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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Nun ja! – Der Mann ist ja selbst dabei gewesen; er hat Alles selbst mit angesehen und mit angehört; er spricht im vollen Ernst, und er spricht die volle Wahrheit – und doch! – was er berichtet, es hat sich niemals ereignet, und der Naturforscher hat vollkommen Recht, sein Zeugniß in den Wind zu schlagen und ihm nicht zu glauben, trotzdem er an seiner Wahrhaftigkeit nicht im Mindesten zweifelt. Dies klingt paradox genug, aber der unlösbar scheinende Widerspruch steigert sich noch, löst sich aber auch sofort durch die beschwichtigende Bemerkung, daß der fast schon beleidigte Augen- und Ohrenzeuge ja auch wirklich vollkommen Recht hat – insofern er nämlich wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen eine Thatsache berichtete, aber freilich nur eine „ungenau beobachtete Thatsache“!

Er hat in seiner naiven Urtheilslosigkeit, in der er sich gegenüber der Beobachtung und Ermittelung des Zusammenhanges von Naturvorgängen befindet, ein bloßes Nach- oder Miteinander, d. h. eine einfache zeitliche Sucession oder Coïncidenz von Erscheinungen, für ein Aus- oder Durcheinander, d. h. für einen ursächlichen Zusammenhang derselben genommen. Er hat zwar factisch eine Thatsache berichtet – nämlich zeitliche Aufeinanderfolge oder Coïncidenz von gewissen wirklichen Dingen und Geschehnissen; – indem er aber dieses einfache zeitliche Verhältniß ohne Weiteres, d. h. ohne genaue und vollständige Beobachtung und Prüfung – wozu ihm entweder überhaupt, oder gerade in diesem Falle sowohl der Sinn, als die specielle Schulung fehlt – für einen ursächlichen Zusammenhang nahm, berichtete er Etwas, was keine Thatsache mehr ist, er berichtete also ein thatsächliches Ereigniß, welches sich so, wie er meint, in Wirklichkeit niemals zugetragen hat.

Ein Ereigniß dieser Art kann man kaum anders und besser benennen, als eine „unvollständig geprüfte“ oder „ungenau beobachtete Thatsache“, und ich glaube, man ist nicht nur logisch berechtigt, sondern auch dringend veranlaßt, unter den Thatsachen der Naturbeobachtung eine neue und besondere Kategorie, die Kategorie der „ungenau beobachteten Thatsachen“ aufzustellen und zu unterscheiden, denn die Thatsachen dieser Kategorie sind es, welche eine so ungeheure Rolle in der Geschichte der menschlichen Geistesentwickelung spielen. Ohne den Begriff dieser Kategorie von vermeintlichen Thatsachen wären wir niemals im Stande, gewisse dunkle Erscheinungen und Richtungen des öffentlichen Geistes und die Hartnäckigkeit, mit welcher dieselben, kaum im Verschwinden, immer wieder auftauchen und sich erhalten, zu verstehen und zu erklären.

Ich habe den Nachweis der unglaublichen Urtheilslosigkeit, in welcher sich der vom Geiste der exacten Naturforschung nicht völlig durchdrungene, wenn auch sonst hoch gebildete Mensch den Naturvorgängen gegenüber befindet, werthvoll genannt – und die schon an und für sich interessanten physiologischen Erscheinungen, die uns hier beschäftigen sollen, deshalb und insofern als sie Gelegenheit bieten, jenen Nachweis, an den sich gewisse culturhistorische Betrachtungen wie von selbst anknüpfen, zu liefern, in doppelter Hinsicht für interessant erklärt; – weil ich der Ueberzeugung bin, daß man es nicht oft und eindringlich genug sagen kann, wie erst der Geist der strengen Naturforschung, ja die Gewohnheit, in echtem Sinne Naturbeobachtung zu treiben, eine Schärfe der Kritik, eine Strenge des Beweises und der Prüfung fordern lehrt, ohne welche die Herrschaft und das Umsichgreifen der beiden culturfeindlichen Mächte, der Leichtgläubigkeit und des Aberglaubens, weder zu brechen noch zu hemmen sind! –

Wir Kinder des neunzehnten Jahrhunderts sind nicht wenig stolz auf unsere Civilisation, Cultur und Aufklärung. Und in der That läßt sich bei einer Vergleichung des im Mittelalter herrschenden Geistes mit dem, der in jüngerer Vergangenheit und Gegenwart herrschte und herrscht, ein mächtiger Fortschritt auf der Bahn der Aufklärung nicht verkennen.

Indessen wir haben keinen Grund, die Höhe der Entwickelung, auf der wir heute stehen, zu überschätzen, so lange noch bis in die jüngste Zeit herab und in der Gegenwart selbst auf den verschiedensten Gebieten gewisse Geistesrichtungen und Erscheinungen zu Tage treten und sich geltend machen können, welche geradezu undenkbar und unmöglich wären, wenn die Resultate und insbesondere die Methode der Naturforschung, oder auch nur die Achtung vor beiden, der lebenden Generation bereits so zu sagen in Fleisch und Blut übergegangen wären.

