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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


populär geworden, die Sage von dem Meister und dem Lehrbuben? Der Meister war davon gegangen und hatte den Burschen bei der Feuerwacht allein gelassen:

„Doch hüte dich und rühre
Den Hahn mir nimmer an,
Sonst wär’ es um dein Leben,
Fürwitziger, gethan!“

Da tritt die Versuchung mächtig an den Knaben heran:

Der Bube steht am Kessel,
Schaut in die Gluth hinein:
Das wogt und wallt und wirbelt
Und will entfesselt sein,

Und zischt ihm in die Ohren,
Und zuckt ihm durch den Sinn,
Und zieht an allen Fingern
Ihn nach dem Hahne hin.

Er fühlt ihn in den Händen,
Er hat ihn umgedreht –
Da wird ihm angst und bange,
Er weiß nicht, was er thät,

Und läuft hinaus zum Meister,
Die Schuld ihm zu gesteh’n,
Will seine Knie’ umfassen
Und ihn um Gnade fleh’n.

Doch wie der nur vernommen
Des Knaben erstes Wort,
Da reißt die kluge Rechte
Der jähe Zorn ihm fort.

Er stößt sein scharfes Messer
Dem Knaben in die Brust;
Dann stürzt er nach dem Kessel,
Sein selber nicht bewußt.

Vielleicht, daß er noch retten,
Den Strom noch hemmen kann: –
Doch sieh’, der Guß ist fertig,
Es fehlt kein Tropfen d’ran.

Da eilt er abzuräumen
Und sieht und will’s nicht seh’n,
Ganz ohne Fleck und Makel
Die Glocke vor sich steh’n.

Der Knabe liegt am Boden,
Er schaut sein Werk nicht mehr:
Ach, Meister, wilder Meister.
Du stießest gar zu sehr.

Er stellt sich dem Gerichte,
Er klagt sich selber an;
Es thut den Richtern wehe
Wohl um den braven Mann.

Wie er zur Richtstätte geführt wird – „denn keiner kann ihn retten, und Blut will wieder Blut – erbittet er statt des Gnadenschmauses das Läuten der Glocke auf seinem letzten Gange.

Der Meister hört sie klingen
So voll, so hell, so rein;
Die Augen gehn ihm über,
Es muß vor Freude sein. –

Ich habe schon viele Thürme bestiegen, die Münster von Ulm, Regensburg, Freiburg, Straßburg, Metz, Mailand und verschiedene andere, aber in keinem fand ich eine derartig dunkle, defecte Treppe wie im Magdalenenthurme zu Breslau. Eine Sünderstiege zur Sünderglocke!

Jeder der beiden Thürme enthält fünf Stockwerke bis zum Aufsatz des Helmes. Droben auf dem Kirchenboden standen und lagen alte, aus Holz geschnittene Crucifixe und Heilige, die sich über ihre dunkle, spinnenbelebte Umgebung wundern mögen, nachdem sie Jahrhunderte lang unter dampfendem Weihrauch Andächtige knieend vor sich gesehen. Denn wahrscheinlich stammen dieselben noch aus jener Zeit, als katholischer Gottesdienst in der Magdalenenkirche abgehalten wurde. Wir wollen bei dieser Gelegenheit ein gutes Wort für die frommen Heiligen einlegen und bitten den evangelischen Kirchenvorstand der Magdalenenparachie, jene Holzsculpturen dem Breslauer Museum schlesischer Alterthümer zu überweisen, dessen Sammlungen ohnedies klein sind. Dort dürften sie besser aufgehoben und eher gesehen werden, als in dem Dämmerlicht des Kirchenbodens.

Vom fünften Stockwerke aus führt eine Brücke in freier Luft von einem Thurm zum anderen. Auch sie ist sehr beschädigt und morsch. Der Wind jagte in jener Höhe so wild an uns vorüber, daß wir uns ängstlich am Geländer hielten, wie weiland Heinrich Heine am Ilsensteine im Harz, und nur einen Blick in die Tiefe der Stadt hinabwarfen.

Der Thurmwächter stieß die Thür zum Glockenhause des südlichen Thurmes auf. Heulend pfiff der Wind durch die Schalllöcher, und vom Zuge erschüttert sang gleich einer Aeolsharfe in langen, klagenden Tönen die große Sünderglocke, und mit ihr sangen die anderen kleineren Glocken.

Ich begann die Sünderglocke zu zeichnen. Der Thurmwächter verließ mich. Da saß ich denn, mutterseelenallein in schwindelnder Höhe vor der berühmten Glocke. Gewaltiges Balkenwerk hält dieselbe in der Krone, deren Rippen künstlich verziert sind, fest. Ein riesiger Reserveklöppel liegt unter ihr, wohl aus Vorsicht für den Fall, daß einmal der Klöppel springen könne.

