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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Muße hatte, um die Sache zu entscheiden, so wurde die Grenzregulirung einstweilen vertagt, bis im Jahre 1816 beide betheiligte Staaten Commissare ernannten, welche den Streit schlichten sollten. Doch auch diese vermochten sich nicht zu einigen, und so blieb der Ort nach wie vor unabhängig.

Um jedoch die biederen Altenberger vor dem Neide der Götter zu bewahren, mußten dieselben es sich gefallen lassen, daß ihnen, wie allen übrigen Menschenkindern, Steuern auferlegt wurden, in deren Ertrag die beiden Nachbarstaaten sich brüderlich theilten. Das einzige Vorrecht, welches man ihnen ließ und welches sie noch heute besitzen, ist die Befreiung vom Militärdienst, die sich jedoch nur auf diejenigen jungen Männer erstreckt, deren Eltern auf neutralem Boden geboren sind, während solche, deren Eltern aus Preußen oder Holland, jetzt Belgien, dorthin ziehen, in dem betreffenden Staate militärpflichtig sind, was erst bei ihren Kindern wieder erlischt.

Bis vor etwa zwanzig Jahren war das „neutrale Land“ das Paradies aller Derer, welche in irgend einem Nachbarstaate mit den Strafgesetzen in Berührung gekommen waren, und der Ort stand deshalb in einem etwas zweifelhaften Rufe. Doch auch dieses hat aufgehört und sowohl Preußen als Belgien weiß heute, wenn ihm irgend ein „theures Haupt“ abhanden gekommen ist, dieses auch auf neutralem Boden schon bald wieder zu finden. Dagegen können auch die Bewohner des neutralen Landes, bei den preußischen wie bei den belgischen Gerichten Recht suchen. Daß ein derartiger Zustand zu endlosen Verwirrungen und Weitläufigkeiten Anlaß giebt, liegt auf der Hand, und da nebenbei auch die von beiden Ländern geübte strenge Grenzsperre dem Aufblühen des betriebsamen Ortes in gewerblicher Beziehung überaus nachtheilig ist, so würden die Altenberger, unter denen das deutsche Element vorwiegt, sich bereitwilligst von Preußen annectiren lassen. Auch bei ihnen gilt der Spruch:

„Mein Vaterland muß größer sein.“

Der Blick durch die Fenster der alten Burg hat uns von dieser hinweggeführt zu einem ihr, wenn auch räumlich nahen, so doch dem Wesen nach um so ferner liegenden Gegenstande. Man kann sich in der That nicht wohl größere Gegensätze denken, als hier, inmitten des stillen duftigen Waldes, die von dunkeln Tannen umrauschte alte Burg mit ihrem romantischen Sagenkreise, und dort drüben, von grünlich-gelben, qualmenden Galmeidämpfen eingehüllt, die modernen Ziegelsteinbauten der Hüttenwerke mit ihren lärmenden Maschinen und ihrer dem Leben eines Ameisenhaufens zu vergleichenden Betriebsamkeit. – Es ist das treue Bild der alten und der neuen Zeit.

Rudolf Scipio.



Beruhigung nach der Gefahr.

Gegen die preußischen Regulativ-Seminare sind zwei Artikel der Gartenlaube des vorigen Jahrgangs gerichtet gewesen, ein angreifender, von einem genannten Verfasser (Nr. 15, „Drei Jahre in einem preußischen Lehrerseminar“, von Ed. Nitschke) und ein diesem beistimmender, ihn mit neuen Belegen bekräftigender (Nr. 19). Gegen beide sind der Redaction drei Entgegnungen zugegangen. Die erste von dem Küster und Lehrer Klinkott in Schönwalde, die zweite von F. Kiesel im Namen des Schlesischen Provincial-Lehrervereins zu Breslau mit siebzehn Lehrerunterschriften und die dritte durch das Königliche Provincial-Schul-Collegium zu Breslau in einem mit R. unterzeichneten Aufsatze des „Schulblatts der evangelischen Seminare Schlesiens“, 1872, 3. Heft.

Da der von allen drei Seiten gewünschte wörtliche Abdruck ihrer Entgegnungen in der Gartenlaube den Raum von mindestens sieben Spalten beanspruchen würde, so müssen wir, wie gern wir auch zu jeder Berichtigung und Vertheidigung gegen Irrthum und Unrecht die Hand bieten, dennoch vorziehen, nur diejenigen Stellen, welche von besonderem Gewicht, und auch solche, in welchen alle Drei übereinstimmen, hier mitzuteilen. Wir werden nie einen Mitarbeiter in Schutz nehmen, wenn er gegen die Wahrheit gefehlt hat; aber ebensowenig können wir uns verletzter Vorurtheile und Parteineigungen annehmen, welche der bestimmten und festen Richtung der Gartenlaube entgegenstehen.

