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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Leute zu fesseln. Nur Uhland besaß alle Eigenschaften dazu, und auf diesen warfen wir uns auch Alle mit größter Vorliebe. Diesem Dichter, der mehr durch Sparsamkeit und Sorgfalt, als durch Fülle und Kraft seinen Platz auf dem Musenberg erobert hat, ist es überhaupt zum größten Glücke ausgeschlagen, daß er unter der Restauration und somit zwischen wenigen und schwachen Nebenbuhlern auftrat. Erst der Juli 1830 hat den Gesang bei uns wieder erweckt. Nur eine schmackhafte Frucht trug der Baum der europäischen Literatur in der Restaurationsdürre: es war der historische Roman. In ihn als in eine harmlose Schale rettete sich, was noch von politischem und geschichtlichem Leben in der geistigen Welt fortbestand. Und wie ein verschlossenes Feuer auf dem Einen Punkte, wo es durch den Ofen scheint, um so schärfer und greller die Nacht umher durchblitzt, so war es auch hinwiederum der historische Roman, der in unsern Gebildeten den Sinn für etwas Höheres als sächsische Taschenbuchnovellen erweckte und die Freude an volksthümlicher Darstellung der Weltgeschichte verbreitete, welche seit dem mit so vielem Erfolge bei uns versucht worden ist. So sollte diese Dichtungsgattung eine große Bedeutung für das Wiedererwachen des politischen Lebens gewinnen.

Der historische Roman hatte sich zwischen 1820 und 1830 ein so breites Gebiet im Buchhandel erobert, wie jetzt der sociale inne hat. Mit dem leichtesten und fruchtbarsten Talent für ihn war unstreitig Walter Scott begabt, der ihn auch zuerst in Schwung brachte; leidenschaftlicher, durch Wildniß, Todesangst und Schrecken ergreifender hat Cooper die Gattung auf den Boden des Urwalds hinübergeführt, und die Franzosen verwandelten sie später nach Victor Hugo’s Vorgang in ein Gemisch des Häßlichen mit dem Grauenvollen. Unter den Deutschen wird an Reichtum der Erfindung und Kraft der Spannung wohl Keiner Spindlern überbieten; doch haben bei uns Unzählige diese Gattung mit ganz besonderem Fleiße ausgebildet und bis zur historischen Toilettennovelle breitgetreten. Wenn man nun überhaupt vor dem achtzehnten Jahre Romane als die bequemste Leserei allem Andern vorzieht, so mußten Werke dieses Charakters uns Gymnasiasten besonders anlocken, da uns auf dem geschichtlichen Felde eine füllereiche Anschauung durch den Unterricht nicht dargeboten wurde.

Der allererste Roman, mit dem ich überhaupt Bekanntschaft machte, war denn auch ein historischer, und es schloß sich diese Bekanntschaft auf eine sonderbare Art. Mit mir befand sich in Tertia der Sohn eines Professors, mit Namen Hasse; ein guter Junge, der aber das Unglück hatte, stets auf der letzten Bank und meist sogar als Ultimus der ganzen Classe zu sitzen. Während der Lehrstunden hockte er mit träumerisch geöffnetem Munde da, und geschah eine Frage an ihn, so fiel er aus den Wolken. Es schien, daß er zu Hause niemals ein Schulbuch ansah, denn wenn er aufsagen oder seinen Cäsar übersetzen sollte, so schlich er zwar aus seiner letzten Bank herbei, stellte sich aber, als ob er nicht reden könne, vor den Lehrer und machte auch gar keinen Versuch weder zu antworten, noch auch nur sich zu entschuldigen, bis der Lehrer kopfschüttelnd ihn zurückschickte; dann wandte er sich unter dem lauten Gelächter der Classe ebenso stumm und gleichmüthig auf seinen Hochsitz zurück, wie er gekommen war.

In der That hatte er auch wohl zum Studiren keine Anlage; später hat er sich der Mechanik zugewendet und als Instrumentenmacher sein ehrliches Brod verdient. Gleichwohl blieb eine so völlige Gleichgültigkeit allen ehrgeiziger Mitschülern unerklärlich, bis endlich mir der Zufall das Räthsel löste. Wegen eines kleinen Vergehens mußte ich eines Mittags fasten bleiben; es war das erste und das letzte Mal in meinem Leben, daß dies mir widerfuhr. Da kam Hasse zu mir und sagte: „Ich will Dir doch etwas Gesellschaft leisten.“ Mich wunderte das, denn ich hatte ihm nie einen besonderen Gefallen gethan, und sentimentale Aufopferung ist bei Tertianern nicht zu Hause. Wir wanderten in dem langen Schulsaal auf und ab, und plötzlich fragte er mich: „Hast Du den Ivanhoe gelesen?“ – „Nein,“ sagte ich. – „Dann will ich ihn Dir erzählen,“ fuhr er fort, und begann nun den dickleibigen Roman in allen Einzelheilen ganz klar und reinlich vor mir auszubreiten. Ich erstaunte; hätte er halb so viel Gedächtniß auf seine Vorbereitung zum Cäsar gewendet, so konnte er ein guter Schüler sein. Nun aber war er vollständig in’s Romanlesen verkommen und hatte für nichts Wirkliches Sinn mehr. Sein Zustand war förmlich ein Rausch von Opium, der für alle anderen Genüsse stumpf macht, und wenn er im Geiste bei Cedric’s Sauhirten oder in König Ludwig des Elften Kerker zu Péronne saß, war es ihm ganz gleichgültig, ob eine ganze Classe seine Unwissenheit in griechischen Wortformen verhöhnte.

