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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


solchen gewaltsamen politischen Vorsprung rein unmöglich machten, eine geistige und moralische, eine literarische Revolution sich vollzog, welche, vollständig dem deutschen Nationalcharakter angemessen, auf die Erringung der Freiheit des Fühlens und Denkens abzielte, auf die Erlösung des Individuums aus den Fesseln des hergebrachten Wahns und der dogmatischen Satzung und demnach auf die Emancipation des Menschen ausging, an die Stelle des Theologismus den Humanismus, an die Stelle der literarischen Abhängigkeit, Convenienz und Nachahmung das Selbstgefühl, die geniale Kraft und die originale Hervorbringung setzte und die Deutschen über den Jammer ihrer staatlichen Zerrissenheit und Nullität in das idealische Wolkenkukuksheim des Weltbürgerthums emporhob, wo sie sich damit trösteten, daß

„Wer die Sache der Menschheit als seine eigne betrachtet,
Hat an der Götter Geschäft, hat am Verhängnisse Theil.“

Herder nun war wie eigens dazu geschaffen, zwischen dem kritischen Erkennen und dem originalen Hervorbringen den begeisterten und energischen Vermittler abzugeben. Hätte er auch weiter nichts gethan als so aufhellend und wegzeigend auf den jungen Goethe eingewirkt, wie er auf denselben in Straßburg einwirkte, schon das wäre ein unvergängliches Verdienst. Unser Springinsfeld von flottem Studenten merkte gar bald, wie befruchtend und fördernd für ihn dieser Umgang sei, und ließ sich deshalb die hypochondrischen Schroffheiten Herder’s, welcher gerade zu jener Zeit das gramschwere Wort sprach, sein Leben sei nur „eine wildverworrene Schattenfabel“, mit ziemlich guter Miene gefallen. Der herbe Lehrmeister brachte ihm das Gefühl bei, daß eigentlich doch Alles, was er bislang dichterisch versucht hatte, nur Quark und Trödel sei. Herder lehrte ihn mittelbar in die eigene Brust schauen, indem er ihn überall auf das Ursprüngliche, Eigenwüchsige, Naturfrische und Volksmäßige hinwies. Er that für Goethe im Besonderen, was er für die deutsche Literatur im Allgemeinen gethan hat, das heißt, er vollendete die Befreiung des jungen Dichters von der französischen Kunstregel. Er schloß ihm die Poesie der Bibel, die Welt Homer’s, Shakespeare’s und Ossian’s auf. Zwar der Geist der homerischen Gesänge ist erst später, in Italien, dem Vater der Dorothea so recht aufgegangen; aber Shakespeare ergriff ihn schon jetzt mit der Vollgewalt seines souveränen Zaubers.

Auch Ossian, dessen Sang von Selma er prächtig übersetzte und dessen epische Elegik eines der einflußreichsten poetischen Motive jener Zeit wurde, die nicht wußte, daß die angeblichen ossian’schen Gesänge von dem Herausgeber Macpherson selber gedichtet waren. Das gewaltige Ergriffensein Goethe’s von Shakespeare und von Ossian zeigen die beiden Manifeste, womit er sein Auftreten als Nationaldichter ankündigte, der Götz und der Werther. Zugleich mit der Wertherstimmung war dann auch der Ossian für ihn abgethan. Nicht so mit der Götz’schen Kraftgenielaune zugleich der Shakespeare. Zu diesem hat er, wie er bescheiden bekannte, sein Lebenlang emporgeblickt „wie zu einem Wesen höherer Art“, obzwar dem Schöpfer des Lear der Schöpfer des Faust vollberechtigt als Ebenbürtiger sich zur Seite stellen durfte.




Aus der algierischen Revolution von 1871.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.


