Seite:Die Gartenlaube (1873) 193.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


nicht gerade mit der Juristerei, so doch mit dem Gedanken einverstanden, seine Studien anderswo als im Vaterhause fortzusetzen, allwo es ihm gegen das Frühjahr von 1770 hin gar zu eng und immer, immer enger wurde. Sonderlich nach dem famosen Treppenstreit, welchen er mit dem Vater hatte, der über des Sohnes Rath, die Haustreppe nach Leipziger Manier aufzubauen, „in einen unglaublichen Zorn gerieth, der um so heftiger war, als ich kurz vorher einige schnörkelhafte Spiegelrahmen getadelt und gewisse chinesische Tapeten verworfen hatte“. Unter solchen Umständen kam der Sohn dem väterlichen Wunsche und Willen, nach Straßburg zu gehen, um an dortiger Universität die Jurisprudenz zu absolviren, unweigerlich nach. Die aus Leipzig eingetroffene Nachricht von Käthchens Hochzeit mag ihm das Bedürfniß nach einer physischen und moralischen Luftveränderung noch fühlbarer gemacht haben. Es trieb ihn fort. Am 2. (oder 4.) April langte er in Straßburg an, stieg im Gasthause „Zum Geist“ ab und eilte sofort zur Plattform des Münsters hinauf, um auf den gothischen Koloß, die herrliche Schöpfung Erwin von Steinbach’s, wie auf das schöne, zwischen die Vogesen und den Schwarzwald eingebettete allemannische Stück Erde einen ersten erstaunten und entzückten Blick zu werfen.

Es ist bekannt, daß der Straßburger Münster in unserem jungen Dichter jene heißauflodernde Begeisterung für altdeutsche Art und Kunst wachrief, die sich während seines Aufenthalts im Elsaß mündlich und schriftlich im Kraftgeniestil ausließ, aber nicht lange währte, sondern später geradezu in Abneigung umschlug, je mehr das Hellenische in Goethe’s Wesen zur Reife gedieh. Doch hat er noch in alten Tagen mit jugendlicher Wärme der Wirkung von Erwin’s „Wunderwerk“ gedacht, welches er „als ein Ungeheures gewahrte“, das ihn „hätte erschrecken müssen“, wenn es ihm „nicht zugleich als ein Geregeltes faßlich und als ein Ausgearbeitetes sogar angenehm vorgekommen wäre“.

Nachdem er ein „kleines, aber wohlgelegenes und anmuthiges“ Quartier an der Sommerseite des Fischmarktes – in dem Hause, welches heute die Nummer 80 führt – bezogen hatte, gab er seine Empfehlungsbriefe ab, deren Adressen, wie es scheint, vorzugsweise an „Fromme“ gerichtet waren. Unser junger Stürmer und Dränger – denn ein solcher wurde der Wolfgang in Straßburg so recht – hatte aber den Verkehr mit dieser Menschensorte bald satt, denn, schrieb er an die gute Klettenberg daheim, „sie sind so von Herzen langweilig, daß es meine Lebhaftigkeit nicht aushalten konnte“. Mit all der schön-seeligen Conventikelei war es jetzt überhaupt aus und vorbei für immer.

Straßburg ist zu jener Zeit noch eine im Grunde ganz deutsche Stadt gewesen. Der officielle französische Firniß haftete eben nur an der Oberfläche, während das Wesen der Bewohnerschaft in Sprache und Sitte als deutsch sich kundgab. Die Straßburger Bürgertöchter trugen auch zumeist noch die deutsch-elsässische Landestracht, welche draußen auf dem Lande noch ganz obenauf war. Die große Apostasie, welche die Straßburger nachmals an ihrer Nationalität begangen haben, hob erst mit der französischen Revolution an; ja, die systematisch und consequent betriebene Verwelschung der Elsässer begann sogar erst mit dem zweiten Empire schandbaren Andenkens. Wer damals, im Jahre 1770, hätte ahnen können, geschweige sagen wollen, daß gerade nach hundert Jahren die deutsche Fahne wieder von der Spitze, von Erwin’s wie versteinerte Himmelssehnsucht in die Lüfte steigendem Riesenthurme flattern würde!

Aber heute muthet es uns doch wie ein glückliches Vorzeichen an, daß von der Stadt aus, wo im Mittelalter Gottfried gedichtet und Erwin gebaut hatte, von der Stadt aus, welche dann mittelst schnödester französischer Tücke, mittelst ruchlosesten Verraths – bei welchem natürlich ein deutscher Bischof, Seine Hochwürden Gnaden der Herr Egon von Fürstenberg, ein Hauptmitspieler war – dem deutschen Reiche entrissen wurde, der deutscheste Dichter seinen Siegesgang in die Unsterblichkeit angetreten hat, und unschwer erhebt sich unsere Phantasie zu der Vorstellung, daß es ein Protest gegen die Verfranzosung gewesen, wenn Goethe seinen Namen auf der Plattform des Münsters in den Stein meißelte, und daß der Geist des Riesenbau’s die Berührung durch einen ebenbürtigen Genius gespürt habe, wie beim Uhland geschrieben steht:

