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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

er nicht fest bleibt. Er muß vorwärts, und vorwärts zu müssen, das ist immer ein Vortheil im Kampfe.“

„Aber wenn es sich um das Vermögen handelt!“

„Aber wenn es sich um die Ehre handelt!“

Die beiden Herren geriethen wieder in eine jener hitzigen und fruchtlosen Debatten, deren Resultat gewöhnlich war, daß ein Jeder bei seiner Meinung blieb, und so geschah es auch diesmal, als sie sich kurz darauf trennten.

„Es ist doch etwas Schönes um die Neutralität,“ grollte der Ober-Ingenieur dem Collegen nach, indem er in sein Haus trat. „Nur immer hübsch ängstlich, immer hübsch vorsichtig, es nur ja mit keiner Partei verderben, weil man nie wissen kann, welche einmal an’s Ruder kommt. Ich wollte, all die Hasenfüße – Wilberg, was zum Kukuk haben Sie denn da mit meiner Tochter zu schaffen?“

Die beiden jungen Leute, denen diese Anrede galt, fuhren erschrocken auseinander, als seien sie auf einem Verbrechen ertappt worden, obgleich es in Wirklichkeit nur ein ganz harmloser Handkuß war, den sich Herr Wilberg erlaubt hatte, aber er sah dabei so gefühlvoll, und Melanie ihrerseits so gerührt aus, daß ihr Vater, durch das vorhergehende Gespräch mit dem Director schon geärgert und gereizt, wie ein Ungewitter dazwischen fuhr.

„Ich bitte ganz außerordentlich um Entschuldigung!“ stammelte der junge Beamte, während Fräulein Melanie, in dem Bewußtsein, daß ein Handkuß unter keinen Umständen etwas Schlimmes sei, ziemlich keck dreinschaute.

„Ich bitte ganz ordentlich um eine Erklärung!“ rief der Ober-Ingenieur zornig. „Was haben Sie hier unten auf dem Hausflur zu thun? Warum gehen Sie nicht, wie es sich gehört, in das Visitenzimmer?“

Die geforderte Erklärung ließ sich nun wirklich nicht in drei Worten geben, obgleich die jungen Leute unschuldig genug an diesem Zusammentreffen waren. Wilberg war in das Haus seines Vorgesetzten gekommen, einen Auftrag Herrn Berkow’s im Kopfe und tiefe Schwermuth im Herzen. Letztere galt natürlich der Abreise der gnädigen Frau, die er bereits am Abende vorher erfahren, aber an dem betreffenden Morgen glücklich verschlafen hatte. Der junge Beamte war kein Frühaufsteher und hätte nie den Leichtsinn begangen, sich der neblig kalten Morgenluft auszusetzen, in der man sich den Rheumatismus holen konnte. Er war es nicht gewesen, der damals beim Tagesgrauen unter den Tannen gestanden, dort, wo die Chaussee in den Wald einbog, geduldig wartend, trotz Nebel und Kälte, um der einen Minute willen, in welcher der Wagen vorüberrollte, um des einen Blickes willen, der im Innern desselben ein Antlitz suchte, das er nicht fand, denn dies Antlitz lag mit geschlossenen Augen in den Polstern vergraben. Als jener Andere heimkehrend unter seinem Fenster vorüberging und in das Haus des Schichtmeisters trat, schlief Herr Wilberg noch in ungestörter Ruhe, was ihn aber nicht hinderte, sich beim Erwachen grenzenlos unglücklich zu fühlen und die ganze Woche hindurch eine so melancholische Miene zur Schau zu tragen, daß Fräulein Melanie, die ihm zufällig im Hausflur begegnete, nicht umhin konnte, theilnehmend zu fragen, was ihm denn fehle.

Der junge Dichter war gerade in der Stimmung, seinen Schmerz irgend einem mitfühlenden Wesen auszuströmen; er seufzte daher verschiedene Male, machte Andeutungen und schüttete zuletzt natürlich sein ganzes Herz aus, um ebenso natürlich ein noch weit größeres Mitleid dafür in Empfang zu nehmen. War die junge Dame vorhin neugierig gewesen, so wurde sie jetzt über alle Maßen gerührt. Sie fand die Sache hochromantisch, den armen Wilberg ihrer tiefsten Theilnahme würdig, und nahm es daher auch ganz unbefangen hin, als er am Ende all dieser Mittheilungen und Tröstungen ihre Hand ergriff, um einen dankbaren Kuß darauf zu drücken; es war ja nicht die geringste Gefahr dabei, da er eine Andere liebte.

In diese rührende Scene nun fuhr der Herr Oberingenieur mit der ganzen Prosa seiner väterlichen Autorität und verlangte zu wissen, warum diese Herzensergießungen hier unten im Hausflur und nicht oben in der Visitenstube vor sich gingen, wo ihnen die Gegenwart der Mama selbstverständlich einige Schranken auferlegt hätte. Herr Wilberg, im Bewußtsein des großen Unrechts, das ihm hier geschah, raffte sich zusammen.

