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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

hatten, gestärkt; ich beschloß daher, mein Glück zu versuchen und nach dem Fort zu fliehen, das ich im besten Falle in drei bis vier Stunden erreichen konnte.

Ich nahm schnellen, aber herzlichen Abschied von meinem Unglücksgefährten und trat dann meinen gefahrvollen Weg in Gottes Namen an.

Dicke Rauchwolken, die in südöstlicher Richtung aufstiegen, bekundeten, daß das Werk der Zerstörung an der Agentur seinen Anfang genommen habe; dies ließ mich aber auch hoffen, einen guten Vorsprung zu gewinnen, ehe die Wilden nach vollendeter Arbeit sich weiter zerstreuen würden. Ein Canoe, das nahe bei Wakinyatawa’s Hause im Flusse lag, brachte mich in wenigen Minuten auf das nördliche Ufer des Minnesota, und ich begann nun in nordöstlicher Richtung meine Flucht, um dadurch, wie ich hoffte, mehr aus dem Bereich der Mordbanden zu kommen.

Ich war etwa zwei Stunden mehr gelaufen als gegangen, als ich eine Partie Flüchtender gewahr wurde, die demselben Ziele wie ich zustrebten. Als ich sie erreichte, fand ich, daß es Herr Nairs, der Regierungs-Zimmermann war, der bei Beginn des Angriffs seine Frau und vier Kinder ergriffen und mit ihnen in die Prairie hinausgeflohen war. Ihm hatten sich Alexander Hunter und seine junge Frau angeschlossen; beide Männer hatten sich durch Rechtlichkeit und Zuvorkommenheit die Freundschaft vieler Indianer erworben. Wir hatten jetzt die Agentur etwa fünf Meilen hinter uns, als ein Trupp Indianer zu Pferde sichtbar wurde, der eine gefangene weiße Frau mit sich führte und rasch auf uns zukam. Schon gaben wir uns für verloren; denn an Widerstand war nicht zu denken. Zum Glück aber hatten wir uns getäuscht. Als sie Nairs und Hunter erkannten, sprachen sie dieselben freundlich an, unterhielten sich einige Zeit mit ihnen und riethen ihnen schließlich, die offene Prairie und die Straßen zu vermeiden und lieber im dichten Ufergebüsch des Flusses zu bleiben. Frau Nairs hatte sich unterdeß der gefangenen Frau genähert und erfuhr von ihr das tragische Ende des treuen alten Dolmetschers. Prescott war mit ihrem Manne und ihr selbst gleich bei den ersten Schüssen über den Fluß geflohen; schon waren sie ungefähr zehn Meilen von der Agentur entfernt und meinten, die größte Gefahr überstanden zu haben, als ein starker Trupp Wilder plötzlich auf sie lossprengt und ihnen zu halten befahl. „Wir sahen jetzt,“ erzählte sie, „daß unser Schicksal besiegelt war; doch versuchte der siebzigjährige, silberhaarige Philander noch ein Letztes. ‚Ich bin ein alter Mann,‘ sagte er, ‚ich habe jetzt fünfundvierzig Jahre unter Euch gelebt; mein Weib und meine Kinder sind bei Euch und sind von Euerm eigenen Blute; ich habe Euch nie ein Leid gethan und bin Euer treuer Freund gewesen in allen Euren Nöthen; warum wollt Ihr mich jetzt tödten?‘ Ihre Antwort war kurz: ‚Wir würden Dein Leben schonen, wenn wir könnten; aber die weißen Männer müssen sterben; wir können Dein Leben nicht schonen; wir haben Befehl, alle weißen Männer zu tödten; Du bist ein weißer Mann; wir können Dich nicht retten.‘ Als der alte Mann sah, daß Alles vergebens und seine letzte Stunde gekommen war, wandte er sich ruhig und würdevoll ab und empfing, ohne zu zucken, den Todesstreich. Einen Augenblick drauf lag mein Mann todt zu meinen Füßen; mich schleppten sie fort.“ Hier brach die arme Frau zusammen. Glücklich, wenn sie an der Seite ihres Mannes todt in der Prairie gelegen hätte; das Schicksal, das ihrer wartete, war gräßlicher als der Tod. Wir wandten uns nun dem Flusse zu, um womöglich den eigentlichen Mördern Prescott’s zu entgehen, die, nachdem sie die Reiter, denen wir begegnet, mit der Gefangenen nach ihrem Dorfe zurückgeschickt hatten, unter ihrem Häuptling neue Opfer suchen gegangen waren.

