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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte. Der Strohhut hing ihr am Arm und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmuth und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.“

Was weiter sagen? Es hob an diesem Tage schon zwischen den Beiden das ewigalte und ewigjunge Spiel an von Augen, die sich suchen, von Herzen, die sich finden, von Händen, die einander zu fassen sich sehnen. Friederike’s Blauaugen ließen sich durch die ärmliche Candidatenmaske nicht irremachen: mit jenem scharfen Mädcheninstinct, welcher mitunter alle Erfahrungen einer Frau an Treffsicherheit übertrifft, mochte sie in dem schönen Fremdling den Götterliebling, den Auserwählten erkennen und hinwiederum muß ihre „Lieblichkeit“ in der That eine überwältigende gewesen sein. Denn unser Wolfgang brachte schon von diesem ersten Besuch in Sesenheim ein lichterloh brennendes Herz mit nach Straßburg zurück, von wo er am 15. October an Friederike schrieb: „Mein Aug’ fand im ersten Blick die Hoffnung zur Freundschaft in Ihrem und für unsere Herzen wollt’ ich schwören; Sie zärtlich und gut, wie ich Sie kenne, sollten Sie mir, da ich Sie so liebhabe, nicht wieder ein bißchen günstig sein?“ Ach ja, das arme Kind war ihm gut und günstig, nicht „ein bißchen“, aber sehr. Auch das Töchterlein des guten Pfarrers, dessen lange Predigten der Wolfgang mit himmlischer Geduld anhörte, weil im Kirchenstuhl neben der Geliebten sitzend, hatte Feuer gefangen, aber in der Liebenden ist diese Flamme erst im Tode erloschen. Charakteristisch und unserem lichterloh brennenden Dichter sehr zur Ehre gereichend war es, daß er, der von seiten der heißen Lucinde auf seine Lippen gelegten Verwünschung eingedenk, Bedenken trug, die Lippen des geliebten Mädchens mit den seinen zu berühren. Freilich währte dieser Scrupel nicht länger, als eben solche Scrupel zu währen pflegen. Mit dem Frühlingsanbruch von 1771 sproßte ein ganzer Friederike-Liederstrauß aus Wolfgangs Herz hervor, ein Strauß von Liedern, wie sie eben nur ein „von einer Empfindung ganz volles“ Dichterherz zu offenbaren vermochte. Manche dieser Friederikelieder gehören zu dem Innigsten, Zartesten und Feurigsten, was Goethe gedichtet hat. Wie hätte er auch anders dichten können in jenen sechs Frühlingswochen, welche er in Sesenheim verbrachte? War er doch, wie er vierzig Jahre später bekannte, „grenzenlos glücklich an der Seite Friederike’s, als deren Verlobter er stillschweigend anerkannt gewesen zu sein scheint. Es war da nahe bei der Pfarre ein Gehölz, welches das „Nachtigallwäldel“ hieß, weil die Nachtigallen, meinten die Sesenheimer Bauern, so darin „plärrten“, daß man Nachts nicht schlafen konnte. Hierher sind Wolfgang und Friederike gewandelt, um, wie er angiebt, „durch die herzlichste Umarmung und die treulichste Versicherung einander zu sagen, daß sie sich von Grund aus liebten“. Sehr begreiflich und verzeihlich unter solchen Umständen, scheint mir, daß „alle hypochondrischen und abergläubischen Grillen“, Lucinde und ihre Verwünschung dem Liebenden entschwanden und er seine „so zärtlich Geliebte recht herzlich zu küssen nicht versäumte, auch die Wiederholung dieser Freude sich nicht versagte.“

Aber nicht nur „unter Palmen“, sondern auch unter den Buchen des Nachtigallwäldels von Sesenheim wandelt man nicht ungestraft. Dem Menschen, wie er nun einmal ist, wird ein volles, reines, ungestörtes Glück gar nicht beschieden. Es muß so sein; denn wäre es nicht so, würde der Mensch vor Uebermuth toll werden. Das schwarze Verhängniß, welches allezeit selbst über den augenblicklich Glücklichsten drohend hängt, ist für das Gleichgewicht der Menschenseele ebenso nothwendig wie für das Gleichgewicht des Menschenleibes der Druck der Atmosphäre. Ein Gefühl, daß die Blüthen des Sesenheimer Liebesfrühlings welken müßten, macht sich mitunter schon in den Briefen hörbar, welche der glückliche Wolfgang aus Sesenheim nach Straßburg an Salzmann schreibt:

„Ich fühl’ es, lieber Freund, daß man um kein Haar glücklicher ist, wenn man erlangt, was man wünscht. Die Zugabe! die Zugabe! die uns das Schicksal zu jeder Glückseligkeit dreinwiegt! Es gehört viel Muth dazu, in der Welt nicht mißmuthig zu werden!“ …