Daß letztere Zumuthung nicht fern liege, zu dieser Annahme mußte ein Blick in das genannte Schulblatt uns führen. Beim Herumblättern darin stießen wir auf einen Aufsatz „Adolph Diesterweg, ein moderner Pädagog“ und fanden darin u. A. folgende Stellen:

Diesterweg ist nie über das, was wir natürliche Religion nennen, hinausgekommen: die geoffenbarte Religion war ihm verschlossen. In Gott sieht er den allmächtigen, liebevollen Vater; aber daß er dies nur durch Christum sein könne, ist ihm verborgen geblieben.“ Ferner: „Seine Zucht etc. war wohl eine straffe etc. – aber doch war seine Zucht keine wirklich evangelische, d. h. auf das Evangelium gegründete ..... Was wir evangelischen Glauben nennen, hat in seinem Ideenkreise keine Stelle gefunden. Er spricht wohl vom Glauben an die Heiligkeit des Lehrerberufs, vom Glauben an unsere Menschenwürde; aber was die Schrift mit dem Gefangennehmen der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens fordert, versteht er nicht; er nennt dies: Sichselbsttödten oder -Verstümmeln.“ –

Wie früher in den Rheinlanden, so rühmten es seit 1832 in Berlin auch Diesterweg’s Schüler, „daß er mit seiner heuristischen Methode ihre geistigen Kräfte anzuregen, ihre Selbsttätigkeit zu entwickeln und sie in unablässige Arbeit hineinzuziehen verstanden habe ..... Wer den Prüfungen in der Seminarschule beiwohnte, konnte merken, daß die Kinder nicht hersagten, was sie gelernt hatten, sondern daß ihre Antworten der unmittelbare Ausdruck ihrer geistigen Thätigkeit waren.“ Aber – „er eifert gegen jeglichen confessionellen Religionsunterricht, er will nicht nur den Katechismus, sondern auch das Gesangbuch, sintemal dies auch eine confessionelle Schrift sei und Hadersachen nicht in die Volksschule gehörten, vom Religionsunterrichte ausgeschlossen wissen, giebt der Naturreligion, d. h. derjenigen religiösen Erkenntniß, deren Quelle die Naturbetrachtung sei, den Vorzug und erklärt, das Christenthum, der echte Glaube, bestehe nur darin, daß man den Geist lieber habe als die Welt.“ Kein Wunder, daß als Gipfelpunkt seiner Ketzerei sein Ausspruch hingestellt wird: „Es komme beim Lehrer nicht hauptsächlich auf Demuth an, sondern auf Muth“.

Nach diesem Einblick schien der Standpunkt der Entgegner nicht mehr zweifelhaft; indeß freuen wir uns, im Voraus sagen zu können, daß wir uns darin wenigstens in einer Beziehung denn doch täuschten. Wir geben den drei Berichtigern in aufsteigender Reihe das Wort.

Herr Klinkott wendet sich hauptsächlich gegen Nr. 19: „Der Geist der preußischen Schulregulative“. Er weiß, daß mit dem dort geschilderten Schullehrerseminar das zu Neuzelle (im Kreise Guben der Provinz Brandenburg) in den Gebäuden der ehemaligen Cisterzienserabtei gemeint sei, und nimmt die getadelten Baulichkeiten und Einrichtungen ebenso warm als den Director (Weymann) namentlich gegen den ihm gemachten Vorwurf der Unduldsamkeit in Schutz. Die vor ihm versteckten Bücher, sagt er, seien jedenfalls Romane „anrüchigen Inhalts gewesen, etwa ‚Vier Frauenabenteuer‘, wie solche damals viele im Seminar unter den Zöglingen cursirten.“ Das ist freilich ein trauriges Geständniß, wie wenig die Strengreligiosität gegen solch eine Entsittlichung schützte. Der Unterricht in Geschichte, Naturgeschichte und Geometrie wird ebenfalls gerühmt, dagegen eingestanden, daß es unter den Zöglingen sogenannte „Zupfer“ gegeben habe, das heißt solche, welche alle Morgen aus einer Anzahl mit Bibelsprüchen bedruckter Zettel ihren Tageswahlspruch herausgezogen hätten. Damit wird eine sehr beklagenswerthe Scheinfrömmigkeit verrathen, die ganz zu obigem geheimen Romanlesen paßt. An die Seminarschilderung in Nr. 15 kann Herr Klinkott deshalb nicht glauben, weil „unsere hohen Schulaufseher, die doch früheren Decennien, als dem der Regulative, ihre Ausbildung verdanken“, dies wohl erkannt hätten. Spricht das nicht deutlich gegen die durch die Regulative geleitete Ausbildung? – So gehen die Widersprüche

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_200.JPG&oldid=- (Version vom 10.9.2021)