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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


So entsteht die Hauptschwierigkeit, eben das Thema den Freunden bekannt zu machen, die auf ihren Stuben bereit sitzen, um die Arbeiten anzufertigen; denn verspätet sich diese Mittheilung, so kommen die draußen gemachten Aufsätze nicht früh genug den verzweifelnden Examinanden zu. Hier gab es nun viele Auswege. Am frühen Tage mußte ein Unterprimaner, der zu diesem gefährlichen Gange förmlich gepreßt wurde, sich auf die Aula schleichen, die an die Prüfungsclasse stößt, um hier das Thema zu erlauschen, oder es flog auf einem zugewickelten Papier durchs Fenster, wanderte auch wohl durch die Ritze unter den Thürflügeln, und begann nun seinen Schnelllauf durch die Stadt. Die zweite Schwierigkeit bestand aber darin, die draußen gefertigten Arbeiten wieder hineinzuliefern. Die ältere Praxis war, dies in Weißbrödchen zu thun, welche die Hauswirthe mit einer Tasse Fleischbrühe oder Chocolade den armen Examinanden zur leiblichen Stärkung hereinsandten; allein dieser Schleichweg war zu unserer Zeit längst entdeckt, und solche Liebesgaben passirten die Vorposten nicht mehr. So mußte etwas Neues ausgefunden werden. Mitten in der für die Aufsätze abgemessenen Zeit treten alle Schüler ein einziges Mal aus, um unter Aufsicht von einem oder mehreren Lehrern frische Luft zu schöpfen. Alle Ecken des kleinen Hofes, wo dieses geschah, waren zuvor durchsucht worden, ob nicht eine Pfuscharbeit in sie sich verkrochen habe. Es schien unmöglich, noch einen Versteck aufzufinden, und doch gelang es den zaghaften unter uns ebenso wunderbarlich als glücklich. Bei einem verschwiegenen Tischler wurde eine kleine Schublade bestellt, die sich mit ein paar Schrauben leicht an jedes Holzwerk anheften ließ. Diese befestigte man unter das Sitzblatt des Abtrittes, so daß dieses gleichsam das Tischblatt der Lade bildete, die sich also gerade in die Oeffnung herausziehen ließ. In diese Lade legte ein gewandter Unterprimaner die sämmtlichen Pfuscharbeiten, und Jeder, der eine bestellt hatte, holte die seinige dort mit aller Gemüthlichkeit heraus. Auf die Möglichkeit dieses fabelhaften Einfalls ist der Scharfsinn des Lehrercollegiums allerdings nicht gerathen, und die Lade hat den Schwächeren unter uns ihre Dienste nicht versagt. Wer die Schulzeit hindurch redlich seine Schuldigkeit gethan hatte, brauchte natürlich diesen anrüchigen Unterschleif nicht.

Ich erfuhr bald, daß meine schriftlichen Arbeiten vollständig genügten. In der mündlichen Prüfung ging es mir, wie bei Allem, wo es auf’s Sprechen ankam, noch glücklicher, und ich errang das unbedingte Eins. Mit mir wurde diese Auszeichnung noch Hermann Velten und einem jungen Adligen, Maximilian Raitz von Frentz, zu Theil, der wirklich durch ganz tadellose Sitten und einen unwandelbar gleichen Fleiß uns Allen vorleuchtete. Drei andere Mitschüler erhielten das Nahe Eins, die drei übrigen Zwei. Eine niedrigere Nummer kam nicht vor, und so zeigte sich, daß wir doch eine sehr tüchtige Schülergeneration gewesen waren.

Das Lehrercollegium wählte mich aus, um die deutsche Abschiedsrede zu halten. Im mündlichen Vortrag hatte ich mich schon vielfach geschult. Schriften, die mir gefielen, namentlich begeisternde und klangvolle Gedichte, las ich von Jugend auf mir gerne laut vor, und dies ist die Grundlage jeder gesunden Schule im Vortrage. Auch hatte ich aus ganz freiem Antrieb mich im Declamiren aus dem Gedächtniß geübt und meine Eltern an Geburtstagen damit überrascht. Wollte Keiner mich hören, so declamirte ich einsam im Pfarrgarten. Aber so mächtig zog Öffentlichkeit mich an, daß ich auch schon als halber Knabe eine Rede gewagt habe. In Oberkassel baute man einen neuen Schulsaal. Mein Vater, im Fundamentgraben stehend, legte den Grundstein und hielt in seiner Weise eine biblische Ansprache vom Eckstein Christus. Dieser ließ ich eine von mir gearbeitete Rede freieren Inhaltes folgen, die ich ohne Zittern unter dem blauen Himmel vor einer Menge von Zuhörern mit meiner dünnen Knabenstimme vortrug.

