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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Veilchen“ war geblieben. Ich mußte sicher sehr blaß geworden sein; so lag mir der Schreck, das Gefühl der Enttäuschung in den Gliedern. Was konnte da vorgefallen sein? Vergebens spähte ich nach einer Persönlichkeit, die mir Aufschluß gegeben hätte. Niemand zu entdecken! So trat ich endlich mißmuthig den Heimweg an, indem ich mir sagte: Das hast du von deiner Gefälligkeit; man soll der ersten Regung stets folgen; so hättest du dir den heutigen bitteren Abend erspart. Nun, so beruhigte ich mich, jedenfalls wird die Lucca dir morgen eine Aufklärung geben.

Allerdings kam Vormittags folgender Brief:

„Theurer Freund! Ich muß Sie nothwendig sprechen. Wenn Sie können, kommen Sie heute zwischen drei und vier Uhr oder morgen zwischen drei und vier Uhr zu mir. Das Lied muß länger werden, mit Orchester verschwand es ganz, darum mußte es gestern wegbleiben. Mit aufrichtiger Ergebenheit P. Lucca.“

Ich athmete freudig auf. Also nur zu kurz war das Lied für die Wirkung auf der Bühne. Sofort überlegte ich, wie dem abzuhelfen sei, und fand auch das geeignete Mittel: ein getragener Zwischensatz, eine breite Cantilene, bei welcher die Stimme sich in der ganzen Klangfülle zu zeigen vermochte, sollten die beiden Verse verbinden.

Als ich Nachmittags zu Pauline Lucca kam, streckte sie mir ihre beiden Hände entgegen und sagte voller Theilnahme:

„Sie armer Freund, Sie haben wohl gestern Abend keinen geringen Schreck gehabt? Aber ich konnte und wollte das Lied nicht so singen; in der Probe empfand ich, daß es vorüber ging, ehe ich warm geworden war, und da weiß ich stets gewiß, daß es dem Publicum ebenso geht. Das Lied muß auf irgend eine Weise länger werden.“

„Nun, gnädige Frau, jedenfalls danke ich Ihnen dafür, daß sie unter diesen Umständen das Lied nicht preisgaben. Das Gefühl des Sängers ist stets das richtige. Uebrigens bringe ich schon die Rettung.“

„Wie, Sie haben die Umänderung schon überlegt?“

„Gewiß! Hören Sie einmal an! Zwischen beiden Strophen kommt folgender Satz.“

Und ich sang ihr nun das vollständige Lied, allerdings den neuen Mittelsatz ohne Worte; diese hatte ich noch nicht.

„Ja,“ rief Pauline Lucca, „so ist es prächtig, so muß es von Wirkung sein; glauben Sie mir!“

Am nächsten Tage machte ich zu der Melodie des Mittelsatzes die Worte:

Und was mein Herz im Lauf der Stunden
An Liebesqual und Liebeslust
So ewig wahr und treu empfunden,
Was ich verschloß in tiefster Brust,
Wonach ich rang in heißem Sehnen,
Bald hoffnungsreich, bald todesmüd’,
Mein ganzes Sein in Glück und Thränen,
Das sprach: mein Lied –

instrumentirte den Satz und brachte nun das Ganze meiner Freundin. Diese sang das Lied, wiederholte es sogleich mit unverkennbarer Lust und erklärte sich durchaus befriedigt.

„Nun aber,“ sagte sie, „habe ich mir auch etwas überlegt. Bis jetzt sang ich meine Einlage immer am Schluß der Oper und mußte mich ärgern, wenn die Leute, um ihre Garderobe besorgt, ungeduldig wurden und sich zum Aufbruch rüsteten, noch ehe ich ausgesungen hatte. Bei dem ‚Veilchen‘ machte ich mir daraus weniger; Mozart bleibt ja doch Mozart; wenn ich aber etwas Neues singe, will ich den möglichsten Erfolg erzielen und dazu muß das Publicum ruhig zuhören können. Wenn mich nicht Alles trügt, wird Ihr Lied gewiß sehr gefallen; deshalb habe ich beschlossen, es zu Anfang des dritten Acts während der Tisch-Scene zu singen. Damit entgehe ich auch dem schon versuchten Einwande, daß das Lied dem heiteren Charakter der Frau Fluth nicht entspreche. Bei Tische singt der Ernste oft ein heiteres und der Lustige ein sentimentales Lied. Jedenfalls erreiche ich durch das Arrangement die Hauptsache: daß das Publicum dem Liede die volle Theilnahme schenkt.“

„Sie sind in Ihrer Sorge um mein Werkchen liebenswürdig wie stets. Aber, gnädige Frau, werden der Intendant und der Regisseur mit Ihrem Arrangement einverstanden sein? Wird man Ihnen nicht – und nicht ohne Grund – einwerfen: dann fehlt der Vorstellung der wirksame Schluß?“

„Nun, wenn es nicht anders ist, dann singe ich wirklich zum Schluß noch das ‚Veilchen‘; darauf soll es mir auch nicht ankommene.“ –

Die Angelegenheit mußte sich wohl so gestaltet haben, wie ich vorausgesehen. Am 29. November wurden die „Lustigen Weiber“ wiederum gegeben. Auf dem Zettel standen, wie einen Monat früher, als Einlagen die beiden Lieder.