Es würde mich viel zu weit von meinem Gegenstande abführen, wollte ich auch nur eine ganz flüchtige Umschau über alle diese Richtungen und Erscheinungen halten, welche als dunkle Flecken und schwarze Punkte auch noch die jüngste Phase unseres relativ mächtig aufgeklärten Culturlebens verunzieren. Für unsern Zweck mag es genügen, hier zunächst nur beiläufig auf die Manie des Tischrückens, des Tischschreibens, des Geisterklopfens, an den ganzen wunderlichen Spuk des Spiritismus, des thierischen Magnetismus, der Hellseherei und der verwandten Gebiete zu erinnern. Ich werde morgen, am Schlusse des zweiten Vortrages, so zu sagen als Nutzanwendung der vorgeführten Beobachtungen und Versuche diesen Gegenständen eine nähere allgemeine Betrachtung widmen.

Mit dem bisher Gesagten wollte ich überhaupt nur eine Einleitung zu meinen Mittheilungen über die merkwürdigen, an’s Zauberhafte grenzenden physiologischen Erscheinungen gegeben haben, welche – obschon zum Theil längst bekannt – noch immer keine eingehendere wissenschaftliche Untersuchung erfahren haben und deshalb auch noch immer nicht unter die eigentlich „zünftigen“ nervenphysiologischen Thatsachen aufgenommen sind. –

Doch gestatten Sie, meine hochverehrten Anwesenden! daß ich Ihnen erst noch in Kürze erzähle, durch welchen Zufall ich dazu gekommen bin, diesen Erscheinungen meine Aufmerksamkeit zuzuwenden und dieselben zum Gegenstande einer eingehenderen und noch lange nicht abgeschlossenen wissenschaftlichen Untersuchung zu machen! – –

Es war im Herbst des vorigen Jahres, als ich während eines Landaufenthaltes in Böhmen die Bekanntschaft eines Herrn machte, der mir im Laufe eines unserer, meist naturwissenschaftliche Gegenstände betreffenden Gespräche die frappante Notiz mittheilte, daß er es nicht nur oft mit angesehen, sondern auch selbst mit Erfolg versucht habe, Krebse zu – „magnetisiren“! Um nähere Auskunft gebeten, was er damit meine, sagte mir jener Herr, daß die Sache ungemein einfach sei.

Man halte den Krebs mit der einen Hand fest und mit der anderen führe man „magnetische“ Striche vom Schwanzende gegen das Kopfende des Thieres, indem man beim Streichen in der angegebenen Richtung die Fingerspitzen dem Rücken des Thieres, jede Berührung sorgfältig vermeidend, bis auf etwa einen Viertelzoll nähere, beim Zurückführen der Hand aber einen weiten Bogen beschreibe. Unter dieser Manipulation werde der Krebs nach kurzer Zeit ruhig und lasse sich nun senkrecht auf den Kopf stellen, wobei ihm sein Nasenstachel und die beiden einwärts geschlagenen Scheeren als Unterstützungspunkte dienten. In dieser absonderlichen und unnatürlichen Stellung verbleibe das Thier nun regungslos, bis man es durch entgegengesetzte, vom Kopf gegen das Schwanzende gerichtete Striche „entmagnetisire“, worauf es sich wieder zu bewegen anfange, das Gleichgewicht zu verlieren suche, endlich umschlage und davonkrieche.

Da mir mein Berichterstatter als ein intelligenter Mann und völlig glaubwürdiger, ehrenhafter Charakter bekannt geworden war, so durfte ich wohl keinen Zweifel an der Wahrhaftigkeit seines einfachen und klaren – wenn auch absonderlichen Berichtes hegen, und einen solchen am wenigsten in einer schroffen Weise aussprechen; allein mein Naturforschergewissen verpflichtete mich, ihm sofort zu sagen, daß ich zwar seiner Mittheilung den vollsten Glauben schenkte, daß ich aber der Meinung sei, er habe mir da doch nur eine „ungenau beobachtete Thatsache“ mitgetheilt.

Zwar, daß die Krebse sich hätten auf den Kopf stellen lassen, und regungslos in dieser Stellung geblieben wären, nachdem sie gestrichen worden waren, sei gewiß eine wirkliche Thatsache, da er mit seinem Zeugniß dafür einstehe; daß aber die sogenannten „magnetischen“ Striche mit den Fingerspitzen und ein durch dieselben wirksam werdender „Magnetismus“ die thatsächliche Ursache des auffallenden Verhaltens der Krebse gewesen seien, das könnte für mich, trotz der Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses und ohne ihm irgend nahetreten zu wollen, noch lange keine wirkliche Thatsache sein, die ich auf Treu und Glauben annehmen oder überhaupt nur einer ernsten Beobachtung werth halten müßte, weil sie ja gar nicht Gegenstand seiner Wahrnehmung und Prüfung gewesen sei.

Uebrigens werde er mich sehr verbinden, wenn er mir, seinem freundlichen Anerbieten entsprechend, den interessanten Versuch zeigen wolle, nicht etwa, weil ich ein Mißtrauen in seine thatsächlichen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 112. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_112.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)