Von einer ähnlichen Romansucht habe ich in meinem Leben weder unter Handlungsreisenden noch Ladenjungfern ein gleich starkes Beispiel entdeckt. Aus seiner Hand empfing ich denn auch den Ivanhoe selbst. Ich las ihn mit vielem Vergnügen; allein obwohl ich ohne sonderliche Mühe Alles von Walter Scott hätte haben können, so setzte meine mäßige Natur sich bald freiwillige Schranken. Höchstens zwölf dieser zahllosen Romane habe ich überhaupt gelesen, denen sich dann noch Einiges von Cooper und fast Alles von Irving anschloß; denn der Letztgenannte fesselte mich durch das Belehrende seiner Schilderungen aus den verschiedensten Ländern. Dem Reize derartiger Leserei unterlag ich nur in Unterprima noch einmal, wo ich den ganzen Van der Velden durchackerte. Auch schaffte damals Einer von uns sich die bändereiche Stuttgarter Ausgabe des Wilhelm Hauff an, und diese wurde ebenfalls gierig verschlungen. Hauff hat dadurch so jung Glück gemacht, daß er auf eine beneidenswürdige Weise sich auf der Grenze zu halten verstand, die zwischen der dichterischen Tiefe und der bloßen Unterhaltungsschriftstellerei durchläuft; daher ein angehender Erzähler wohl von ihm lernen kann. Auch ihn habe ich damals von einem Ende bis zum andern durchgelesen, und zwar zuweilen gar unter dem Tische in den mathematischen Lehrstunden. Keine seiner Schriften fesselte uns indessen so wie sein historischer Roman „Lichtenstein“; wie Krähen zur Schneezeit sich einen Bissen Brod streitig machen, so rissen wir uns um die kleinen in gelben Umschlag gehefteten Bändchen, und da ich dabei meist zu kurz kam, ist mir das Sonderbare begegnet, daß ich dieses Buch mit dem letzten Bändchen begonnen und so von hinten nach vornen, wie die Juden ihr Hebräisch, gelesen habe.

Wenn demnach die mitlebenden Schriftsteller damals im Ganzen wenige auf mich eingewirkt haben, so war desto kräftiger der Einfluß der großen Männer, welche die abgelaufene Literaturperiode schmückten. Einer der Söhne des Büchelerschen Hauses besaß eine gut gewählte Bibliothek, in welcher die größten Namen nicht fehlten, und diese durfte ich benutzen. So habe ich eigentlich das Beste, was wir Deutsche besitzen, bereits auf der Schule kennen gelernt. Klopstock’s „Messias“ zu lesen, erschien mir als eine Pflicht, und so gehöre ich zu den wenigen Lebenden, die ganz damit zu Ende gekommen sind; doch gestehe ich, daß es mir Anstrengung gekostet hat. Von Wieland standen sämmtliche Werke zum Genusse mir offen da: „Oberon“, die „Abderiten“ und mehrere der kleinen Erzählungen erfreuten mich sehr, in denen, wie in „Geron dem Adligen“, eine edlere Regung den Sieg über die Sinnlichkeit davonträgt. Tiefer aber las ich mich in diesen bändereichen Schriftsteller nicht hinein, denn ich verlangte damals große Gedanken, starke und schwärmerische Gefühle, und so konnte der feine Spott, mit dem Wieland allen Enthusiasmus züchtigt, mir nicht gefallen. Auch sträubte sich meine noch überaus strenge Knabenmoral gegen die sittliche Leichtfertigkeit in manchen dieser Sachen, und als ich im „Hexameron von Rosenhain“ die widrige Geschichte von dem Frauentausch gelesen hatte, der später durch einen Umtausch wieder aufgehoben wird, da mochte ich nichts von Wieland mehr vor Augen sehen. Doch bekenne ich, daß ich seine Wasserkufe mit aufrichtigem Vergnügen genossen habe.

In solcher Gemüthsverfassung mußte natürlich Schiller am wärmsten mich berühren; seine dramatischen Werke, sowie den „Abfall der Niederlande“, las ich mit vollem Verständniß und lebhaftem Gefühl. Auch Lessing’s Theaterstücke studirte ich mit Eifer, und als ich Goethe begann, waren es nächst den lyrischen Sachen wiederum die Dramen seiner Jugend, welche zuerst an die Reihe kamen; seine Romane habe ich erst Jahre lang später gelesen. So bin ich auch auffallend frühe in Uebersetzungen an Shakespeare und selbst an Calderon herangekommen, wie ich denn Theaterstücke immer gern las. Außer diesen hohen Meistern hat auch noch Seume durch seine Lebensbeschreibung und den „Spaziergang nach Syrakus“ mich aufgeregt und gestärkt: seine Freiheitsliebe und sein Rationalismus fanden wiederhallende Saiten in meiner Seele.

Hauptsächlich diesem fleißigem Lesen der besten Muster schreibe

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_179.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)