Unsere Flucht wurde durch den Umstand ziemlich verzögert, daß Hunter, der vor einigen Jahren die Zehen durch Frost verloren hatte, nur langsam gehen konnte. Als wir in die Nähe eines kleinen Dorfes kamen, begegnete uns ein Indianer, der Hunter gut kannte und ihm freundlich gesinnt war; er drang in ihn, in’s Dorf zu kommen, wo er ihm einen Wagen und Pferde verschaffen wollte, um so das Fort schneller zu erreichen. Hunter ließ sich bewegen und bat mich, ihn doch nicht zu verlassen, weil seine Füße ihm im Fortkommen hinderlich waren. Ich konnte es ihm nicht abschlagen, und so wandten wir uns dem Dorfe zu, während Nairs und seine Familie weiter eilte, und das Dorf[1] auch glücklich erreichte. Im Dorfe angekommen, fanden wir indeß, daß unser indianischer Freund sein Versprechen nicht halten konnte oder wollte. Weder Wagen noch Pferd war zu sehen; das Dorf schien überhaupt wie ausgestorben zu sein, alles war fort bis auf einige Weiber und Kinder; auch unser Rathgeber ließ sich nicht mehr blicken. Im Dorfe zu bleiben, durften wir natürlich nicht wagen; wir schlugen uns also in die hohen, dichten Gebüsche, die sich in ziemlicher Breite häufig längs dem Flusse hinziehen. Wir hatten kaum eine Meile zurückgelegt; ich war gerade ein wenig vorausgegangen, um die dichten Gebüsche etwas zu recognosciren, als ich einen Schuß fallen hörte. Ich selbst war im Buschwerk versteckt, konnte aber deutlich sehen, was hinter mir vorging. Ein Indianer mußte plötzlich von hinten her an Hunter herangeritten sein. Er hatte ihn, ohne ein Wort zu sagen, wie einen Hund niedergeschossen. Nairs lag zu den Füßen seines verzweifelnden Weibes todt hingestreckt. Das Weib selbst wurde von der blutenden Leiche ihres Gatten weggerissen, auf’s Pferd geworfen und dem entsetzlichen Schicksal der übrigen gefangenen Weiber entgegengeführt. Alles dies geschah schneller, als es erzählt werden kann.

Schaudernd sank ich in meinem Verstecke zusammen. Die furchtbare Aufregung dieses Tages, die mehrmaligen schroffen Wechsel von fast gewissem Tode und wunderbarer Rettung und endlich diese letzte gräßliche Scene hatten meine ohnehin nicht starken Nerven dergestalt erschüttert, daß ich einige Zeit halb bewußtlos dalag. Als ich wieder zu mir kam, näherte die Sonne sich schon dem westlichen Horizonte, und ich hielt es für gerathener, bis zur einbrechenden Nacht in meinem Verstecke zu bleiben. Als es dunkel wurde, erhob ich mich vorsichtig, wagte mich wieder aus den Ufergebüschen an den Prairierand hinaus und eilte nun, so rasch ich konnte, dem rettenden Fort zu. Bald sah ich auch die Gebäulichkeiten sich von der Ebene abheben, und in einer guten halben Stunde befand ich mich hinter den schützenden Palissaden und für den Augenblick wenigstens in Sicherheit bei meinen alten Freunden von der Agentur. Aber leider waren sie nicht alle da. Der Major und Herr R., sowie des Letzteren Familie begrüßten mich, den schon Verlorengeglaubten, aber unser armer Doctor fehlte.

Erst den folgenden Tag erfuhren wir sein schreckliches Schicksal aus dem Munde seines allein von der ganzen Familie übriggebliebenen Sohnes. Nachdem er mit seiner kranken Frau und seinen drei Kindern ungefähr vier Meilen von der Agentur entfernt war, wurde Frau H. so schwach, daß sie nicht weiter konnte. Mit Mühe erreichten sie ein Haus am Wege, das von seinen Bewohnern verlassen worden war. Frau H. wurde auf’s Bett gelegt, und der älteste Sohn lief zu einer nahen Quelle, um Wasser für die schmachtende Mutter zu holen, während der Vater sich in die Hausthür setzte, um über sein armes Weib und die zwei Kleinen zu wachen. Als der Knabe zur Quelle gekommen war, hörte er das Kriegsgeheul der Rothhäute in der Nähe des Hauses erschallen, und im nächsten Augenblicke verkündete ihm das Krachen der Flinten das Schicksal seiner Lieben. Entschlossen machte er sich auf den Weg nach dem Fort, begegnete unterwegs dem Commando des Capitain Marsh, der am Nachmittag des verhängnißvollen Tages vom Fort aus nach der Agentur geschickt wurde, und kehrte mit ihnen zurück. Als sie in die Nähe des Hauses kamen, fanden sie nur noch rauchende Trümmer, vor welchen der Doctor erschossen und halb verbrannt lag. Bei Durchsuchung der Ruinen fand man in denselben die verkohlten Ueberreste der Mutter und der zwei kleinen Kinder. Das kleinste Mädchen hielt noch in seinen verbrannten Händchen den Rest einer Porcellanpuppe, von der die Aermste selbst im Tode nicht hatte lassen wollen. Allen Anzeichen nach hatten die Ungeheuer Mutter und Kinder lebendig mit dem Hause verbrannt. Die Leichen wurden in’s Fort zurückgeschafft und dort beerdigt.

Als ich am Abend des 19. August wieder beim Major saß, hatten wir wenig Worte; die furchtbaren Scenen der letzten sechsunddreißig Stunden lagen wie Blei auf unseren Gemüthern.

„Unser armer Doctor hatte schließlich doch Recht,“ sagte der Major nach einer langen, düstern Pause. „Der Indianer ändert seine Natur so wenig wie der Tiger. Hat er einmal Blut gesehen, dann zerreißt er Freund und Feind. Das hat unser armer H. erfahren müssen; denn trotz aller seiner Theorien haben doch seine Mörder keinen bessern Freund in der Noth gehabt, und


  1. [170] Berichtigung. In dem Artikel „Erinnerungen aus dem Indianeraufstand in Minnesota“ in Nr. 7 der Gartenlaube ist Seite 118, erste Spalte, letzte Zeile unten statt „und das Fort auch glücklich erreichte“ zu lesen: „und das Dorf auch glücklich erreichte“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_118.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)