Die Sünderglocke ist eine der ältesten Glocken Breslau’s. Nach Menzel’s topographischer Chronik von Breslau, deren freundliche Mittheilung ich der dortigen Stadtbibliothek verdanke, wurde jene im Jahre 1386 von Michael Wilden im Ohlau’schen Zwinger gegossen. Sie wiegt hundertdreizehn Centner und trägt folgende Inschrift:

Maria ist der Name mein, Selic musen alle die seyn, die meinen lout horen oder vornemen spate ader fru die sprechen Gote dem Hern ezu amen. O Rex Gloriae veni cum pace amen. Anno Domini MCCCLXXXVI fusa est haec campana in die Alexii.

Die Schrift auf der Glocke ist erhaben, die Buchstaben in gothischer Mönchsschrift sind außerordentlich correct und künstlerisch ausgeführt. Unter der Sentenz befindet sich ein ebenfalls relief gearbeitetes keines Crucifix.

Die Chronik erzählt keine Sylbe von jenem Vorfall, den Wilh. Müller in seiner Ballade behandelte, so genau jene sonst berichtet. So viel geht aber aus ihr klar hervor, daß jener Glockengießer der bekannten Sünderglocke der oben genannte Michael Wilden und das Jahr ihres Entstehens, wie die Inschrift sagt, 1386 ist.

Vielleicht, daß eine Sage, welche sich an die große Glocke der Elisabethkirche knüpft und die in der Chronik erwähnt wird, im Laufe der Jahrhunderte mit jener der Magdalenenglocke zusammenfloß. Nach jener Sage soll der Hauptbeförderer des Glockengusses für die Elisabethkirche, Sebald Sauermann, der Erste gewesen sein, dem die große Glocke im Jahre 1507 zu Grabe läutete.

Bis zum Jahre 1526 wurden die beiden Glocken zu Elisabeth und Magdalene bei Ausführung eines Delinquenten wechselweise geläutet; alsdann aber beschloß der Rath, beim letzten Gange eines armen Sünders nur die große Glocke zu läuten. Der erste Verbrecher, dem man zur Hinrichtung läutete, war ein Schreiber, Johann Beer aus Glogau.

Aus den Schalllöchern des Glockenhauses genießt man eine entzückende Aussicht auf die Stadt und die weiteren Umgebungen bis zum Riesengebirge hinaus, der Wald- und Bergheimath Rübezahl’s. Vor uns in unmittelbarer Nähe erhebt sich aus der Tiefe die sechshundertjährige Elisabethkirche, welche ebenfalls protestantisch ist. Das ganze weitverzweigte Straßennetz von Breslau liegt vor uns. Aus der Thurmhöhe ist der alterthümliche Eindruck, den Breslau gewährt, ein ganz überraschender, das Panorama ungleich großartiger, als von der gefeierten Liebichshöhe in Breslau.

Ich kletterte noch auf schmaler Holzstiege in die Laterne des Thurmes zum Thurmwächter empor und hatte bis dahin im Ganzen zweihundertundsiebenzig Stufen erstiegen. Der gute Mann saß trotz der Augusthitze im dicken Schafspelze und – schnarchte. Als ich stärker auftrat, fuhr er plötzlich empor und starrte mich an. Er sah so verblüfft drein, daß ich die Geisterbeschwörungsformel „Alle guten Geister loben Gott den Herrn!“ hersagte, und da kam er denn lachend zu sich.

Auch ein Stillleben! dachte ich, aber anders als das von Gabriel Max gemalte. Ein ganz enges Stübchen, mit alten werthlosen Kupferstichen und Bildern ausstaffirt, dann einige Fragmente alter Vasen, alte Schusterleisten und Modelle zierlicher Damenstiefelchen aus der Zopfzeit mit hohen spitzen Absätzen, und oben an der Wand des Stübchens die Feuerlaterne und große Feuerfahnen.

Ich fragte den Thurmwächter, ob er oft Besuch von Fremden bekäme.

„Ach nein,“ antwortete er, „bis zur Sünderglocke steigen wohl Manche herauf, allein bis zu mir kommen nur Wenige, trotzdem die Aussicht von der Laterne des Thurmes doch noch um Vieles schöner ist als von dem Glockenhause. Wenn ich nur eine Abbildung oder eine Beschreibung der Armensünderglocke hätte, dann würden die Fremden wohl häufiger zu mir heraufkommen.“

Er war hocherfreut, als ich ihm versprach, Beides zu schicken, und so wird wohl diese Nummer der Gartenlaube hoch oben im Wächterstübchen des Magdalenenthurmes dem alten, kleinen Inventarium beigefügt werden, zum Nutz und Frommen des Thürmers.

R. A.



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