Es widerspricht gewiß dem Geiste der Civilisation, wenn ein europäisches Culturvolk auf ein anderes, mit welchem es Krieg führt, eine Bande roher Barbaren hetzt, die alle Grausamkeiten eines fremden Welttheils und einer tieferen Culturstufe in den europäischen Krieg hineintragen und so dessen unvermeidliche Schrecken noch viel grauenvoller machen. Daß die Franzosen ein solcher Vorwurf trifft, das werden wohl Alle zugeben, welche deren afrikanische Söldlinge, die Turcos, in ihrer schaudervollen Thätigkeit gesehen haben. In einem vor zwei Jahren in der Gartenlaube erschienenen Artikel habe ich dieser Turcos gedacht und bei der Gelegenheit erwähnt, daß die Meisten derselben von Kabylen stammen und daß die Kabylen sich unter den Eingeborenen Algeriens durch Grausamkeit auszeichnen. Der eigentliche Araber ist zwar rachsüchtig, blutdürstig, aber, so viel ich beobachtet habe, gefällt er sich nicht in unnützen Grausamkeiten. Der Kabyle dagegen, obgleich im Frieden den Europäern weniger abgeneigt als der Araber, somit vielleicht civilisationsfähiger als dieser, ist im Kriege ein wildes Thier. Wie der Panther seiner Gebirge sich nicht damit begnügt, nur die Thiere, welche er verzehren will, umzubringen, sondern in der von ihm überfallenen Heerde hier eins erwürgt, dort ein anderes mit tödtlichem Tatzengriff trifft, und so viel mehr Opfer, als seine Nahrung erheischt, aus baarem Grausamkeitsinstinct schlachtet (ganz anders hierin, als der Löwe, der, wenn er nicht gereizt ist, nur aus Nothwendigkeit tödtet) – ähnlich der Kabyle im Kriege. Ihm genügt nicht das Tödten in offenen Kampfe; auch am Verwundeten und Gefangenen will er seine Blutgier auslassen. Das Abschneiden von Ohren, Nasen, Fingern, das Verstümmeln von Armen und Beinen, Zungenausreißen, Bauchaufschlitzen sind ihm eine Wollust. Menschen, mit solchen Instincten behaftet, wurden von den Franzosen unseren braven Kriegern entgegengestellt. Aber die Nemesis blieb nicht aus! Noch war kein Jahr vergangen, so sollten die Väter und Brüder ebenderselben Kabylen ihre grausame Wildheit an den Franzosen selbst auslassen und eine Reihe blutiger Schreckensthaten den afrikanischen Boden röthen.

Als im Jahre 1871 die französische Macht am tiefsten darniederlag, da machten auch die Eingeborenen Algeriens den Versuch, das Joch abzuschütteln, das bald ein halbes Jahrhundert auf ihnen gelastet. Aber ihre Revolution kam zu spät. Politischen Erfolg konnte sie nicht mehr haben, denn der Friede, der bereits zwischen Deutschland und Frankreich geschlossen war, machte es diesem möglich, wieder Truppen nach Afrika zu schicken. Der Kampf gegen die Commune von Paris hielt zwar größere Truppensendungen noch eine Zeitlang zurück, aber das Ende dieses Kampfes mußte jeder gewiegte Politiker als bald bevorstehend voraussehen. Zu ihrem Unglück glaubten jedoch die Algierer an einen möglichen Sieg der Commune oder wenigsten an eine längere Fortdauer des anarchischen Zustandes. Deshalb wählten sie gerade den Monat April (1871) zum Ausbruch ihrer Revolution.

Diese war lange vorbereitet gewesen und brach nun mit einer seltenen Einhelligkeit aus. Größere Erfolge konnten jedoch nicht mehr erreicht werden, denn bereits waren die wichtigsten Städte und Forts wieder mit Truppen besetzt. Nur die im Flachlande und auf den Bergen zerstreuten Niederlassungen fielen als Opfer der Rache der Einheimischen. Dabei kamen zahlreiche Tödtungen friedlicher Colonisten vor. Eigentliche Grausamkeiten fanden jedoch fast ausschließlich in den von Kabylen bewohnten Gegenden statt. Die Menge dieser blutigen Thaten, wer vermag sie zu schildern? Viele sind nie aufgehellt worden und können es auch nicht werden, weil es an europäischen Zeugen fehlt. Nur diejenigen Massenmorde, denen einige Europäer wie durch Wunder entgingen, während die Mehrzahl ihrer Gefährten ihnen zum Opfer fiel, sind nachweisbar. Einige derselben wurden in den letzten Monaten vom Geschwornengericht in Algier verhandelt und deren Urheber zur Rechenschaft gezogen. Dadurch wird auf einmal ein Zipfel vom Schleier gehoben, der das blutige Gemälde des Aufstandes von 1871 deckte.

Wenn wir hier einige dieser Gräuelthaten schildern, so geschieht es nicht, um Sensation zu erregen, sondern um unseren Landsleuten zu zeigen, welchem Schicksale sie durch die Tapferkeit unserer Truppen entgingen. Denn hätten diese nicht verhindert, daß die Franzosen nach Deutschland kamen, so wäre wohl manches deutsche Dorf einem ähnlichen Schicksale ausgesetzt gewesen, wie es die französischen Colonisten in Afrika traf. Man denke sich ein deutsches Dorf in Händen der Turcos! Wessen diese fähig waren, das wird man danach beurtheilen, was ihre Väter und Brüder in Afrika thaten.

In den Gebirgen Großkabyliens liegt ein kleines, meist von Italienern bewohntes Colonistendorf, dem man zur Erinnerung an die gleichnamige Schlacht den Namen Palestro gegeben hat. Es ist ziemlich weit von andern Colonistendörfern entfernt. Die Gegend rings herum ist ausschließlich noch in den Händen der Eingeborenen; das Gebirge gehört den Beni Chelfun, einem Kabylenstamm;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_194.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)