„Einst klomm die luft’gen Schnecken
Ein Musensohn hinan,
Sah aus nach allen Ecken,
Hub dann zu meißeln an.
Von seinem Schlage knittern
Die hellen Funken auf,
Den Thurm durchfährt ein Zittern
Vom Grundstein bin zum Knauf.“

Also von Straßburg aus hätte unser Olympier seinen Siegesgang in die Unsterblichkeit angetreten? Ja, so that er. Nicht allein darum, weil der Aufenthalt in dieser Stadt den Abschluß der eigentlichen Lehrjahre Goethe’s brachte und er hier Anregungen empfing, welche sein jetzt anhebendes eigenartiges, Goethe’sches Schaffen bedeutsamst beeinflußten, sondern auch und mehr noch deßhalb, weil er draußen in Sesenheim jene Glückstage, wohl überhaupt die sonnigsten Fest- und Feiertage seines Daseins erlebte, welche ihn zum Dichter machten. Denn was macht den Dichter? Ein „warmschlagendes, von einer Empfindung ganz erfülltes Herz“, giebt er uns selber zur Antwort und, fürwahr, nie hat sein Herz wärmer geschlagen, nie ist es voller gewesen von einer Empfindung als damals, wo es für Friederike Brion schlug und voll war von dieser schönsten Liebe seines Lebens.

Für das geistige Wachsthum Wolfgang’s sind die anderthalb Straßburger Jahre von höchster Wichtigkeit gewesen. Namentlich in Folge der Einwirkung Herder’s, welcher im September 1770 nach Straßburg kam, zu längerem Aufenthalt, maßen er, an einer Thränenfistel leidend, sich dort einer Operation unterziehen wollte und wirklich unterzog. Das Verhältniß der Beiden ist vom Anfang bis zum Schluß ein seltsames gewesen: sie zogen sich gegenseitig kräftig an und stießen sich auch wieder heftig ab. Herder, der schon ursprünglich ein gut Theil theologischen Unfehlbarkeitbewußtseins in sich trug, hat es später nicht verwinden können, daß Goethe so hoch über ihn hinausgewachsen war. In Straßburg jedoch behandelte Herder den jungen Freund, der sich ihm vertrauensvoll-enthusiastisch genähert hatte, sehr von oben herab und stellte sich zu demselben durchweg als der Meister zum Schüler. Dies mit Grund. Denn Herder’s Wissen war viel reicher und reifer, und er hatte bereits einen geachteten Stand und Namen in der Literatur. Er war der Fortsetzer der großartigen kritischen Thätigkeit Lessing’s, aber der Herder’sche Kriticismus ging im Sturmschritt gegen die Schanzen und Burgen der deutschen Verzopfung an, um eine derselben nach der andern siegreich niederzuwerfen. So mächtig und wirkungsreich war Herder’s Kritik, weil sie das Feingefühl eines universalen Verständnisses und den Herzschlag der Poesie besaß, obzwar der Mann als Poet weit, weit unter seinem großen Vorgänger Lessing stand. Aber die Herder’sche Kritik verstand in Folge ihrer angedeuteten Eigenart nicht nur das Zerstören, das Niederreißen und Aufräumen, sondern sie wußte auch anzugeben, wie man schaffen und bauen müßte und könnte.

Herder ist recht eigentlich einer der wirksamsten Initiatoren jener Epoche unserer Nationalliteratur gewesen, welche man nach dem Titel von Friedrich Maximilian Klinger’s kraftgenialischem Schauspiel „Sturm und Drang“ ganz passend die Sturm- und Drangzeit benannt hat. Die Grundstimmung dieser Zeit, das heißt also der siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, war durchweg revolutionär und rebellisch. Das jüngere Geschlecht war von einer grenzenlosen, von einer verzehrenden Unruhe ergriffen, der Bruch mit allem Verlebten und Veralteten die allgemeine Losung. Das Vorgefühl ungeheurer Umwälzungen hing in der Luft, ja die Reihe derselben hatte mit den ersten demokratisch-freiheitlichen Regungen und Strebungen in den englischen Colonien von Nordamerika bereits thatsächlich angehoben; Voltaire hatte den skeptischen Witz zu einer culturhistorischen Macht potenzirt, wie die Welt sie noch nie gesehen, und hatte, ein „trefflicher Minirer“, das ganze Fundament des Kirchenglaubens unterhöhlt. Die dadurch in den Gemüthern entstandene Leere füllte dann Rousseau aus mit den blendenden Illusionen seiner glühend beredsamen Natur- und Freiheitspredigt. Wie diese frohe, aber in innerster Seele hohle Botschaft zündete, ist allbekannt. Sie zündete so, daß in Frankreich schon alle die einzelnen Feuer aufloderten, welche so bald zu dem allgemeinen Brande einer politischen Revolution zusammenflammten, während dagegen in Deutschland, wo die gegebenen Verhältnisse einen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 193. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_193.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)