Die Zugabe, die Zugabe, ja wohl! Goethe’s Biographen und Beurtheiler haben sich viele Mühe gegeben, den Sinn dieses Wortes herauszubringen. Einer (Viehoff) will darunter verstanden wissen „das tiefe Gefühl des Dichters, daß es ein Treubruch an sich selbst wäre, wenn er seine Seele so frühe und für immer in diese idyllisch begrenzte Sphäre einschränkte“. Ein zweiter (Schäfer) findet in der „Zugabe“ die „Erkenntniß, daß diese Liebe nicht der Lebensinhalt für seinen hochstrebenden Genius sein könne“. Ein dritter (Düntzer) glaubt, die „Zugabe“ sei die „Einsicht gewesen, daß er nicht bestimmt sei, das wahre Glück der Liebe in ruhigem Besitze zu genießen“. Ein vierter endlich (Leyser) erklärt: „Es war das tiefe Gefühl des Abstandes zwischen Idee und Wirklichkeit, das ihn ergriff, die Klage, die so schmerzlich zu uns spricht aus den Gebilden unserer Dichter und Künstler, daß wir emporstreben nach unseren Idealen wie Adler nach der Sonne, wie Adler mit gebrochenen Fittigen.“ Zweifelsohne enthält jede dieser Ansichten ein Korn Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Mir selbst hat der kalte Windstoß der Reflexion, wie er in des Dichters Aeußerung gegen Salzmann plötzlich die Blüthendolden des Sesenheimer Liebesfrühlings schüttelte, eine Stelle aus Goethe’s „Ewigem Juden“ im Gedächtniß wachgerufen, die Stelle, wo von Christus bei seinem zweiten Herabsteigen zur Erde gesagt ist:

„Er fühlt im vollen Himmelsflug
Der irdischen Atmosphäre Zug,
Fühlt, wie das reinste Glück der Welt
Schon eine Ahnung von Weh enthält.“

Das war es! Aber es war noch nicht Alles, und auch das Uebrige muß gesagt werden: – das Organ der Treue war in Goethe’s Seele wenig entwickelt und es widersprach der Wahrhaftigkeit seines Wesens, den von ihm geliebten Mädchen und Frauen auch dann noch Treue zu heucheln, wenn er die Nutzlosigkeit oder gar die Verderblichkeit seiner Leidenschaft eingesehen hatte. In seinem Verhältnisse zu Friederike war von Anfang an ein obzwar zuerst gar nicht beachtetes, aber doch thatsächlich störendes Moment gewesen: der Umstand, daß das liebe Kind „auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin stand“. Die Convenienz ist nun einmal in der Welt, mit allen ihren Formen und Normen, und selbst der genialste Stürmer und Dränger, das titanenhafteste Kraftgenie kann sich an dieser „brutalen Thatsache“, so es gewaltsam gegen sie anstürmt, nur den Schädel einrennen. Das fühlte Goethe, welcher bei all’ seiner Phantasiefülle und all’ seinem Empfindungsüberschwang doch gar wohl wußte, daß es nur dummes Zeug absetzt, wenn man das Poetische in die Prosa der Wirklichkeit willkürlich übertragen will. Es ist vielleicht grausam zu sagen, aber wahr: es ist zweierlei, sehr zweierlei, ein holdes „Maidle“, wie die arme Friederike war, unter den Buchen des Sesenheimer Nachtigallwäldels zu küssen oder aber selbiges Maidle in seiner elsässischen Landestracht in das reichsstädtisch-patrizisch-ehrensteife Vaterhaus heimzuführen, allwo ein kaiserlicher Rath Johann Kaspar sehr viel auf Schnörkelrahmen und chinesische Tapeten hält. Aber die Frau Aja würde sich doch wohl leicht in die schöne und seelengute ländliche Schwiegertochter gefunden und geschickt haben? Vielleicht – vielleicht aber auch nicht. Frauen sind unberechenbar, und vollends Schwiegermütter! Das ganze Mißverhältniß zwischen seiner Leidenschaft und seiner Zukunft, zwischen seiner und der Geliebten socialen Stellung mußte unserem Dichter aufgehen, als im Sommer Friederike mit ihrer Mutter und Schwester zum Besuche bei Verwandten nach Straßburg hereinkam. Der Farbenschmelz des Sesenheimer Idylls mußte innerhalb der Stadtmauern erblassen; es konnte gar nicht anders sein. Die Harmonie von Friederike’s Erscheinung und Gebaren mit ihrer ländlichen Umgebung mußte in der städtischen zur Dissonanz werden; man kann das gar nicht bezweifeln. Goethe hat es allerdings nicht ausdrücklich anerkannt, daß ihn dieser Besuch zur Trennung von der Geliebten bestimmt habe; aber seine Aeußerung: „Endlich sah ich sie abfahren und es fiel mir wie ein Stein vom Herzen!“ spricht gewiß deutlich genug. Freilich, der Kampf zwischen Leidenschaft und Entsagung war damit keineswegs schon zu Ende gekämpft. Im Gegentheil, derselbe hob jetzt erst recht an.

Es steht fest, daß der Dichter niemals das entscheidende Fragewort an die Geliebte gerichtet und daß demnach auch niemals

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_245.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)