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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

werden, daß eine derartige, bei manchen Speisen leichter eintretende, scheinbare Verwandlung in Blut vielleicht die Veranlassung des bei den Pythagoräern und anderen philosophischen oder religiösen Secten des Alterthums bestehenden seltsamen Verbots, keine Bohnen zu essen, weil sie lebendig seien, gegeben hat. Wenigstens führt Lucian, der im zweiten Jahrhundert lebte, als Ursache des Verbotes die Beobachtung an, daß sich Bohnenbrei, eine gewisse Anzahl von Nächten hindurch dem Mondschein ausgesetzt, in Blut verwandle.

Erst im Jahre 1848, als sich dieselbe Erscheinung während der Cholerazeit in Berlin zeigte und Proben davon in die Hände Ehrenberg’s gelangten, wurde ein bedeutender Schritt zur Aufklärung der Sache vorwärts gethan. Der größte Kenner des kleinsten Lebens entdeckte bei achthundert- bis tausendfacher Vergrößerung kleine, rundliche, sich durch Selbsttheilung vermehrende Wesen von ein Dreitausendstel bis ein Achttausendstel Linie Durchmesser in der mit Wasser verdünnten Blutflüssigkeit, die er für Thiere ansah und unter dem Namen Wunderzeichen-Monade (Monas prodigiosa) in die Wissenschaft einführte. Noch ergiebiger war eine Untersuchung, welche Dr. O. Erdmann in Berlin im Vereine mit dem Lehrer Müller im August 1866 begann, als ihnen ein roth gewordener Kalbsbraten gleichsam den Samen lieferte, um das Blutwunder im größten Umfange weiter zu züchten. Sie konnten dasselbe leicht durch Impfung auf feuchtes Gebäck, Kartoffelschnitte, Hühnereiweiß, Fleisch etc. übertragen, wobei sich nach zwanzig bis vierundzwanzig Stunden die Röthung von der Impfstelle im Kreise weiter verbreitete, einen Gipfelpunkt üppigster Entwickelung nach einigen Tagen erreichte und dann unter starker Schimmelbildung und rapider Fäulniß, wobei sich ein ananasartiger Geruch verbreitete, verschwand. Sie rechneten die kleinen Wesen, welche die Erscheinung stets begleiteten, zu den Vibrionen und sahen die Entwickelung derselben in entsprechender Weise als die Urheber des die rothe Färbung erzeugenden Zersetzungsprocesses an, wie der Hefenpilz die Gährung zuckerhaltiger Flüssigkeiten veranlaßt und dabei gewisse chemische Producte, wie Alkohol, Essigsäure etc. abscheidet. Besonders wichtig war ihre unter dem Mikroskope gemachte Beobachtung, daß das Pigment nur einzelne Theile in der Masse einer Semmel färbte, andere dagegen ungefärbt ließ, und bei genauerem Zusehen ergab sich, daß erstere die stickstoffreichen Kleberstoffe, letztere die stickstofffreien Theile, z. B. die Stärkekörner waren. Dieser Umstand, zusammengehalten mit der schon früher bekannten Eigenschaft des durch Alkohol leicht ausziehbaren Farbstoffes, auf stickstoffreicher Faser, wie Wolle, Seide, menschlicher Haut etc., ebenso leicht zu haften, wie die bekannten Anilinfarben, führte auf die Vermuthung, daß das Wunderblut gar den letzteren verwandt sein möge. In der That ergab die chemische Untersuchung, daß der rothe Farbstoff in seinem ganzen Verhalten der prachtvoll rothen Farbe, welche man unter dem Namen Fuchsin aus dem Steinkohlentheer gewinnt, außerordentlich ähnlich ist und jedenfalls zu der Gruppe der Anilinfarben gehört, eine Ansicht, die durch die spectroskopische Analyse in neuerer Zeit noch zu größerer Sicherheit erhoben worden ist.

Bestätigung und weitere Ausbildung haben diese Ansichten in den Versuchen gefunden, welche im Laufe der letzten Jahre in dem unter der Leitung des Professors F. Cohn stehenden physiologischen Laboratorium der Universität Breslau angestellt wurden. Es ergab sich hier bis zur Evidenz, daß das Blutwunder nur eine besondere Art der Fäulniß ist, jener Processe also, welche in entsprechender Weise die Zersetzung stickstoffhaltiger organischer Substanzen vollbringen, wie die Gährung die Zersetzung stickstofffreier Körper vollendet. Ja, es wurde bei dieser Gelegenheit zum ersten Male klar gestellt, was Fäulniß eigentlich sei. Wir fürchten nicht, den Leser zu langweilen, wenn wir in aller Kürze die Hauptergebnisse dieser Untersuchungen hier mittheilen.

