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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Shakspeare, dessen Geltung unter ihnen „bis zur Anbetung“ ging. Glückliche Menschen von damals, die ihr noch verehren, anbeten, lieben konntet! Uns Nachgeborenen ist nur die Verneinung, die Kritik und der Haß geblieben.

Ein echthuman liebevoller Zug ging durch die Kraftgenialität unseres Straßburger Studenten Goethe. War da der gute Jung-Stilling mit seinem Mitankömmling und Freunde Trost zum erstenmale zur Tafelrunde bei den ehrsamen Jungfern Lauth erschienen. „Wir waren zuerst da,“ erzählt er uns, „und man wies uns unsern Ort an. Es speisten ungefähr zwanzig Personen an diesem Tisch und wir sahen einen nach dem anderen hereintreten. Besonders kam einer mit großen hellen Augen, prachtvoller Stirn und schönen Wuchses muthig in’s Zimmer. Wir wurden gewahr, daß man diesen ausgezeichneten Menschen Herr Goethe nannte, glaubten aber, daß wir viel Verdruß mit ihm haben würden, da ich ihn für einen wilden Kameraden ansah. Herr Trost sagte leise zu mir: ‚Hier ist’s am besten, daß man vierzehn Tage schweigt.‘ Wir schwiegen also; es kehrte sich auch niemand sonderlich an uns, außer daß Goethe zuweilen seine Augen herüberwälzte. Er saß mir gegenüber und er hatte die Regierung am Tische, ohne daß er sie suchte.“

Er war aber ein guter Tischregent, wie Stilling sofort erfuhr. Unser der Augenheilkunde beflissener Neuling hatte statt einer modischen „Beutelperücke“ eine runde auf. An dieser stieß sich der spottlustige Mediciner Waldberg, welcher vielleicht in dem „Fuchs“ mit der runden Perücke noch dazu einen der „Stillen im Lande“ erkennen mochte. Fragte daher plötzlich über den Tisch herüber: „Was meint Ihr, hat wohl Adam im Paradiese auch eine runde Perücke getragen?“

Darauf wurde der Stille sofort laut, denn das hieß ja nicht nur seiner, sondern auch der Heiligen Schrift spotten. „Schämen Sie sich,“ sagte er muthig aus seiner runden Perücke heraus, „ein solcher Einfall ist nicht werth, daß er belacht werde.“

Das fanden freilich die anderen nicht, denn alle lachten herzlich bis auf Salzmann und Goethe. Der „wilde Kamerad“ nahm sich sogar des Verspotteten offen und tapfer an, indem er dem Spötter die geflügelten Worte zurief: „Probire doch erst einen Menschen, ob er des Spottes werth sei. Es ist teufelsmäßig, einen rechtschaffenen Mann, der Keinen beleidigt hat, zum besten zu haben!“

Wie das dem Stilling wohlthat! Von Stund’ an hat er sich mit der ganzen Anschmiegsamkeit seines Wesens seinem Beschützer angeschmiegt.

Diese Kosttischscene zeigt uns deutlich genug, daß unseres Wolfgangs Auftreten schon damals überall ein siegreiches gewesen ist. Er war ein prächtiger Junge. Es ist uns bezeugt, daß, wenn er zu Straßburg in eine Gaststube trat, die Gäste Messer und Gabeln ruhen ließen und die erhobenen Gläser niedersetzten, um des Jünglings apollonische Schönheit anzustaunen; diese schlanke, mannhafte, breitbrüstige Wohlgestalt, diesen edelgeformten, auf kräftigem Nacken leicht sich wiegenden Kopf, diese hohe, breite, freie Stirn mit den langen schön geschwungenen Brauen, unter denen die mächtig großen braunen Augen ihr olympisches Feuer hervorstrahlten, die kühn vorspringende, aber fein modellirte Nase, das energische Kinn, die frischen, vollen, rothen Lippen, deren wohlwollendem, schalkhaftem oder zärtlichem Lächeln zu widerstreben die Frauen so schwer, wenn nicht unmöglich fanden. Ach ja, die Frauen und, selbstverständlich, auch die Mädchen, die „Maidle“, wie Goethe in seinen Straßburger Briefen sie mitunter auf gut elsässisch nannte. So hat auch jene junge Französin Lucinde, von deren Vater unser Student in die höhere Tanzkunst sich einweihen ließ, die Unwiderstehlichkeit des Goethe’schen Lächelns schmerzlich erfahren. Es muß ein wild-dramatischer Auftritt gewesen sein, als die auf ihre jüngere Schwester Emilie Eifersüchtige den leidenschaftlich geliebten jungen Mann „ganz eigentlich beim Kopfe faßte“ und – Goethe spricht – „mir mit beiden Händen in die Locken fuhr, mein Gesicht an das ihrige drückte, mich zu wiederholten malen auf den Mund küßte und ausrief: ‚Unglück über Unglück auf Diejenige, die zum erstenmal nach mir diese Lippen küßt! Wage es nun, Schwester, wieder mit ihm anzubinden! Und Sie, mein Herr, eilen Sie, was Sie können!‘“

Wir glauben dem also Fortumarmten und Weggeküßten gern, daß er die Treppe „hinunterflog mit dem festen Vorsatze, das Haus nicht wieder zu betreten“.