Beim Uebergang aus Secunda in Prima hatte ich am Schulfeste Goethe’s „Zueignung“ zu declamiren gehabt; dies ging aber matt und schläfrig, weil das Gedicht für einen Knaben zu hoch ist, mich also nicht fortreißen konnte. Jetzt fiel mir eine Aufgabe zu, auf die ich stolz war, denn die Abgangsrede war von allen Schulauszeichnungen die höchste. Es war Sitte, daß der Stoff dieser Reden vom Lehrer gegeben wurde; den meinen bestimmte Domine. Diesen Mann habe ich schon oben als einen entschiedenen Ghibellinen und eifrigen Anhänger der Monarchie geschildert; als solchen bewährte er sich auch hier, denn er zeichnete mir eine Lobrede vor auf den regierenden König Friedrich Wilhelm den Dritten von Preußen. Im Munde eines Jünglings, dem man nie eine Ahnung von Politik beigebracht hatte, der also des Königs wirkliche Verdienste gar nicht scharf hervorzuheben wußte, war das jedenfalls eine höchst unpassende Aufgabe. Allein eben wegen meiner politischen Unerfahrenheit ergriff ich sie bereitwillig und arbeitete eine Rede aus, die auch zur Zufriedenheit Domine’s ausfiel.

Meinen Eltern wußte ich zu verbergen, daß mir die deutsche Rede zugetheilt sei; doch bewog ich sie, zum Schulfeste nach Bonn zu kommen. Ganz überraschend für sie trat ich auf und sprach mit einer mir selbst unerwarteten Leichtigkeit und vielem Feuer. Die große, festlich gekleidete Versammlung hob mich; denn jeder geborene Redner spricht am besten, wenn Viele ihn hören. Ueber den Stoff und die Ausarbeitung der Rede mag gar verschieden geurtheilt worden sein; über den Vortrag war Eine Stimme, und namentlich ein katholischer Geistlicher erkannte schon damals in mir den künftigen Herrscher des Wortes. Meine Eltern waren doppelt gerührt und erfreut; es war ja nun kein Zweifel mehr, daß ich die wünschenswertheste Gabe des geistlichen Standes besaß, für den sie mich bestimmten. Hierauf erhielt ich aus der Hand des Directors mein Abgangszeugniß; es war in Bezug auf Studium und auf sittliche Führung gleich ausgezeichnet.

Und so hatte ich, eben erst sechszehn Jahr alt, das erste Ziel mit Ehren erreicht, nach welchem mein jugendlicher Wille so lange sich streckte. Froh und stolz verließ ich mit den Eltern die lieben Räume des Gymnasiums und kehrte für die Zeit der Ferien nach Oberkassel zurück. Es war am 10. September 1831. Zufällig fiel auf den folgenden Tag die silberne Hochzeit meiner Eltern, und zur Feier des Doppelfestes schenke mir an demselben mein Vater einen goldenen Fingerring, welcher mir noch heute das Andenken an den ersten Kampfpreis rettet, den ich dem Leben abgewann.




Erinnerungen aus dem letzten Kriege.
Nr. 12. Das rothe Haus.


Wir hatten eine der blutigsten Schlachten vor Metz mitgemacht. Ziemlich spät Nachmittags zur Verwendung gekommen, waren wir ununterbrochen mit Hurrah vorgegangen und hatten durch das unglaublich weittragende Chassepot nicht unbedeutende Verluste erlitten, trotzdem aber keinen Franzosen zu sehen bekommen. Umsomehr erheiterte es uns, als wir bald darauf in einer Zeitung unter „Eingesandt“ einen Bericht über unsere Thätigkeit in der Schlacht lasen, in dem wir zu wahrhaften Helden gestempelt waren. Wir wußten zuerst nicht, wem wir diese Glorificirung zu danken hatten, bis wir den Dichter in einem einjährig Freiwilligen entdeckten, den ich Fritz nennen will.

Der Vicefeldwebel der Compagnie, welcher fand, daß er in diesem Phantasiegemälde zu kurz gekommen war, beehrte den armen Freiwilligen dafür mit seiner heimlichen Abneigung und brütete Rache. Nun hatte Fritz den Schlachttag zwar mit Unterdrückung des widerstrebenden Ichs männlich mitgemacht – und ich stelle den moralischen Muth über den angeborenen –, aber es war sicher, daß er es sich bedeutend süßer dachte, für das Vaterland zu leben, als pro patria mori (für’s Vaterland zu sterben). Es war ihm, als wir dann den Befehl erhielten, mit in die Cernirungslinie zu rücken, welche den eisernen Ring um das starke Metz bildete, höchst unbehaglich gewesen, sich dem verderbendrohenden Festungsgürtel Schritt für Schritt zu nähern, und wenn er auch eine sorglose, ja heitere Miene zeigte, so hatte er doch öfters mit dem Taschentuch flüchtig über die Stirn fahren müssen, um die unter der Mütze hervorperlenden Schweißtropfen abzuwischen. Er sagte dann jedes Mal zu seinem Nebenmann im Gliede: „furchtbar heiß heute“, was Jener dann mit stummem Kopfnicken

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_211.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)