Professor Cohn wies zunächst nach, daß sämmtliche Fäulnißprocesse der Natur angeregt werden und abhängig sind von der Gegenwart und Entwickelung der kleinsten bis jetzt beobachteten lebenden Wesen, der Bacterien. Die verschiedenen Arten derselben erlauben bei ihrer ausnehmenden Kleinheit nichts weiter, als die äußere Gestalt zu erkennen, und diese ist entweder rundlich und eiförmig (Kugel-Bacterien) oder stäbchen- und fadenförmig, in diesem Falle bisweilen pfropfenzieherförmig gedreht (Stäbchen-Bacterien). Sie erscheinen in der fauligen Flüssigkeit entweder lebhaft, mückenschwarmartig bewegt, oder ruhend. Man sieht sie wachsen und sich, wenn sie eine gewisse Größe erreicht haben, in der Mitte wie eine 8 einschnüren und in zwei Individuen theilen, ein Vorgang, der sich bei lebhafter Fäulniß beständig wiederholt. Fäulniß ist also nichts Anderes als ein energischer Lebensproceß von Milliarden lebender Wesen, die den stickstoffhaltigen Körper gleichsam zernagen und zu ihrer Nahrung verwenden, deren Ausscheidungen und Mahlzeitsreste aber in den gewöhnlichen Fällen die bekannten stinkenden Gase sind. Ebenso wie das Eintreten der Gährung von der Gegenwart der Hefepilzzellen abhängig ist, kann mithin die Fäulniß erst beginnen, wenn sich Bacterienkeime in der Masse einfinden, und alle Mittel, die letzteren abzuhalten, also Abschließung der Luft nach vorausgegangenem Kochen[1], wie die Gegenwart solcher Stoffe, welche die kleinen Wesen tödten (Weingeist, Rauch, Carbolsäure), werden die Fäulniß für immer unmöglich machen, ebenso das Vorhandensein der Bedingungen, welche die Bacterien zurückhalten, niedere Temperatur oder Mangel an Wasser. Die Keime der Bacterien sind an sich beinahe in allem Wasser und verbreiten sich, wenn auch weniger leicht, wie die Hefezellen durch die Luft. Dagegen sind die Schimmelpilze, welche sich gern auf allen faulenden Stoffen einfinden, nur Schmarotzer, die dem eigentlichen Wesen der Erscheinung fremd, ja mitunter hinderlich sind. Trotz der lebhaften und scheinbar willkürlichen Bewegung der meisten dieser von früheren Forschern als Monaden oder Vibrionen bezeichneten kleinen Wesen rechnet Professor Cohn dieselben zu den Pflanzen, obwohl in diesen niedrigsten Regionen eigentlich kaum ein rechter Unterschied zwischen Thier und Pflanze gemacht werden kann. Sind die Lebensbedingungen günstig, d. h. reichlich stickstoffhaltige Materie, Feuchtigkeit und der geeignetste Wärmegrad vorhanden, so kann die außerordentliche Vermehrungsfähigkeit dieser Wesen ungeheure Resultate hervorbringen. Cohn hat berechnet, daß bei Entfernung aller hindernden Umstände, wie sie glücklicher Weise in der Natur niemals stattfindet, eine einzige Bacterie, deren Gewicht er auf 0,0000000015 Milligramm berechnet, im Verlauf von achtundvierzig Stunden fast ein Pfund, von drei Tagen aber sieben und eine halbe Million Kilogramm Nachkommen haben könnte. Daß solche Berechnungen nicht außer dem Bereiche einer Verwirklichung liegen, beweisen unsere Preßhefefabriken, in denen täglich gegen hundert Centner Preßhefe erzeugt werden, die möglicher Weise aus einer einzigen, dem bloßen Auge unsichtbaren Zelle hervorgegangen sein könnten.

Genau wie bei der gewöhnlichen Fäulniß Ammoniak und andere stark riechende Gase oder Flüssigkeiten die Erzeugnisse der Lebensthätigkeit gewöhnlicher Fäulniß-Bacterien sind, so giebt es nun eine gewisse Sippschaft dieser kleinen Wesen, welche statt derselben prächtig gefärbte stickstoffhaltige Verbindungen, deren Zusammensetzung übrigens an das Ammoniak erinnert, aus der Nahrungsmasse abscheiden. Aehnlich wie in den Gährungsprocessen eine bestimmte Art des Hefepilzes Weingeist, eine andere Essig, eine dritte Buttersäure, eine vierte und fünfte Gallussäure, Bernsteinsäure und andere chemische Verbindungen durch ihre Lebensthätigkeit fabriciren, so fanden Cohn und Schröter, daß, während die gewöhnliche Fäulniß in der Regel von den lebhaft bewegten Stäbchen- oder Cylinder-Bacterien unterhalten wird, die Pigmentfäule nur eintritt, wenn gewisse Kugelbacterien, die ohne Bewegung sind und daher nach ihrer Selbsttheilung in rosenkranzförmigen Schnüren vereinigt bleiben, zugegen sind. Sie haben zum Unterschiede von den eigentlichen Bacterien die letzteren Bacteridien genannt und den kleinen Erzeuger des rothen Wunders Micrococcus prodigiosus getauft. Sie fanden ferner, daß das kleine Ding so civilisirt ist, gekochte Nahrungsmittel den rohen vorzuziehen, daß es, selbst farblos, seine chemische Farbenfabrication im Dunklen wie im Lichte mit gleichem Erfolge betreibt, daß seine größten Feinde Schimmelpilze und Stäbchen-Bacterien sind, welche gewöhnlich, wenn die Production nach vier bis fünf Tagen in größter Blüthe steht, durch Erzeugung alkalischer Fäulnißproducte das Geschäft stören und das schöne Purpur in schmutziges Gelb verwandeln. Wir können beinahe bei allen das Wunderblut betreffenden Ueberlieferungen nachweisen, daß die Bedingungen zur Entwickelung dieser kleinen Wesen, bestehend in längerer Aufbewahrung gekochter

  1. WS: Im Original Kochem
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 229. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_229.JPG&oldid=- (Version vom 1.5.2018)