistik hat es nachgebetet. Damit ist das Mäntelchen fertig, das sich jeder administrativen und technischen Mißwirthschaft in Bezug auf Sicherheit des Betriebes umhängen läßt.

Fast immer wird eine redlich geführte Untersuchung wahrheitsgemäß nachweisen, ob ein Passagier durch seine eigene Verschuldung oder durch die der Bahnverwaltung verunglückte. Es ist nicht seines Amtes, beim Eisenbahnreisen kühn zu sein und zu wagen. Ganz anders verhält es sich aber mit dem Verschulden der Beamten und Arbeiter. Dieses stellt sich nur zu häufig da heraus, wo sich, im Grunde genommen, lediglich Schuld der Verwaltung zeigen sollte.

Wenn ungeheure Dimensionen und unpraktische Anlagen der Stationen ein so complicirtes, unübersichtliches Gebahren beim Arrangiren der Züge, ein so rasches Durcheinanderschieben von Hunderten von Wagen mit mehreren Maschinen gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen her, ein gleichzeitiges Signalisiren mit Pfeifen, Fahnen, Hörnern etc. an allen Seiten bedingen, so daß das verwirrte, vielfach gefährdete untere Personal fortwährend kühn Leib und Leben daran setzen muß, damit nur überhaupt der Dienst prompt und stramm gethan werde, die Züge rechtzeitig abgehen können – und ein Mann wird dabei zwischen den Puffern erdrückt oder todtgefahren – Selbstverschuldung!

Wenn einem Weichensteller weit auseinander liegende Weichen zu bedienen gegeben werden, so daß er bei Nacht und Nebel, Schnee und Glatteis zwischen rasch bewegten Wagen, eilenden Maschinen hindurch, über Gleise hin, von der einen Seite zur andern springen muß, und er gleitet aus, fällt und wird getödtet oder verkrüppelt – Selbstverschuldung, Unvorsichtigkeit!

Wenn absurde Glockensignale, deren zahlreiche Töne- und Pausengruppen fast das wache Ohr eines Mozart zu ihrer Unterscheidung bedürfen, von einem schlaftrunken auftaumelnden Wächter im Wintersturmgeheul und Regenplätschern mißverstanden werden und er kommt zu Schaden – Unaufmerksamkeit, Selbstverschulden!

Wenn kauderwelsch gefaßte Instructionen, unklare, widersprechende Ordres, undeutliche Zeichen den schwer beweglichen Sinn des schlichten Mannes verwirren und er wird zum Krüppel gefahren – Selbstverschulden, Unaufmerksamkeit!

Wenn für den vom übermäßigen Dienste todtmüden, auf der Locomotive stehenden Führer, den halberstarrten Schaffner, den durchnäßten Weichensteller, der seit Tagen nur stundenweise geschlafen hat, Wirklichkeit und Halbtraum sich in sonderbaren Hallucinationen durcheinander schieben und er rechts statt links schreitet, nach oben statt nach unten greift – und er verunglückt – Selbstverschulden, Schlaftrunkenheit! Wehe ihm, wenn er etwa, zur Belebung seiner gesunkenen Lebensgeister, vielleicht nur um seinen Dienst treu leisten zu können, einen Tropfen geistigen Getränkes getrunken, das, wie bekannt, drastisch auf den Müden wirkt! Wird er dann schwer verletzt – Selbstverschulden! – geheilt, wird er von Amt und Brod gejagt.

Eine dreißigjährige Eisenbahnpraxis hat den Verfasser mit der Ueberzeugung gesättigt, daß die Disciplin im Eisenbahndienste eine eiserne, unerbittlich arbeitende Maschinerie sein muß, die jeden wirklich Schuldigen erdrückt, aber ein kategorischer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_258.JPG&oldid=- (Version vom 31.7.2018)