„Ich habe einen Auftrag von Herrn Berkow,“ erklärte er.

„So? Das ist etwas Anderes! Geh’ hinauf, Melanie! Du hörst ja, daß es sich um Geschäftssachen handelt.“

Melanie gehorchte, während ihr Vater am Fuße der Treppe stehen blieb, ohne den jungen Beamten, wie sonst, in seine Wohnung einzuladen, so daß dieser genöthigt war, sich hier seines Auftrages zu entledigen.

„Es ist gut,“ sagte der Oberingenieur ruhig. „Die betreffenden Zeichnungen stehen Herrn Berkow zur Disposition; ich werde sie ihm selbst bringen. Und nun ein Wort zu Ihnen, Wilberg! Ich habe Ihnen trotz einer gewissen gegenseitigen Antipathie doch immer Gerechtigkeit widerfahren lassen.“ Herr Wilberg verneigte sich. „Ich halte Sie sogar für einen ganz tüchtigen Beamten.“ Herr Wilberg verneigte sich zum zweiten Male. „Aber auch für etwas verrückt.“

Der junge Mann, der soeben im Begriffe war, die dritte Verbeugung zu machen, fuhr in die Höhe und starrte ganz fassungslos seinen Vorgesetzten an, der mit unverwüstlicher Gemüthsruhe fortfuhr:

„Was nämlich Ihre Manie zum Dichten betrifft. Das ginge mich nichts an, meinen Sie? Ich will das auch hoffen. Sie haben nacheinander den Hartmann, die gnädige Frau und Herrn Berkow angesungen. Das können Sie thun, wenn es Ihnen Vergnügen macht, aber lassen Sie sich nicht etwa einfallen, meine Melanie anzusingen – das verbitte ich mir. Ich will nicht, daß dem Kinde dergleichen Unsinn in den Kopf gesetzt wird. Wenn Sie durchaus einen neuen Gegenstand für Ihre poetischen Gefühle brauchen, so nehmen Sie mich oder den Director; wir stehen Ihnen zu Diensten.“

„Ich glaube, ich werde das unterlassen,“ sagte Wilberg im höchsten Grade pikirt.

„Wie es Ihnen beliebt, aber merken Sie sich: meine Tochter bleibt aus dem Spiele. Wenn mir eines Tages einmal ein Gedicht ‚An Melanie‘ unter die Hände kommt, dann fahre ich zwischen Ihre Jamben und Alexandriner, oder wie das Zeug sonst heißt. Das war es, was ich Ihnen sagen wollte. Adieu!“

Damit ließ der rücksichtslose Vorgesetzte den in seinen heiligsten Gefühlen gekränkten Dichter stehen und stieg die Treppe hinauf. Oben in der Wohnung kam ihm seine Tochter entgegen.

„O Papa, wie kannst Du so hart und ungerecht gegen den armen Wilberg sein! Er ist so unglücklich!“

Der Oberingenieur lachte laut auf. „Unglücklich? Der? Ein verunglückter Dichter ist er; schauderhafte Verse schreibt er zusammen, aber je mehr man versucht, ihm das begreiflich zu machen, desto toller reimt er darauf los. Was übrigens den Handkuß betrifft –“

„Mein Gott, Papa, da bist Du ganz und gar im Irrthum!“ unterbrach ihn Melanie sehr entschieden. „Es war nur Dankbarkeit. Er liebt ja die gnädige Frau, hat sie vom ersten Momente an geliebt, natürlich hoffnungslos, da sie bereits verheirathet ist, aber es ist doch begreiflich, daß er sich darüber grämt und daß ihre Abreise ihn vollends in Verzweiflung stürzt.“

„Also einzig aus Gram und Verzweiflung hat er Dir die Hand geküßt? Merkwürdig! Uebrigens woher weißt Du denn das Alles, Melanie? Du scheinst mir ja ganz außerordentlich bewandert in den Herzensgeschichten dieses blonden Schäfers!“


(Fortsetzung folgt.)




Ein Liedersänger der Gegenwart.


Unter den lyrisch-musikalischen Erzeugnissen unserer Tage stehen die Gesänge von Robert Franz ohne Frage in vorderster Reihe. Seine Erstlingsgaben schon wurden von den vornehmsten der zeitgenössischen Tonkünstler als Meisterthaten hochgehalten. Schumann und Mendelssohn, Gade und Liszt hießen den neu aufgehenden Stern willkommen in ihrem Kreise und halfen, indem sie Pathenstelle an seinen ersten Werken vertraten und sein Lob der Welt verkündeten, ihm seine Bahn bereiten und ebnen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_238.JPG&oldid=- (Version vom 3.6.2018)