Nicht ganz unstatthaft dürfte die Vermuthung sein, daß dieses Muster von französischer Liebe mit dazu beigetragen haben könnte, den Wolfgang in seinen damaligen starkdeutschen Neigungen zu kräftigen. Jedenfalls fiel seine ganz entschiedene Abwendung von der französischen Literatur in diese Straßburger Zeit voll Sprossens, Tastens und Suchens. Er kehrte seine Blicke theilnahmevoll der Vergangenheit seines Volkes zu und hier blieben sie an der derbknochigen Rittergestalt des „Götz von Berlichingen“ haften, welcher in alten Tagen auf seiner Burg Hornberg am Neckar die Denkwürdigkeiten seiner so ziemlich raubritterlichen Laufbahn aufgezeichnet hatte. Es darf wohl ohne Widerrede angenommen werden, daß die Anfänge des Goethe’schen „Götz“ in Straßburg entstanden sind. Dagegen lassen sich schlechterdings keine Beweise beibringen für die Meinung, unser Dichter habe während seiner Straßburger Zeit so oder so auch schon mit den großen Problemen, welche in den nächsten Jahren gestaltungheischend an ihn herantraten, mit den Problemen „Faust“, „Prometheus“, „Ahasver“, „Mohammed“ sich getragen und beschäftigt. Die Juristerei wurde zwar auch hier, wie in Leipzig, nur so nebenbei getrieben; doch wurde sie getrieben im Hinblick auf den Wunsch und Willen des Herrn Vaters daheim, der da nicht leiden konnte, daß man seine Haustreppe umgebaut haben wollte und daß man seine Spiegelrahmen „schnörkelhaft“ und seine Tapeten zu „chinesisch“ fand. Jedenfalls aber hörte unser Student medicinische Vorlesungen mit mehr Antheil als seine berufswissenschaftlichen. Die Jurisprudenz hat ihn ja seinem Eingeständniß zufolge überhaupt nur soweit beschäftigt, als es galt, „die Promotion mit einigen Ehren zu absolviren“.

Zuvörderst galt es aber, einen ganz anderen Cursus zu absolviren, den Friederike-Cursus, welchen er im zehnten und elften Buche von „Dichtung und Wahrheit“ so reizend geschildert hat. Ja, als der alte Goethe diese Schilderung dictirte, da ist ihm das Herz jung geworden in der Brust und aufgegangen wie eine Blume im Frühlingssonnenlicht. Sein damaliger Geheimschreiber Kräuter hat bezeugt, daß der alte Herr, statt wie sonst beim Dictiren gleichmäßig im Zimmer hin und her zu gehen, zu jenen Stunden, wo ein Hauch der Erinnerung aus den Feldern und Wäldern von Sesenheim ihn umspielte, tiefergriffen stillgestanden sei und sein Dictat durch lange Pausen unterbrochen habe. Dann habe er sich die belastete Seele mittelst tiefen Aufseufzens erleichtert, um gedämpften Tones fortzufahren. Warum auch sollte er nicht tief ergriffen, warum nicht schmerzlich bewegt sein? Er mußte ja auch dann noch, in seinen alten Tagen noch fühlen, daß die Trennung von Friederike, die ihm so mit ganzer Seele zu eigen gewesen, wie es keine andere mehr ward, der große Unsegen seines Lebens geworden …

Wie unser zu schalkhaften Streichen stets geneigter Straßburger Student eines schönen Octobertages von 1770 im An- und Aufzug eines armen Teufels von Candidaten der Theologie mit seinem Kameraden Weyland nach Drusenheim hinüberritt, um von dort in’s Pfarrhaus des nahe gelegenen Sesenheim zu wandern und die bekannte Gastfreiheit des wackeren Pfarrers Johann Jakob Brion anzusprechen; item, wie den angeblichen Candidaten die Sesenheimer Pfarre sammt ihren Insassen – Vater, Mutter, drei Töchtern und einem Jungen – anmuthete wie Goldsmiths in die Wirklichkeit übersetztes Idyll vom „Vicar of Wakefield“ – ist allbekannt. Die noch nicht ganz sechszehnjährige Friederike Brion (geboren 1754) kam den Gästen etwas später vor Augen als die übrigen Mitglieder der Familie. Die Erinnerung, wie das herzige „Maidle“ zuerst seinen Augen sich darstellte, lebte unauslöschlich frisch und farbenhell in Goethe’s Seele fort. „Endlich trat sie in die Thür und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Die Mädchen trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese Nationaltracht kleidete Friederiken besonders gut. Ein kurzes weißes rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine schwarze Taffetschürze: so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie einher und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu

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