Während der Tischscene mußte der Sänger des „Reich“ die Frau Fluth auffordern, „doch ein Liedchen zu singen“. Pauline Lucca trat nun vor und im Orchester begann das Vorspiel zu „Mein Lied“. Es bedarf keiner Versicherung, wie gespannt das gedrängt volle Haus horchte. Ein noch unbekanntes Lied und zum ersten Male von der Lucca gesungen. Im ganzen Opernhause herrschte die Stille einer Kirche. Und in einer Loge des zweiten Ranges, in eine Ecke gedrückt, saß der Autor des Liedes mit klopfendem Herzen und stockendem Athem und erwartete sein Schicksal.

Das Glück bereitete mir einen der schönsten Momente meines Lebens. Pauline Lucca sang das Lied wunderbar; in jedem Tone – nur ich konnte das herausfühlen – lag die Energie des Wollens, der Kampf um den Erfolg. Hatte sie im Mittelsatze die ganze Macht und Klangfülle ihrer Stimme entfaltet, so wurde ihr Ton im letzten Verse so unaussprechlich innig und wehmüthig, daß ich Damen in meiner Nähe die Augen trocknen sah. Bei den Schlußworten:

Denn wie ein süßer Trost durch meine Seele zieht,
Was heut’ ich sang: mein Lied!

hatte die Sängerin die aneinander gepreßten Fingerspitzen ihrer Händchen zum Munde geführt, und – wie bei einem herzlichen Scheidegruß – warf sie eine Kußhand in’s Publicum; zuletzt, gleichsam vom Gefühle überwältigt, ging sie schnell von der Scene.

Minutenlanger stürmischer Beifall folgte der Stille. Immer und immer wieder mußte Pauline Lucca erscheinen; nur mit Mühe entzog sie sich dem Verlangen nach einer Wiederholung des Liedes. In den folgenden Vorstellungen indessen gab das Publicum nicht nach, und von da hat die Künstlerin das Lied stets repetirt. Ebenso konnte sie nun zum Schlusse der Oper das Mozart’sche Lied ausfallen lassen; an Stelle desselben wurde ein schon vor Jahren gesungenes kurzes Ensemble-Stück wieder hergestellt, nach welchem der Vorhang fiel.

Daß ich meiner Sängerin den wärmsten Dank schriftlich und mündlich ausdrückte – wer wird daran zweifeln?

„Mein Lied“ wurde der Sängerin aber im Verlaufe der Zeit viel mehr, als wir jemals voraussehen konnten; die Ereignisse stempelten es – im Winter 1871 auf 1872 – zu einem Sensationsstück; Pauline Lucca sang es während der Saison fünf Male und jedes Mal dann, wenn sie auf das Publicum einen besonderen Eindruck beabsichtigte. So sang sie es im December als Abschiedslied vor dem Petersburger Gastspiel, mit welchem die Berliner (weil inmitten der Wintersaison) durchaus nicht einverstanden waren; sie sang es ebenfalls nach der Rückkehr beim ersten Auftreten im Januar des Jahres 1872. Noch bedeutungsvoller wurde das Lied am 30. Januar, wo das Publicum der Künstlerin zeigte, daß es ihr selbst eine große Uebereilung verzeihe. Pauline Lucca war nämlich am 27. Januar in einer Vorstellung der „Hochzeit des Figaro“, als sie erschien, wie gewöhnlich mit Beifall, in welchem sich jedoch starke Zischlaute bemerkbar machten (man schrieb diese wohl nicht mit Unrecht einer gewissen Clique zu), empfangen worden. Auf Susannens Frage: „Nun, Cherubin, was giebt’s?“ erwiderte der Page zum Publicum gewandt: „Ungezogenheiten giebt’s!“ und verließ die Scene, so daß der Vorhang fallen mußte. Nach einer peinlichen Pause begann die Vorstellung von Neuem; Cherubin erschien wieder, abermals mit Beifall, aber auch wiederum mit Zischen empfangen. Da trat Pauline Lucca dicht an die Lampen vor und sagte zum Publicum:

„Ich bin mir keiner Schuld bewußt und sehe nicht ein, weshalb ich unverdiente Beleidigungen hinnehmen soll.“

Darauf hatte die Vorstellung ihren gewohnten Verlauf. Wenige Tage nachher trat Pauline Lucca, wie oben erwähnt, als Frau Fluth wieder auf, und das Publicum bereitete ihr eine überaus glänzende Satisfaction. Schon bei ihrem Erscheinen mit den kostbarsten Blumenspenden empfangen, erreichte der Enthusiasmus im dritten Acte nach der Einlage „Mein Lied“ den höchstmöglichen Grad. Unter Beifall, der nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_150.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)